17 December 2021

Verwandtschaft zum Zwecke der Freizügigkeit

Regenbogenfamilien in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

In einem aktuellen Urteil behandelt der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Situation von Regenbogenfamilien, die in manchen Mitgliedstaaten rechtlich nicht anerkannt werden. Obwohl die EU für das Familienrecht keine Kompetenz hat, gelingt es dem Gerichtshof zumindest im Bereich der Freizügigkeit Diskriminierungen abzubauen. Ob seine Vorgaben auch umgesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Denn, glaubt man den Mitgliedstaaten, steht nicht weniger auf dem Spiel als ihre „nationale Identität“.

Identitätsbehauptung durch Exklusion

Das Familienrecht ist eines der letzten Reservate autonomer nationaler Normsetzung in der Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten können hier ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen unabhängig von Vorgaben aus Brüssel, Straßburg und Luxemburg verwirklichen und machen von dieser Möglichkeit rege Gebrauch. Divergenzen zeigen sich besonders bei der rechtlichen Behandlung von gleichgeschlechtlichen Paaren und ihren Kindern: In dreizehn Staaten, darunter Deutschland, sind gleichgeschlechtliche Ehen vorgesehen. In weiteren acht Staaten stehen gleichgeschlechtlichen Paaren zumindest rechtlich anerkannte Partnerschaftsformen zur Verfügung. Sechs Staaten – allesamt im Osten der Union gelegen – erkennen gleichgeschlechtliche Verbindungen hingegen rechtlich nicht an. Sie betrachten es als Frage ihrer „Identität“, dass Frauen nur Männer und Männer nur Frauen heiraten können. Dass Kinder nur aus verschiedengeschlechtlichen Verbindungen hervorgehen können, versteht sich unter dieser Prämisse von selbst. Den Umgang mit Regenbogenfamilien stilisieren diese Mitgliedstaaten zu einem Akt der Behauptung ihrer Souveränität im europäischen Staatenverbund – auf Kosten derjenigen, deren Lebensentwürfe mit der „nationalen Identität“ nicht in Einklang stehen. Gleichgeschlechtliche Paare und ihre Kinder werden so zu Spielfiguren im großen europäischen Sovereignty Game.

Auf den ersten Blick hat die EU dieser Identitätsbehauptung durch Exklusion wenig entgegenzusetzen: Sie verfügt über keine Gesetzgebungskompetenzen im materiellen Familienrecht. Ihre Grundrechtecharta garantiert zwar das Recht auf Eheschließung und Familiengründung, aber nur nach Maßgabe des nationalen Rechts (Art. 9 GRC). Ein Rückgriff auf das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 7 GRC), das nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Parallelnorm des Art. 8 EMRK auch Regenbogenfamilien erfasst, ist durch den begrenzten Anwendungsbereich der Charta ausgeschlossen: Die Unionsgrundrechte binden die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 GRC). Das gilt auch für das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 21 Abs. 1 GRC) und die Kinderrechte (Art. 24 GRC). Vom EuGH, der für die Interpretation dieser Rechte verantwortlich ist, können gleichgeschlechtliche Paare und ihre Kinder keine Unterstützung in ihrem Streben nach Anerkennung erwarten. So scheint es jedenfalls.

Freizügigkeit als „Schlüssel“

Doch der Schein trügt, wie das Urteil der Großen Kammer des EuGH vom 14. Dezember 2021 in der Rechtssache V.M.A. zeigt. Den zugrundeliegenden Fall schreibt das Leben im Europa der Gegenwart: Eine Bulgarin und eine Britin leben seit 2015 als Paar in Spanien. 2018 heiraten sie in Gibraltar. 2019 kommt eine Tochter zur Welt, die von den spanischen Behörden als Kind zweier Mütter registriert wird. Unter Vorlage der spanischen Geburtsurkunde beantragt die Bulgarin in ihrem Heimatstaat eine bulgarische Geburtsurkunde, um anschließend ein Identitätsdokument für ihre Tochter zu beantragen und mit ihrer Familie durch Europa reisen zu können. Die bulgarischen Behörden verweigern die Ausstellung der Geburtsurkunde, solange die Antragstellerin nicht die Identität der leiblichen Mutter offenbare. Da das bulgarische Recht nur verschiedengeschlechtliche Ehen anerkennt, enthält das Antragsformular lediglich die Felder „Mutter“ und „Vater“. Offenlegen, wer von beiden das Kind zur Welt gebracht hat, wollen die Mütter jedoch nicht.

