Versicherungen dürfen ihre Welt nicht in Männlein und Weiblein sortieren
Da wird die FAZ morgen wieder fauchen.
Juliane Kokott, die unerschrockene Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof, plädiert dafür, die Richtlinie 2004/113 zum Verbot von Diskrimierungen aus Gründen des Geschlechts zu kippen – weil sie diskriminierend sei aus Gründen des Geschlechts.
Es geht um das ewige Streitthema Versicherungsverträge: Dürfen Versicherungen unterschiedliche Leistungen und Prämien anbieten, je nachdem, ob man männlichen oder weiblichen Geschlechts ist?
Muss ein Mann mehr für eine Kfz-Versicherung zahlen als seine Frau, nur weil statistisch Männer mehr Unfälle bauen als Frauen? Darf eine Risikolebensversicherung von Frauen höhere Beiträge verlangen, nur weil statistisch Frauen eine höhere Lebenserwartung haben?
Verschwurbelter Scheinkompromiss
Die Richtlinie sieht dazu eine reichlich verschwurbelte Scheinkompromisslösung vor: Bei Verträgen ab 21. Dezember 2007 dürfen geschlechtsspezifische Faktoren nicht mehr zu unterschiedlichen Prämien oder Leistungen führen, heißt es in Art. 5 Abs. 1.
Wie schön, denkt man da. Und liest weiter. Und erfährt in Abs. 2, dass die Mitgliedsstaaten solche proportionalen Differenzierungen trotzdem zulassen können,
wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.
Mit anderen Worten: Mit Ausnahme der Kosten der Schwanger- und Mutterschaft (Abs. 3) dürfen die Mitgliedsstaaten bei Versicherungsprämien eben doch Frauen und Männer diskriminieren, solange sie das nur versicherungmathematisch sauber tun.
Dies, so Kokott, verstößt gegen den primärrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen:
In einer Union des Rechts, welche die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung zu ihren obersten Prinzipien erklärt hat, wäre es zweifelsohne in höchstem Maße unangebracht, wenn etwa im Rahmen der Krankenversicherung ein unterschiedliches Risiko von Hautkrebserkrankungen mit der Hautfarbe des Versicherten in Verbindung gebracht und ihm deshalb entweder eine höhere oder eine niedrigere Prämie abverlangt würde.
Von Äpfeln und Birnen
Statistik ist eine zweischneidige Sache. Statistik suggeriert, dass gar keine Diskriminierung im Spiel sein könne. Dass da mit mathematischer Präzision Korrelationen gemessen werden, an denen doch niemand schuld ist. Statistik besagt: Das ist eben so.
Aber nichts ist eben so. Äpfel sind nicht Äpfel und Birnen nicht Birnen, solange es nicht jemanden gibt, der beide miteinander vergleicht.
Es gibt immer jemanden, der festlegt, was mit wem verglichen werden soll.
Genauso ist das auch mit der Versicherungsmathematik: Dabei geht es darum, zu ermitteln, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass das zu versichernde Risiko bei dem einzelnen Versicherten eintreten wird. Man kann sagen: Aha, der ist ein Mann. Wir wissen, dass jeder x-te Mann einen Unfall baut. Wahrscheinlichkeit also 1/x.
Ich kann aber auch sagen: Aha, der verhält sich so und so. Wir wissen, dass jeder x-te, der sich so verhält, einen Unfall baut. Wahrscheinlichkeit also 1/x.
Beides ist Statistik, saubere, kühle, korrekte Statistik. Die eine ist diskriminierend, die andere nicht.
Das dekliniert die Generalanwältin ganz streng durch: Es sei mitnichten ein felsenfester Fakt, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung und im Straßenverkehrsverhalten tatsächlich auf das Geschlecht zurückzuführen seien. Das war vielleicht früher so, wo festgefügte Rollenbilder dafür sorgten, dass sich Frauen wie Frauen und Männer wie Männer verhalten.
