31 July 2018

Vertrauen hat Grenzen: Die Schlussanträge zu Ibrahim u.a. und Jawo

Politik und Gesetzgebung mögen die menschen- und flüchtlingsrechtlichen Grenzen, die für die Verweisung Asylsuchender auf andere Asylstaaten gelten, zunehmend in Frage stellen (dazu hier). Die Gerichte aber bemühen sich weiterhin, diese Grenzen im Detail herauszuarbeiten. Wer mit diesen Bemühungen vertraut ist, weiß: Die Realitäten und die sich dazu stellenden Rechtsfragen sind weit komplexer, als viele Politiker sich das vorstellen. Entsprechend langwierig verläuft der judikative Klärungsprozess. Seit 25. Juli liegen nun die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in den Rechtssachen Ibrahim u.a. und Jawo vor. Sie übertragen die bisherige EuGH-Rechtsprechung zu den zielstaatsbezogenen Grenzen von Dublin-Überstellungen auf weitere Konstellationen und enthalten in Ibrahim u.a. eine spannende Weiterentwicklung.

Die Fallkonstellationen unterscheiden sich: Jawo ist ein Dublin-Fall. Der Asylsuchende sollte an das ersteinreisezuständige Italien überstellt werden. Neu ist, dass die Lebensverhältnisse im Zielstaat für den Fall der dortigen Anerkennung in Frage stehen. In den Ausgangsfällen Ibrahim u.a. wurden die Asylanträge abgelehnt, weil die Betroffenen bereits in Bulgarien bzw. Polen als subsidiär schutzberechtigt anerkannt worden waren. Dieser Unzulässigkeitsgrund ist in der Asylverfahrensrichtlinie geregelt. Der Generalanwalt stellt fest, dass das Dublin-Recht hier nicht vorrangig angewandt werden müsse, und dass die frühere Fassung der Asylverfahrensrichtlinie Anwendung finde, die einen entsprechenden Unzulässigkeitsgrund nur für anerkannte Konventionsflüchtlinge vorsah. Alles Weitere entfaltet der Generalanwalt nur noch für den Fall, dass der EuGH die aktuelle Fassung der Richtlinie für anwendbar halten sollte. Dabei betreffen die Vorlagefragen des BVerwG nicht die Unionsrechtskonformität der Überstellung selbst, sondern die Unionsrechtskonformität der Entscheidung, den Asylantrag wegen anderweitiger Anerkennung als unzulässig abzulehnen. Auch in diesem Zusammenhang wird aber die Tauglichkeit der Lebensverhältnisse für Anerkannte im zuständigen Mitgliedstaat thematisiert, weshalb Jawo und Ibrahim u.a. in gemeinsamer Sitzung verhandelt wurden.

Bemerkenswert ist zunächst, dass der Generalanwalt in Ibrahim u.a. implizit das Erreichbarkeitsprinzip festigt. Danach darf ein Asylgesuch nicht unzuständigkeitshalber abgelehnt werden, wenn der zuständige Staat für den Asylsuchenden nicht erreichbar ist, etwa weil er (wie hier Bulgarien) die Aufnahme verweigert oder andere Abschiebungshindernisse bestehen (näher hier S. 17 ff.), es sei denn, der Betroffene kann auf andere Weise einem angemessenen Status zugeführt werden. Entnehmen lässt sich das Art. 18 GRCh, 78 AEUV, wonach Schutzbedürftige Zugang zu einem angemessenen Status haben müssen. Das sagt der Generalanwalt zwar so nicht, seine Argumentation setzt es aber voraus: Wäre es erlaubt, die Frage der Ablehnung von Asylanträgen Anerkannter unabhängig davon als unzulässig zu behandeln, ob der Schutzstatus auch zugänglich ist, wären die Lebensverhältnisse im Zielstaat in Ibrahim u.a. nicht entscheidungsrelevant gewesen.

Zu Recht erstreckt der Generalanwalt die Rechtsprechung zu den Verweisungsgrenzen aus Art. 4 GRCh, die der EuGH u.a. für Dublin-Überstellungen entwickelt hat, auf zielstaatliche Probleme im Bereich der Lebensverhältnisse nach Anerkennung. Und zwar auch für Asylsuchende, deren Schutzberechtigung (wie in Jawo) vom Zielstaat erst noch geklärt werden muss. Das zielstaatliche Problem ist dann nicht etwa zu fernliegend: Für die Schutzberechtigtenunter den Asylsuchenden verringert nämlich der Umstand, dass ihre Schutzberechtigung noch nicht festgestellt (und sinnvollerweise im verweisenden Staat nicht aufzuklären) ist, ihr real risk, im Zielstaat durch die Lebensverhältnisse nach Anerkennung von einer Art. 4 GRCh-Verletzung betroffen zu werden, keineswegs. Die erforderliche Risikoprognose ist folglich für den Fall der Anerkennung zu stellen. Der Generalanwalt argumentiert hier mit der Absolutheit des Art. 4 GRCh und der Einheit des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), das auch die Lebensverhältnisse nach Anerkennung erfasse (Rn. 104 ff.). Er verlangt vom verweisenden Staat im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK, die Verhältnisse im Zielstaat im Hinblick auf  Rechtslage und Praxis genau zu prüfen, soweit eine Verletzung des Art. 4 GRCh infrage stehe. In Ibrahim u.a. (Rn. 119) verweist der Generalanwalt zudem darauf, dass selbst gravierend mangelhafte Verhältnisse im Zielstaat der Verweisung nicht entgegenstehen, wenn der Betroffene im Zielstaat (realistischerweise und rechtzeitig!) Rechtsschutz finden kann (dazu näher hier).

