Verführerische Suggestionen, bedrohliche Aussichten – Zur Schweizer „Selbstbestimmungsinitiative“
In der Schweiz steht im November Grundsätzliches an. Nach jahrelanger Vorbereitung – Absichtserklärungen, Entwürfe, Unterschriftensammlung, Behördenberichte und parlamentarische Debatten – wird das Volk über die sog. Selbstbestimmungsinitiative zu befinden haben, die einen Vorrang des Landesrechts vor dem Völkerrecht festschreiben soll. Für diejenigen, die sich besser für polemische Ansinnen gewinnen lassen, steht als zweiter offizieller Titel „Schweizer Recht statt fremde Richter“ bereit – eine Zuspitzung, die mit dem Motiv vom fremden Richter zugleich einen populären Topos der schweizerischen Ursprungserzählung aufruft. Das Anliegen klingt klar, einfach und bestechend: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung und also Landesrecht vor Völkerrecht.
Die klare Hierarchie ist ein falsches Versprechen
Die Wirklichkeit ist natürlich ungleich komplexer und bedenklicher. Dies nicht nur deshalb, weil die Gleichung der beiden Oppositionen Selbst/Fremd und Landes-/Völkerrecht offenkundig arg simplifiziert. Das zunehmend differenzierte Zusammenspiel nationaler und internationaler Normen lässt sich nicht angemessen durch eine einfache Vorrangregel ordnen und würde auch bei Erlass einer solchen noch durch andere Gesichtspunkte bestimmt. Schon der Wortlaut der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen lässt denn auch keinen Zweifel, dass die Initiative das Versprechen klarer Hierarchie nicht einlösen wird. Ausdrücklich sollen Verträge, die dem Referendum unterstanden haben, der Bundesverfassung bei der Rechtsanwendung weiterhin vorgehen (Art. 190 E-BV). Unterstellung unter das Referendum bedeutet, dass eine Volksabstimmung entweder obligatorisch ist oder im Falle einer Sammlung von 50’000 Unterschriften erfolgt (fakultatives Referendum). Dies ist heute bei allen Verträgen mit wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen zwingend – analog zum Gesetzesvorbehalt (Art. 141 i.V.m. Art. 164 BV).
Grund- und Menschenrechtsschutz im Visier
Man könnte denken, dass die Gefährlichkeit der Initiative damit entschärft ist. Bietet der Vorrang der Bundesverfassung vor „unwichtigem“ untergeordnetem Völkerrecht nicht einen überzeugenden, rechtsvergleichend sogar moderaten Kompromiss? Hier verrät sich aber erst die eigentliche Radikalität der Initiative. Bis vor 15 Jahren war die Referendumsmöglichkeit bei völkerrechtlichen Verträgen wesentlich seltener vorgesehen. In dieser Zeit wurden natürlich bereits viele internationale Verträge ratifiziert, darunter die Europäische Menschenrechtskonvention. Der EMRK kommt in der Schweiz besondere Bedeutung zu, weil gegenüber Bundesgesetzen und Völkerrecht keine Verfassungsgerichtsbarkeit besteht. Während viele andere europäische Länder im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts einen verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz einführten, erfolgte diese Entwicklung in der Schweiz gestützt auf die EMRK. Die Initiative möchte diesen Schutz abschaffen, zugleich aber vermeiden, dass die Verfassungsgrundrechte die Leerstelle füllen. Ginge diese Rechnung auf, würde also nicht „nur“ der europäische, sondern der gesamte Grund- und Menschenrechtsschutz gegen die Dispositionen politischer Mehrheiten in der Schweiz getroffen. Deshalb der erstaunliche Sachverhalt eines Anwendungsvorrangs von Bundesgesetzen und dem Referendums unterstellten Völkerrechtsverträgen in einer Initiative, die die Suprematie der Staatsverfassung wiederherzustellen verspricht.
Die Rechtsfolgen könnten in engen Grenzen bleiben
Die Initiative bedeutet also eine umfassende Infragestellung des Grundrechtsschutzes in der Schweiz. Allerdings werden die Menschenrechte in der Schweiz auch durch die UN-Pakte verbürgt und diese waren dem Referendum unterstellt. Sie wären also fraglos weiter vorrangig anzuwenden. Dem Referendum unterstand ferner das 14. Zusatzprotokoll der EMRK, wo just der Artikel zur Umsetzungspflicht von EGMR-Urteilen neu gefasst wurde. Auch diese Verpflichtung müsste an sich unverändert Vorrang genießen. Darüber hinaus wären die Behörden natürlich gehalten, ihr Möglichstes zu tun, um auch Völkerrecht, dessen Anwendung durch die neue Vorrangregel gefährdet ist, weiterhin zu beachten. Im Fall der EMRK und anderer wichtiger Verträge gäbe es auch gewichtige Argumente, um ein Zurücktreten grundsätzlich zu verneinen.
