06 July 2014

Verfassungsreform in Italien: Der Trend geht zur kompetenzarmen Zweitkammer

Wozu eine zweite Kammer? Gibt es zwei Kammern in einer Legislative, so ist die zweite in den Augen vieler undemokratisch oder bestenfalls überflüssig. Überflüssig, wenn sie in gleicher Weise demokratisch legitimiert ist, wie die erste, in ihrer Besetzung mit dieser übereinstimmt und vor dem Hintergrund gleicher Interessenvertretung die Entscheidungen der ersten Kammer bloß wiederholte. Vor allem aber auch überflüssig, weil: wenn es schon eine rechtmäßige Repräsentanz des Volkes gibt – darf es dann überhaupt eine zweite, geben, die bei der Gesetzgebung der ersten einschreitet? Ist die zweite Kammer dagegen etwas anderes als eine gewählte Repräsentanz des Volkes, dann schafft sie notwendigerweise ein Demokratieproblem.

Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass in vielen Staaten die zweite Kammer zurzeit auf dem Prüfstand steht. Irland hätte seinen Senat beinahe abgeschafft. Belgien hat seinen Senat verkleinert. Das aktuellste Beispiel ist aber die geplante Senatsreform in Italien.

Der überflüssige, alte italienische Senat

Was immer man von der bestehenden zweiten Kammer in Italien hält – undemokratisch ist sie jedenfalls nicht. Der Senat, ist ebenso wie die erste Kammer, die Abgeordnetenkammer, direkt gewählt – wenn auch ohne porcellum, also ,Schweinerei‘, wie die Italiener ihr mittlerweile für verfassungswidrig erklärtes und reformiertes Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus nannten, das proportionale Verzerrungen vorsah, die dem Wahlsieger die absolute Mehrheit sicherten. Einmal gewählt, verfügt der italienische Senat in seiner jetzigen Ausgestaltung über beinahe identische Rechte wie die Abgeordnetenkammer. Alle Gesetze, Verfassungsänderungen und Haushaltspläne, die von der Abgeordnetenkammer beschlossen werden, müssen ebenso vom Senat beschlossen werden, der sogar an der Regierungsbildung gleichberechtigt beteiligt ist.

Diese staatsorganisatorische Blaupause der ersten Kammer macht die Kritik plausibel, eine zweite Kammer sei überflüssig. Zwar sei der Senat die „Kammer der Abkühlung“ – raffreddamento -, das mag aber eher am erheblichen Aufwand liegen, den die Beteiligung des Senats der Gesetzgebung beschert. Der Senat hat in den 66 Jahren, in denen die aktuelle italienische Verfassung gilt, die Gesetzgebung ungeheuer verlangsamt und die Diskussion um eine Reform des Senates zu einem politischen Dauerbrenner gemacht. Der Senat bietet allerdings keine föderalere oder regionalere Vertretung als die Abgeordnetenkammer, so dass er keine weiteren Interessenspunkte der italienischen Bevölkerung in die Gesetzgebung einbringt. Auch dass beide Kammern gleichzeitig gewählt werden, verpasst die Chance, einen Dialog zeitlich verschiedener Abbilder des Volkswillens zu schaffen.

Im Juni konnten sich nun die regierenden Parteien Italiens auf eine vergleichsweise radikale Reform des Senates einigen, die den perfekten Bikameralismus in Italien – ein Unikum, nicht nur in Europa, sondern weltweit – abschaffen wird.

Ein Bundesrat für Italien

Die geplante Reform sieht vor, den italienischen Senat dem Vorbild des deutschen Bundesrats anzugleichen. Der Bundesrat gilt, so zumindest das Bundesverfassungsgericht, nicht als echte zweite Kammer der Gesetzgebung, da seine Zustimmung nicht regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise notwendig ist. Seine Daseinsberechtigung leitet der deutsche Bundesrat dabei aus dem Anspruch ab, die Interessen der Länder zu vertreten. Er setzt sich nicht aus gewählten Mitgliedern, sondern aus Vertretern der Regierungen der Länder zusammen. Dabei gilt eine degressiv proportionale Repräsentation: NRW mit 18 Millionen Einwohnern entsendet die maximale Anzahl, also sechs Vertreter, gleichzeitig entsendet kein Land weniger als drei Vertreter, so dass Bremen, mit nur 600.000 Einwohnern mit 30 mal mehr Vertretern pro Einwohner repräsentiert ist. Auch gegenüber dem Bundesrat gibt es nicht wenig Kritik, insbesondere die, dass den Vertretern der Länder im Bundesrat weniger die Interessen ihres Landes als die Interessen ihrer Partei am Herzen liegen.

Eine identische Ausgestaltung ist nicht für den italienischen Senat vorgesehen. Er soll sich auf eine dem Bundesrat ähnliche Größe verkleinern, nämlich von 350 auf 100 Senatoren, von denen 95 die Regionen repräsentieren. Zusätzlich soll es bis zu fünf weitere Senatoren geben, die auf Grund ihrer besonderen sozialen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Verdienste einmalig für fünf Jahre vom Präsidenten ernannt werden. Ähnliche „Sondersenatoren“, zu denen kraft Gesetzes auch ehemalige Staatschefs zählten, waren bereits zuvor eine Besonderheit des italienischen Systems, wurden bisher aber auf Lebenszeit ernannt, so dass das aktuell nicht wenige hoch betagte Senatoren Teil der Legislative Italiens sind. Dieser Mangel an Legitimation durch Wahl wird durch die Amtszeitbegrenzung zumindest beschränkt.