Dass der Fall zum EuGH gelangte, ist dem Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 des EU-Arbeitsweisevertrag (AEUV) zu verdanken, das den Kern des „grundlegenden Status“ von Unionsbürgern bildet. Durch die Verweigerung einer Geburtsurkunde bzw. des nachgelagerten Identitätsnachweises für ihre Tochter ist nicht nur die bulgarische Mutter in ihrem Freizügigkeitsrecht betroffen, sondern auch die Tochter selbst, die vom vorlegenden nationalen Gericht (etwas widersprüchlich) als bulgarische Staatsangehörige und damit als Unionsbürgerin angesehen wurde. In den Händen des EuGH wird die Freizügigkeit zum Schlüssel, um die Tür zum nationalen Reservat Familienrecht einen Spalt breit zu öffnen (oder – je nach Lesart – zu einer Brechstange, mit der sich die Tür aufstemmen lässt).

Das Freizügigkeitsrecht der Tochter besteht für den Gerichtshof darin, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“, und zwar „ungehindert mit jedem ihrer beiden Elternteile“. Dass die Ausübung dieses Rechts vereitelt wird, solange ihr Bulgarien keinen Identitätsnachweis (Kinderpass o. ä.) erteilt, versteht sich von selbst. Schon nach der Freizügigkeitsrichtlinie (Art. 4 Abs. 3 RL 2004/38/EG) sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihren Staatsangehörigen solche Dokumente auszustellen. Zu klären war nur, ob der Verweis Bulgariens auf die „nationale Identität“ eine Ausnahme von dieser Pflicht begründen konnte. Immerhin achtet die Union diese nationale Identität, die in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen des Mitgliedstaats zum Ausdruck kommen soll (Art. 4 Abs. 2 EUV).

Relative Verwandtschaft

Die deutsche Generalanwältin Juliane Kokott arbeitet in ihren Schlussanträgen mit einigem rhetorischen Aufwand heraus, dass „die rechtliche Definition dessen, was eine Familie oder ein Familienangehöriger ist, die grundlegenden Strukturen einer Gesellschaft“ berühre und daher zur nationalen Identität eines Mitgliedstaats zähle. Der Gerichtshof verliert dazu kein Wort. Er begnügt sich mit dem Verweis auf eine andere Passage der Schlussanträge, wonach die bloße Ausstellung eines Identitätsdokuments die nationale Konzeption der Familie nicht berühren könne, weil ein Reisedokument für das nationale Abstammungsrecht ohne Bedeutung sei. Mit anderen Worten muss der Heimatstaat die in einem anderen Mitgliedstaat begründete Verwandtschaft zwischen dem Kind und seinen gleichgeschlechtlichen Eltern nur zum Zwecke der Freizügigkeit annehmen, nicht aber in seinem (sonstigen) innerstaatlichen Recht anerkennen. Die Verwandtschaft in der Regenbogenfamilie ist also relativ; sie besteht – aus bulgarischer Sicht – nur zum Zwecke der Freizügigkeit.

Der EuGH wählt mit diesem Ansatz einen klugen Mittelweg: Einerseits gibt er dem exkludierenden Identitätsnarrativ keine weitere Nahrung, indem er offenlässt, ob die Exklusivität der verschiedengeschlechtlichen Ehe zur „nationalen Identität“ gehört. Andererseits vermeidet er den Rekurs auf überschießende Gleichberechtigungspostulate, indem er sich auf die Freizügigkeit beschränkt, für deren Regelung die Union unbestritten zuständig ist. Explizit hebt er hervor, dass im Gegensatz dazu das Personenstandsrecht „[b]eim derzeitigen Stand des Unionsrechts“ in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt: „Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe und die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen.“

Ganz will der EuGH aber nicht auf die Grundrechte verzichten. Er betont vielmehr, dass der Mitgliedstaat bei seinen freizügigkeitsrelevanten Maßnahmen sowohl das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC) als auch die Rechte der Kinder (Art. 24 GRC) beachten müsse. „Unter diesen Umständen verstieße es gegen die dem Kind […] gewährleisteten Grundrechte, ihm die Beziehung zu einem seiner Elternteile im Rahmen der Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorzuenthalten oder ihm die Ausübung dieses Rechts faktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil seine Eltern gleichen Geschlechts sind.“ Damit sorgt der Gerichtshof künftigen „subtileren“ Diskriminierungspraktiken vor.

Anspruch und Wirklichkeit

Ob der EuGH weiteren Diskriminierungen der Regenbogenfamilie in Bulgarien entgegentreten würde, steht auf einem anderen Blatt. Denn die zurückhaltende Konstruktion der Verwandtschaft zum Zwecke der Freizügigkeit hat eine offene Flanke (oder – je nach Lesart – eine Hintertür): Letztlich beeinträchtigt jede Ungleichbehandlung im Heimatstaat die Freizügigkeit von Kind und Mutter, weil sie es ihnen weniger attraktiv macht, nach Bulgarien zu ziehen und sich dort aufzuhalten. Schlösse der EuGH die Rechtfertigung solcher Ungleichbehandlungen unter Verweis auf die Grundrechte von vornherein aus (wie er es im Urteil andeutet), müsste er am Ende doch Vorgaben an das innerstaatliche Familienrecht machen. Angesichts der nationalidentitätspolitischen Aufladung dieses Rechtsgebiets wäre eine Umsetzung solcher Vorgaben mehr als zweifelhaft. Das Risiko eines Autoritätsverlusts des Gerichtshofs wäre nicht zu unterschätzen.