Heute dagegen müsse man davon ausgehen, dass sich jeder verhält, wie er oder sie will. Und deswegen müsse man auch das Verhalten und die Lebensumstände zugrunde legen, um das Risiko zu ermitteln, und nicht das Geschlecht. Mühsam? Teuer? Schon möglich:
Zugegebenermaßen lässt sich eine Differenzierung nach dem Geschlecht in Versicherungsprodukten besonders leicht in die Tat umsetzen. Die korrekte Erfassung und Bewertung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten sowie der Lebensgewohnheiten von Versicherten ist ungleich komplizierter und lässt sich auch schwerer nachprüfen, zumal diese Faktoren im Lauf der Zeit Änderungen unterliegen können. Praktische Schwierigkeiten allein rechtfertigen jedoch nicht, gewissermaßen aus Bequemlichkeitsgründen auf das Geschlecht der Versicherten als Unterscheidungskriterium zurückzugreifen.
Übergangsfrist
Wenn der EuGH der Empfehlung der Generalanwältin folgt und Art. 5 II der Richtlinie für ungültig erklärt, dann könnte das erdbebenhafte Folgen haben: Dann wären Millionen von Versicherungsverträgen, die nach Geschlechtern diskriminieren, plötzlich ihrer Rechtsgrundlage beraubt.
Deshalb schlägt die deutsche Generalanwältin vor, die Wirkung des Urteils auf zukünftige Verträge zu beschränken und obendrein den Mitgliedsstaaten und Versicherungen drei Jahre Frist zu geben, ihre Gesetze bzw. Prämien anzupassen.
Eine solche Übergangsfrist ist beim EuGH, anders als beim BVerfG, die ganz große Ausnahme (mehr dazu hier).
In diesem Fall scheint mir aber diese Begrenzung der Wirkung eines Nichtigkeitsurteils im Prinzip schon richtig.
Update 1.3.2011: Der EuGH ist dem Votum der Generalanwältin heute, auch in punkto Übergangsfrist, gefolgt.
Foto: Lisa Norwood, Flickr Creative Commons
“Die korrekte Erfassung und Bewertung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten sowie der Lebensgewohnheiten von Versicherten ist ungleich komplizierter und lässt sich auch schwerer nachprüfen, zumal diese Faktoren im Lauf der Zeit Änderungen unterliegen können. Praktische Schwierigkeiten allein rechtfertigen jedoch nicht, gewissermaßen aus Bequemlichkeitsgründen auf das Geschlecht der Versicherten als Unterscheidungskriterium zurückzugreifen.”
WTF? Ich sehe da weniger praktische, als viel mehr rechtliche Schwierigkeiten. Zu erfassen, ob jemand Männlein oder Weiblein ist, greift nicht sonderlich tief in die informationelle Selbstbestimmung ein, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber was die Generalanwältin da von sich gibt, liest sich ja geradezu wie eine Aufforderung, die “wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten” sowie die “Lebensgewohnheiten” (!) der Versicherungsinteressenten systematisch auszuspionieren.
Ja, geht’s noch?
“Beides ist Statistik, saubere, kühle, korrekte Statistik. Die eine ist diskriminierend, die andere nicht.” – I beg to disagree. Natürlich diskriminiert auch die andere Statistik, bloß nach anderen Kriterien …
Nun, Krankenversicherer machen dieses „systematische Ausspionieren“ ja schon lange, auch wenn sie zusätzlich noch nach dem Geschlecht differenzieren: Wie groß und wie schwer sind Sie? Haben Sie körperliche Beschwerden oder Gebrechen? Waren Sie in den vergangenen X Jahren in ärztlicher Behandlung? Wenn ja, bei welchen Ärzten? Was wurde ggf. diagnostiziert? Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein? Wenn ja, welche? Wurde bei Ihnen jemals eine HIV-Infektion festgestellt, oder wurde ein HIV-Test durchgeführt, dessen Ergebnis Sie noch nicht kennen? Haben Sie irgendwelche Allergien? …
Das Problem ist, daß selbst ein sorgfältiger Privatversicherter, der alle Arztrechnungen der letzten Jahre aufbewahrt hat, mindestens einige Tage damit verbrächte, alles auszuwerten und zusammenzutragen; obendrein muß er eigentlich Einsicht in die Akten aller Ärzte nehmen, für den Fall, daß eine Diagnose nicht auf der Rechnung gelandet ist. Für einen gesetzlich Versicherten, der sich nicht an Rechnungen halten kann, aber vielleicht ein paar Mal umgezogen ist oder im Urlaub einen Arzt aufgesucht hat, ist es praktisch unmöglich, den Fragebogen korrekt zu beantworten.