Nur zwei, besonders naheliegende Argumentationslinien seien erwähnt: Zunächst wäre plausibel, die Vorgabe des Anwendungsvorrangs von Verträgen mit Referendumsoption auf all diejenigen Verträge zu beziehen, die nach der gegenwärtigen Rechtslage dem Referendum unterstehen würden. Auch Verträgen, die gemäß der früheren Rechtslage nicht dem Referendum unterstellt waren, nach heutigem Recht aber referendumspflichtig wären, würde also analog der grundsätzliche Vorrang vor Landesrecht in der Rechtsanwendung zuerkannt. So würden materielle Widersprüche vermieden, während bei einer anderen Auslegung nicht einmal ein gesetzgeberischer Weg bliebe, diese Widersprüche aufzulösen, da der Genehmigungsbeschluss nicht nachträglich dem Referendum unterstellt werden kann. Auch würden erratische Konstellationen vermieden, in denen neuere und deshalb referendumspflichtige Vertragsänderungen und Zusatzprotokolle anzuwenden wären, aber unveränderte Vertragsteile zurücktreten müssten.
Die fortgesetzte Beachtung der EMRK und anderer bedeutender Abkommen könnte zweitens mit dem spezifischen Charakter derselben begründet werden. Seit vielen Jahrzehnten wird den Menschenrechtsverträgen in der Schweiz Verfassungsmäßigkeit und deshalb eine besondere Stellung zuerkannt. Diese Anerkennung erfolgte zunächst verfahrensrechtlich, dann mit Blick auf Normkonflikte – nicht aufgrund einer förmlichen Regelung, sondern eben in Erwägung des genuinen Gehalts dieser Verträge. Auch der EGMR qualifiziert die EMRK bekanntlich schon seit Langem als „constitutional instrument“. Eine analoge Privilegierung hat das Bundesgericht später für Verträge mit der Europäischen Union anerkannt, mit Hinweisen auf die supranationalen Eigenschaften des Europarechts (obwohl die Schweiz nicht EU-Mitglied ist und die entsprechenden Verpflichtungen daher formal Völkerrecht darstellen). Im Anschluss daran könnten die Menschenrechte und andere transnationale Normen mit konstitutionellem oder supranationalem Charakter vom Völkervertragsrecht im Sinne von Art. 190 E-BV unterschieden werden. Die Kollisionsregel wäre darauf also nicht unmittelbar anwendbar. Stattdessen wäre darauf abzustellen, dass diese Bestimmungen ihrem Wesen nach Vorrang beanspruchen.
Viele weitere Relativierungen von Art. 190 E-BV ließen sich vorbringen. Entscheidend ist, dass die Initiative auch in dieser Hinsicht nicht die versprochene Klarheit, sondern Unabsehbarkeit schafft. Gleiches gilt für den zweiten, vermeintlich konsequenteren Teil der Initiative: Völkerrechtliche Verträge sollen bei Widersprüchen mit der Verfassung angepasst und nötigenfalls gekündigt werden. Es ist davon auszugehen und entspricht der Bindung der Behörden an die Gesamtrechtsordnung einschließlich des Völkerrechts, dass die zuständigen Stellen diese nicht einklagbare Verpflichtung äußerst zurückhaltend interpretieren würden. In jüngerer Zeit wurden infolge von Volksinitiativen diverse Verfassungsbestimmungen erlassen, die auf den ersten Blick eindeutig völkerrechtswidrig sind: Das Verbot des Minarettbaus, Vorgaben zur automatischen Ausweisung straffällig gewordener Ausländerinnen und Ausländer, zu Kontingenten im Bereich des Freizügigkeitsabkommens und zur lebenslangen Verwahrung bei Sexualdelikten. Die Behörden begegneten dieser Herausforderung durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung im Kontext des Verfassungsganzen und unter besonderer Betonung des Verhältnismäßigkeitsgebots. So wurden die fraglichen Bestimmungen über die Wortlautgrenze hinaus mit Vorgaben des Völkerrechts vermittelt. Zumindest vor den Abstimmungen behaupteten auch die Initiantinnen und Initianten, dass ihre Begehren völkerrechtskonform seien. Im Fall des Freizügigkeitsabkommens wurde die Möglichkeit einer Anpassung in Gesprächen mit der EU erörtert, aber natürlich vom Vertragspartner zurückgewiesen. Widersprüche wurden also stets durch vermittelnde Gesamtbetrachtung aufgehoben. Diese Praxis dürfte auch mit der vorgeschlagenen Neuregelung beibehalten werden. Die Notwendigkeit einer Kündigung infolge von Volksinitiativen würde dann nur im Falle einer ausdrücklichen Vorgabe im Initiativtext angenommen. Vor einigen Wochen wurde eine Volksinitiative mit einer solchen Kündigungsklausel eingereicht – die Existenz dieser Praxis bietet einen weiteren Grund, bei Fehlen einer solchen Klausel das Erfordernis einer Kündigung zu verneinen.