Nach den Reformplänen sollen die 95 Senatoren nicht mehr direkt, sondern mittelbar gewählt werden, indem je mindestens drei Senatoren von jedem Regionalrat bzw. Rat einer autonomen Provinz entsprechend der regionalen Wahlzyklen ernannt werden. Die Regionen bzw. autonomen Provinzen sollen diese Senatoren auch bezahlen, denn auch die finanzielle Entlastung des Parlaments ist ein Anliegen der Reform – im Übrigen war das Argument der Staatsfinanzen auch in Irland das Argument mit dem die Gegner des Senates in der Volksabstimmung zu überzeugen suchten.

Am einschneidendsten an den italienischen Reformen ist jedoch nicht die geänderte Zusammensetzung, sondern der reduzierten Kompetenzen des Senates: Die gleichberechtigte Beteiligung an der Gesetzgebung wird abgeschafft; dem Senat verbleibt nur eine Art Nachprüfungsantrag, der von einem Drittel der Senatoren binnen zehn Tagen erhoben werden muss, nachdem die Abgeordnetenkammer entschieden hat. Erhalten bleibt lediglich die Beteiligung an Verfassungsänderungen sowie bei der Ratifizierung europäischer primär-rechlicher Verträge.

Die neue zweite Kammer der schnellen, kostenarmen Abkühlung

Eine zweite Kammer kann auch Vorteile für eine Legislative mit sich bringen, die sich Italien in der geplanten Senatsreform anscheinend nicht entgehen lassen möchte: Eine zweite Kammer kann als „chambre de réflexion“ in Frankreich oder als „chamber of sober second thought“ in Kanada die Qualität der Gesetzgebung verbessern. Gibt es kein solches Korrektiv, landet Gesetzgebung, die zur Verfassung bzw. zum Volkswille in zu großer Dissonanz steht, oft vor Verfassungsgerichten oder wird in Referenden korrigiert – oder eben gar nicht. Zwar mag der Senat als „Kammer der Abkühlung“ diese Funktion auch vor der Reform schon erfüllt haben – er war aber zugleich auch eine Kammer der erheblichen Verzögerung. Nach der Reform bleibt dem italienischen Senat die Möglichkeit der Einwendungen, so dass ein Korrektiv, wenn auch schwächer, besteht.

Eine zweite Kammer vermag, wenn als föderale oder regionale Vertretung gewählt, die Interessen der Länder und Regionen gegenüber den rein parteipolitischen Interessen, wie sie in der ersten Kammer vertreten sind, zu verteidigen und einen derartigen „second thought“ einzubringen. Bisher war die zweite Kammer in Italien eine zweite Vertretung der italienischen Bevölkerung insgesamt. Durch die Reform wird sie zur Vertretung der italienischen Regionen und bringt so die Interessen der Bevölkerung der Regionen und autonomen Provinzen auf Bundesebene neu ein.

Ist der neue Senat undemokratischer?

Der Linke Flügel der Abgeordnetenkammer protestiert vehement gegen die Reformen, vor allem gegen den Wegfall der direkten Wahl des Senates, der angeblich die Demokratie in Italien gefährden würde. Nun ist das in der Hälfte der EU-Staaten, die Zwei-Kammer-Systeme kennen, freilich auch nicht anders, ohne dass diesen Staaten jemand ihre demokratische Qualität absprechen würde. Zuletzt hat Belgien die Direktwahl abgeschafft. Allerdings birgt die Regionalität der Wahl aber eine neue Legitimationsebene, nämlich den Anspruch, die Regionen zu vertreten. Dadurch entsteht eine wesentlich plausiblere Dynamik, als sie zuvor bei der doppelten Vertretung Italiens in seiner Gesamtheit in zwei Kammern bestand, der den Senat zu einer überflüssigen Kammer machte.

Wirklich undemokratisch ist in Europa hingen nur noch das britische Oberhaus, das House of Lords, das noch nach Erbfolge oder Nominierung durch die Queen besetzt wird. Grund für diesen Anachronismus ist die ungebrochene historische Kontinuität. Bereits Ende des 14. Jahrhundert entstanden die zwei Kammern als Vertretung des Adels und Klerus im Oberhaus und des gemeinen Volks im Unterhaus. Bis heute besteht diese grundlegende Machtaufteilung. Durch die Parliament Act 1911 hat das Unterhaus seit nunmehr 100 Jahren die Möglichkeit in einem einjährigen Prozess das Oberhaus einseitig zu überstimmen. Wenn auch das britische Unterhaus diesen Weg erst für sieben Gesetze gegangen ist, so ist doch seit dem Parliament Act klar, dass das Oberhaus die Gesetze der gewählten Volksvertretung in Großbritannien allenfalls noch aufhalten kann, nicht jedoch überstimmen. Der geringeren Bedeutung des House of Lords wurde zuletzt 1999 sein Aufbau angepasst indem statt der 750 Erblords nun 90 von ihnen gewählte Repräsentanten vertreten sind.

Der Trend zum imperfekten Bikameralismus

Einer starken ersten Kammer eine vergleichsweise schwache zweite dazuzugesellen, ist auch das Machtverhältnis, dem sich das britische Parlament angenähert hat, das Belgien in seiner Reform aufgreift und das in einer Vielzahl der europäischen Staaten bereits besteht. Die Reform in Italien schafft nun auch den perfekten Bikameralismus Italiens ab und folgt damit dem Trend zur schwachen Zweitkammer.

Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” im Sommersemester 2014 an der Humboldt-Universität Berlin entstanden.


One Comment

  1. Klaus Fri 22 Jan 2016 at 08:41 - Reply

    Very intresting

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