Noch eine Randbemerkung: „Darf eine Risikolebensversicherung von Frauen höhere Beiträge verlangen, nur weil statistisch Frauen eine höhere Lebenserwartung haben?“ – Umgekehrt! Risikolebensversicherungen sind für Frauen wegen ihrer höheren Lebenserwartung günstiger, denn das Risiko, daß eine Versicherte während der Laufzeit stirbt, ist ja geringer.
Jens hat schon Recht. Eine Verallgemeinerung wird durch eine andere ersetzt und dadurch kommt es auch zur Diskriminierung. In Zukunft wird dann wohl in Kfz-Haftpflichtversicherungsverträge eine Melde-Obliegenheit für Geschwindigkeitsstrafen aufgenommen: Denn wie wir ja alle dank der unermüdlichen Berichterstattung der Lokalpresse wissen, ist das Raser_in die größte Gefahr für die Sicherheit auf den Straßen (und natürlich auch ganz böse zum armen Klima). Wer geblitzt wird, blecht dann eben nicht nur an den Fiskus, sondern im folgenden Jahr auch einen höheren Obolus an die Versicherungsgesellschaft, ganz unabhängig davon, wie oft diese wirklich einen Schaden regulieren muss.
Ansonsten muss ich sagen: Hut ab, Frau Kokott, Sie haben den Kern meiner Kritik am Gender-Mainstreaming und am Diversity-Management verstanden: “Das war vielleicht früher so, wo festgefügte Rollenbilder dafür sorgten, dass sich Frauen wie Frauen und Männer wie Männer verhalten. Heute dagegen müsse man davon ausgehen, dass sich jeder verhält, wie er oder sie will.” Und genau das ist der Systemfehler des GM/DM: Es geht davon aus, dass sich Männer wie Männer, Frauen wie Frauen, Moslems wie Moslems, Homosexuelle wie Homosexuelle verhalten und steckt somit jede(n) in das Prokrustes-Bett einer dieser Gruppenidentitäten, obwohl die entsprechenden Stereotype – wenn überhaupt – ja immer nur einen Teilaspekt einer komplexen Persönlichkeit bilden.
Sehe ich das richtig, dass das Problem der Drittwirkung gar nicht problematisiert wird? Nach herkömmlicher Ansicht sind ja Private nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden und dürfen daher auch diskriminieren. Die RiLi soll in bestimmten Bereichen auch Privaten besonders schlimme Diskriminierungen verbieten. Andere private Diskriminierungen sind aber bisher erlaubt, und zwar völlig zu Recht. Für mich kommen z.B. als Sexualpartner von vornherein nur Frauen in Betracht. Da will ich auch in Zukunft knallhart aufgrund des Geschlechts diskriminieren dürfen.
Die Generalanwältin differenziert aber anscheinend nicht zwischen der Frage, ob hier eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts durch Hoheitsträger erlaubt wäre, und ob Hoheitsträger Privaten dieselbe Ungleichbehandlung erlauben dürfen.
Naja, der EuGH wird es bestimmt auch nicht tun und nicht erwägen, was das ganze dann konsequent zu Ende gedacht bedeutet. Er ist ja nun auch nicht gerade für die Qualität seiner Rechtsprechung berühmt.
“Naja, der EuGH wird es bestimmt auch nicht tun und nicht erwägen, was das ganze dann konsequent zu Ende gedacht bedeutet. Er ist ja nun auch nicht gerade für die Qualität seiner Rechtsprechung berühmt.”
ACK, die Rechtsanwendung auf europäischer Ebene ist dogmatisch äußerst unbefriedigend. Da wird man schonmal zuweilen daran zweifeln dürfen, ob wir tatsächlich in einem Raum (der Freiheit, der Sicherheit und) des Rechts leben.
Naja, dass unterteilen sie in Zukunft halt nichtmehr nach Männlein und Weiblein, sondern nach “Sind funktionsfähige Hoden vorhanden?”. Das eignet sich dann nichtmehr zur direkten unterscheidung zwischen den Geschlechtern und solte damit keine gegen das Gesetz verstoßende Diskriminierung mehr sein.
Wir ersetzen also lediglich eine per Gesetz verbotene diskriminierungsfähige Eigenschaft durch eine erlaubte, die weitestgehend deckungsgleich ist.