Dass drohende Verletzungen des Art. 4 GRCh der Verweisung entgegenstehen, gilt auch, wenn der Zielstaat unionsrechtlich gar nichts falsch macht und insbes. die Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie einhält, indem er Inländern und Schutzberechtigten das gleiche Sozialleistungsniveau gewährt (und durch Integrationsleistungen effektiv zugänglich macht, Jawo Rn. 112 ff.) wird. Der abschließende Entscheidungsvorschlag zu Ibrahim u.a. formuliert den Punkt in Ziffer 4 leider unklar, das Gemeinte ergibt sich aber aus Rn. 99 der Begründung in Ibrahim u.a., und in Jawo klar aus Ziffer 7 des Entscheidungsvorschlags.

Eine Wiederauflage erfahren in den Schlussanträgen Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Begriff der systemischen Mängel, der als zwingende Voraussetzung für einen beachtlichen Verweisungseinwand durch EuGH C.K. ad acta gelegt schien. Der Generalanwalt betont – das war überfällig – die Unterscheidung zwischen zielstaatsbezogenen und die „eigentliche Ãœberstellung“ betreffenden Verweisungsproblemen und scheint für erstere daran festhalten zu wollen, dass systemische Mängel vorliegen müssen (Ibrahim u.a. Rn. 91; Jawo Rn. 126, 143). In den Entscheidungsvorschlägen bleibt das aber unklar. Sollte der EuGH systemische Mängel als Ursache bei zielstaatsbezogenen Fällen für zwingend halten, würde sich wieder die Frage nach der Kompatibilität mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK stellen (zu einer Lösungsmöglichkeit hier).

Probleme im Bereich der zielstaatlichen Lebensverhältnisse nach Anerkennung, die den Schweregrad einer Verletzung des Art. 4 GRCh nicht erreichen, können sich nach Ansicht des Generalanwalts  nicht verweisungshindernd auswirken. Hier nimmt der Generalanwalt die mit N.S. begonnene Rechtsprechung des EuGH zur Rolle des Vertrauensgrundsatzes bei Ãœberstellungen Asylsuchender auf, und führt dabei Unklarheiten in deren Begründung fort: Dass selbst nachweisliche zielstaatliche Grundrechtsverletzungen für das Handeln des verweisenden Staates unbeachtlich sind, wenn sie den Schweregrad des Art. 4 GRCh nicht erreichen, beruht nicht darauf, dass man auf ihre Nicht-Existenz kontrafaktisch vertrauen könnte, sondern darauf, dass nicht jede beliebige zielstaatliche Grundrechtsverletzung auf die Rechtmäßigkeit des inländischen Verweisungshandelns durchschlägt (näher hier). Abgesehen davon halte ich die Verweisungsunbeachtlichkeit von Mängeln, mit denen der Zielstaat nachweislich (sodass Vertrauen zur Fiktion würde) Statusrechte der GFK verletzt, für flüchtlingsrechtlich problematisch. Die GFK – und damit Art. 18 GRCh, 78 I AEUV – erlaubt nach Auffassung u.a. des UNHCR Verweisungen Asylsuchender auf andere Asylstaaten nicht, wenn diese Flüchtlingen keine Behandlung entsprechend der GFK gewähren (näher hier). Solche Verweisungen sind etwas ganz Anderes als die Abschiebung von Menschen in den Heimatstaat, mit der Beachtung von Art. 4 GRCh/Art. 3 EMRK/Art. 33 GFK ist es da nicht getan.