Was bliebe: Eklatante Rechtsunsicherheit und Druck auf die Gewaltenteilung
Das Spektrum der Szenarien im Fall einer Annahme ist also außerordentlich breit. Eine isolierte Umsetzung der Verfassungsänderungen nach Maßgabe der radikalen Prätentionen der Initiative könnte eine erhebliche Einschränkung des gerichtlichen Grundrechtsschutzes, eine Welle des Rückzugs aus internationalen Verträgen und systematische Verletzungen bestehender Völkerrechtspflichten bringen. Eine vermittelnde Interpretation könnte die aktuelle Praxis bestätigen und gegenläufige Begründungsfiguren – vor allem den besonderen Status von Menschenrechten und gewissen anderen Verträgen – sogar festigen. Das effektive Ergebnis dürfte nach meiner Vermutung dazwischen und näher beim zweiten Szenario liegen. Darüber lässt sich aber nur spekulieren. Die Distanz einzelner Verfassungsbestimmungen von der Verfassungswirklichkeit, die die Initiativpraxis des finanzstarken Rechtspopulismus in der Schweiz gezeitigt hat, würde durch die neuen Bestimmungen weiter verschärft. Die Folge wäre nicht nur Rechtsunsicherheit, sondern eine neue Gelegenheit, um die rechtsanwendenden Behörden bei der Wahrnehmung ihrer vermittelnden Verantwortung als Feinde des Volkes und die Gewaltenteilung als ihr böses Instrument darzustellen – bekanntlich ein Kernprogrammpunkt des europäischen Rechtspopulismus. Auch die innerstaatlichen Gerichte und andere Behörden sind, solange sie unabhängig urteilen, „fremde Richter“.
Verdeckt bleibt hinter der Polemik ein triftiges Unbehagen
Die Kraft der Initiative geht freilich nicht nur von Geld, Rhetorik und Ressentiment, sondern auch von einem begründeten Unbehagen aus. Die transnationalen Rechtsverhältnisse sind unzureichend durch öffentliche Diskurse und Rechtsschutzmechanismen gehegt. Staatliche Behörden müssen angesichts dieser Herausforderung mit besonderer Achtsamkeit über die Unverbrüchlichkeit konstitutioneller Prinzipien und Rechte wachen. In der polarisierten Schweizer Debatte wird der Hinweis darauf weitgehend dem Nationalkonservativismus überlassen, wogegen andere Kräfte die Notwendigkeit eines unbedingten Völkerrechtsvorrangs proklamieren – oft im Rekurs auf verkürzende Rechtsdogmatik. Dies stärkt spätestens mittelfristig die Kräfte hinter der Initiative und verdrängt mit ihnen die Aufgabe der Differenzierung. Es ist dringend an der Zeit und nicht zuletzt die Verantwortung öffentlicher Rechtswissenschaft zu präzisieren, für welches Völkerrecht einzustehen ist.
Ein Kompliment an den Autor, es handelt sich hier wirklich um einen vorzüglichen Artikel. Der Artikel zeigt auch deutlich auf, wie sehr angenommene Initiativen bei ihrer materiellen Umsetzung vom parlamentarischen Prozess abhängig sind. Das ist ja das Schicksal von Initiativen, Sachverhalte zur Geltung zu bringen, die in den eidgenössischen Räten keine Mehrheit haben. Bei Annahme müssen dann genau diese eidgenössischen Räte, die dem Anliegen ablehnend gegenüber stehen, diese dann Umsetzen. Dazu kommt, dass fast immer die Zustimmung bei Volk und Ständen eher mit knapper Mehrheit erfolgte und dieses Faktum natürlich in die Umsetzung einfliesst. Das effektivste direkt-demokratische Instrument bleibt immer noch das Referendum, denn ein Nein führt zur nicht Umsetzung der vorgeschlagenen gesetzlichen Bestimmungen, ohne Umsetzungsspielräume der Bundesversammlung. Starke Gruppierungen und Parteien können diese Referendumsdrohung im Vorfeld zu Geltung bringen und so ihre Anliegen besser in die Gesetzgebungsarbeit einbringen.