Noch ein (diesmal juristischer) Gedanke (wobei ich auf dem Gebiet des Versicherungsrechts dilettiere): M.E. wäre ein Diskriminierungsverbot bei der Kfz-Haftpflichtversicherung dogmatisch leichter zu rechtfertigen als z.B. bei den Lebensversicherungen. Bei der Kfz-HPV ist die Privatautonomie des Versicherungsnehmers ja von Gesetzes wegen eingeschränkt, nämlich dergestalt, dass er nicht die Wahl hat, OB er überhaupt kontrahieren möchte. Dieser verdünnten Willensfreiheit nun eine unbeschränkte Privatautonomie des Versicherers gegenüberzustellen bringt Letzteren in eine völlig unverhältnismäßig überlegene Position, wobei die Diskrepanz hier ja noch höher ist als bei gewöhnlichen Verbraucherverträgen (bei denen eben kein Abschlusszwang auf Seiten des Verbrauchers vorliegt.) Eine Beschneidung der Gestaltungsfreiheit des Versicherers scheint mir hier ein gar nicht mal so ungerechter Ausgleich.
Bei der LV liegen die Dinge nun völlig anders, da einen solchen Vertrag niemand abzuschließen gezwungen ist. Hier gibt es m.E. keine ausreichende Rechtfertigung zur Einschränkung der privatautonomen Tarifgestaltung. Wer im Privatrecht jeglichen Spielraum für (ggf. auch unsachliche) Differenzierung beseitigen möchte, befürwortet letztlich eine Form der Planwirtschaft.
Er braucht sich kein eigenes Auto zu kaufen, dann braucht er auch keine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Die (auch für andere existenzbedrohenden) Risiken, die man mit einer Risikolebensversicherung absichert, kann man nicht so leicht ausschließen.
Übrigens ist es mit der „unbeschränkten Privatautonomie des Versicherers“ bei Kfz-Haftpflichtversicherungen auch nicht so weit her: „… Die im Inland zum Betrieb der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung befugten Versicherungsunternehmen sind verpflichtet, den in § 1 genannten Personen nach den gesetzlichen Vorschriften Versicherung gegen Haftpflicht zu gewähren. … Der Antrag darf nur abgelehnt werden, wenn sachliche oder örtliche Beschränkungen im Geschäftsplan des Versicherungsunternehmens dem Abschluß des Vertrags entgegenstehen oder wenn der Antragsteller bereits bei dem Versicherungsunternehmen versichert war und …“ (§ 5 PflVG)
Das schrieb Obiter bereits: “Bei der Kfz-HPV ist die Privatautonomie des Versicherungsnehmers ja von Gesetzes wegen eingeschränkt, nämlich dergestalt, dass er nicht die Wahl hat, OB er überhaupt kontrahieren möchte.”
Nur zur Verdeutlichung: chi stellt die Perspektive des Versicherungsgebers, nicht des -nehmers dar.
Hallo,
“Muss ein Mann mehr für eine Kfz-Versicherung zahlen als seine Frau, nur weil statistisch Männer mehr Unfälle bauen als Frauen?”
Das wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger – es ist und bleibt falsch. Männer bauen nominal mehr Unfälle; dies wird jedoch durch den erheblich (!) höheren Anteil an gefahrenen Kilometern und Fahrten mehr als aufgewogen.
Würde jemand schreiben “Frauen haben viel mehr Haushaltsunfälle als Männer” wäre es jedem klarer denn der Proteststurm wäre groß.
Gruß,
Hardy
Tja unsere Versicherungswirtschaft und ihr so erfolgreicher lobbyismus beim Gesetzgeber! § 20 II AGG ist wohl darauf zurückzuführen, dürfte aber nicht EU-rechtskonform sein.
Nicht nur Männlein + Weiblein, sondern Youngster + Oldie, Raucher + Nichtraucher, Sportler + Nichtsportler etc. sind Differenzierungen, die im Versicherungsrecht unter dem Kerngedanken der Solidargemeinschaft keinen Raum haben dürfen und im Interesse der Gleichbehandlung ständig auf den juristischen Prüfstand gehören. Wo auch kein Raum für eine genetische Ungleichbehandlung sein darf, da darf auch im übrigen kein willkürliches Unterscheiden rechtens bleiben, um die Solidargemeinschaft zu zerstören