Der Generalanwalt kommt an anderer Stelle selbst zu dem Ergebnis, dass zielstaatliche Verletzungen der GFK sich unabhängig davon verweisungshindernd auswirken können, ob sie den Schweregrad des Art. 4 GRCh erreichen. Damit komme ich zu der eingangs erwähnten, in den Schlussanträgen Ibrahim u.a.(Rn.108 ff.) enthaltenen Weiterentwicklung des europäischen Flüchtlingsschutzes: Das BVerwG hatte die Frage aufgeworfen, wie mit Aufstockungsanträgen umzugehen ist, wenn das Asylverfahren im anerkennenden Mitgliedstaat mängelbehaftet war, sodass der als subsidiär schutzberechtigt Anerkannte tatsächlich Konventionsflüchtling sein könnte. Der Generalanwalt betont auch hier zunächst wieder den Vertrauensgrundsatz. Die daraus resultierenden Konformitätsvermutungen seien aber widerleglich. Zwar bringt eine fälschliche Einordnung als nur subsidiär schutzberechtigt keine Nachteile vom Kaliber des Art. 4 GRCh mit sich, die Widerleglichkeit beschränke sich aber nicht auf drohende zielstaatliche Verletzungen des Art. 4 GRCh (Rn. 116). Wegen der Verpflichtung auf die GFK in Art. 18 GRCh (und in Art. 78 I AEUV) müsse es auch möglich sein, verweisungshindernd gelten zu machen, dass im Zielstaat systemische Mängel bei der Einordnung Asylsuchender in die Schutzkategorien herrschen (Rn. 116). Der Generalanwalt folgt an dieser Stelle (an der eine Kollision mit dem EGMR nicht droht, es geht ja nicht um eine Art. 4 GRCh-Verletzung) einem „systemische Mängel“-Begriff, wonach „vereinzelte Verstöße keinesfalls ausreichen“ (Rn. 118). Eine Ausnahme für den Fall, dass der Asylsuchende von diesen vereinzelten Verstößen ersichtlich selbst betroffen ist, macht er nicht, nimmt aber sein Begriffsverständnis auch nicht in Ziffer 5 des abschließenden Entscheidungsvorschlags auf.

Es sei ergänzt, dass das ausnahmsweise Verbot, einen Antrag Weitergewanderter, über deren Schutzberechtigung andernorts bereits bestandskräftig entschieden wurde, als unzulässig zu behandeln, erst recht gelten muss, wenn ein Mitgliedstaat Schutzberechtigte systemisch mangelhaft als überhaupt nicht international schutzberechtigt einordnet. In einem solchen Mitgliedstaat abgelehnte Asylsuchende müssen demnach in anderen Mitgliedstaaten geltend machen können, die Ablehnung beruhe auf einer systemisch mangelhaften Anerkennungspraxis. Das wollten wir im GEAS zwar eigentlich nicht, Asylanliegen mehrfach prüfen. Aber die Kooperation muss ja nun mal primärrechtskonform sein. Der verweisende Mitgliedstaat beginge Ketten-Refoulement und verstieße gegen Art. 4 GRCh, würde er andernorts abgelehnte Asylsuchende, die wegen der dortigen systemisch mangelhaften Anerkennungspraxis ersichtlich schutzberechtigt sein können, auf einen Mitgliedstaat verweisen, der sie in den Heimatstaat abschieben wird. Das gilt auch, wenn der Betroffene keine neuen Umstände vorträgt, anders gesagt: Der Vortrag, es drohe wegen systemisch mangelhafter Anerkennungspraxis ein refoulement-Verstoß, ist etwas Neues. Wegen des Erreichbarkeitsprinzips können solche Probleme mit Weiterwanderern wie gesagt nicht einfach dem Abschiebeschutz überlassen werden. Übrigens betrifft das alles auch Verweisungen auf außereuropäische Drittstaaten … Das Zwangszuordnungsregime wird immer komplizierter.

Damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück: Die Reaktion auf diese Komplexität sollte nicht sein, Abstriche beim Menschen- und Flüchtlingsrechtsschutz oder bei der Gewaltenteilung zu machen, um ein effizienteres Kooperationssystem zu erhalten. Auch gegenseitiges Vertrauen erlaubt es nicht, vor nachweislichen zielstaatlichen Rechtsverletzungen die Augen zu verschließen, soweit diese auf die Rechtmäßigkeit des inländischen Verweisungshandelns durchschlagen. Es erlaubt nur eine Erhöhung der Substantiierungsanforderungen. Stattdessen sollte ein Zuordnungssystem errichtet werden, das auf weniger Zwang angewiesen ist, weil es sich viel stärker darum bemüht, Zuordnungen im Einverständnis mit den Betroffenen vorzunehmen: etwa durch vermehrtes Resettlement, durch Anreize, durch begrenzte Wahlmöglichkeiten, durch (konditionierte) Freizügigkeit, durch zwischen Mitgliedstaaten in Ausübung des Selbsteintrittsrechts bilateral vereinbarte Überstellungsverzichte, durch eine Stärkung des Verbindungsprinzips bis hin zu einem matching-Mechanismus … Die Vorschläge liegen bekanntlich in den Schubladen.


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