Dass der EuGH schon bei der zurückhaltenden Freizügigkeitskonstruktion mit Widerständen rechnen muss, zeigt das Coman-Urteil aus dem Jahr 2018. Rumänien wurde darin mit vergleichbaren Erwägungen verpflichtet, dem gleichgeschlechtlichen Ehepartner eines eigenen Staatsangehörigen zum Zwecke der Freizügigkeit einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Trotz der Beteuerung des Gerichtshofs, dass Rumänien dadurch nicht gezwungen werde, gleichgeschlechtliche Ehen einzuführen, wurde das Urteil offenbar bis heute nicht umgesetzt. Im September dieses Jahres rief das Europäische Parlament die Kommission dazu auf, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien einzuleiten. Der Kläger hat inzwischen Individualbeschwerde zum EGMR erhoben. Der normative Anspruch des Unionsrechts und die rechtliche Wirklichkeit in den Mitgliedstaaten fallen beim Umgang mit Regenbogenfamilien weit auseinander.

In der Rechtssache C-2/21 wird der EuGH demnächst über die Freizügigkeitsprobleme einer weiteren Regenbogenfamilie entscheiden. Das stimmt nicht gerade hoffnungsvoll. Denn der Fall ressortiert aus der Republik Polen, der Großmeisterin des europäischen Sovereignty Game.


2 Comments

  1. Lukas Küppers Fri 17 Dec 2021 at 17:51 - Reply

    Der Umgang mit der nationalen Identität in diesem Urteil gleicht dem in anderen Urteilen. Der EuGH will sich partout nicht zur Frage äußern, wie eine Kollission zwischen nationaler Identität
    In Weiss (C-493/17) hat er die Frage des BVerfG, die auf die Identitätsklausel zielt, als unzulässig abgewiesen.
    Im zweiten Tarrico-Urteil (C-42/17) hat er sich der Position des Italienischen Verfassungsgerichts angeschlossen, ohne auf die Identitätsklausel abzustellen. Stattdessen hat er die (Unions)grundrechte angewandt, um zu einer Interpretation zu kommen, die einen Konflikt mit der nationalen Identität ausschließt – einen Weg, der der italienische Verfassungsgerichtshof in seinem Vorlagebeschluss vorgeschlagen hatte.
    Als der EuGH in der Rs C-718/18 jüngst über die fehlende Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur zu entscheiden hatte, brachte die Bundesregiernug das Demokratieprinzip in zweierlei Hinsicht zur Verteidigung vor. Einmal das unionale Demokratieprinzip und einmal das nationale, das die Union als Teil der nationalen Identität zu achten habe (Rn. 96). Der EuGH wieß die auf das unionale Demokratieprinzip gestützte Argumentation ab (Rn. 124 – 130) ohne auf das Identitätsargument einzugehen. Da diese Argumentation durchaus zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, hat sich der EuGH damit angreifbar gemacht und das rechtliche Gehör der BRD im Verfahren verletzt.

    Kontrolliert der EuGH die Einhaltung des Unionsrechts im Bereich ausschließlicher mitgliedsstaatlicher Zuständigkeiten, so sagt er zwar immer, dass der entsprechende Bereich in die mitgliedsstaatliche Zuständigkeit fällt und fährt danach ohne weiteres fort. Welche Konsequenzen sich aus einer solchen Konstellatoon ergeben, hat der EuGH bisher nocht nicht herausgearbeitet und des auch in diesem Fall nicht getan.

  2. Leser Fri 17 Dec 2021 at 18:23 - Reply

    Ob Polen die Großmeisterin des europäischen Sovereignty Game ist, mag ich zu bezweifeln. Mit ihrer Taktik, Justizorganisation, Energie- und Umweltpolitik etc. zu Fragen der nationalen Souveränität hochzustilisieren, haben die Schergen der PiS-Regierung jedenfalls weder vor dem EuGH noch vor dem EGMR Erfolg gehabt. Meisterin des Souveränitsspiels wäre dann doch wohl eher das BVerfG, das zumindest im Bereich der Wirtschaftspolitik die Souveränität der Bundesrepublik erfolgreich gegen die EZB-Technokratie verteidigen konnte. Von so einem Souveränitätsbeweis können Kaczyński und Ziobro bislang nur träumen.

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