Völkerrecht und Sezessionen – Legitimität nur für Einigungswillige?
Katalonien, Schottland, Krim, Québec – Sezessionismus ist in diesen Tagen wieder einmal ein sehr aktuelles Phänomen, und das nicht nur in Europa. Um so mehr wächst das Bedürfnis danach, sezessionistische Bestrebungen völkerrechtlich und damit nach internationalen Standards zu bewerten. Doch bei der Frage, ob bzw. wann Sezessionen legitim sind, betreibt das Völkerrecht eine Art Versteckspiel mit Verfassungsrecht und Politik. Weder statuiert es ein ausdrückliches Recht auf Sezession noch verbietet es dieselbe, sondern überlässt es grundsätzlich dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht, ihre Rechtmäßigkeit zu beurteilen. Lässt uns also das Völkerrecht mit dem Sezessionismus völlig alleine? Eine Antwort auf diese Frage gab diese Woche Andreas Paulus, Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts und Völkerrechtsprofessor in Göttingen, in einem Vortrag vor dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages.
Einsamer Anknüpfungspunkt für eine völkerrechtliche Diskussion über das Sezessionsrecht ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Art. 1 Nr. 2 der UN-Charta. Selbstbestimmung ist aber nicht das gleiche wie Sezession. Vielmehr steht das Sezessionsrecht im Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Souveränität des Staates. Es kann nur unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleitet werden.
Das Völkerrecht, so Paulus, schützt die staatliche Souveränität und territoriale Integrität. Im Zweifelsfall gehe die Stabilität der Staaten und der universellen Friedensordnung dem Recht auf Sezession vor. Aber das gelte nicht immer: Wenn die Stabilität eines Staates nur eine scheinbare ist, weil eine Bevölkerungsgruppe nach Selbstbestimmung strebt, kann eine Sezession zur Lösung des Problems beitragen. Deshalb bilde sich, wenn auch nur allmählich, eine stärkere Verbindung der Begriffe Sezession und Selbstbestimmung heraus.
Wann kann sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ein völkerrechtliches Sezessionsrecht ergeben? Zunächst sind dabei drei Grundvoraussetzungen für alle Volksgruppen, die eine legitime Sezession anstreben, zu beachten. Die Sezessionsgruppen müssen erstens staatsfähig sein, also durch ein gewisses Solidaritätsgefühl zusammengehalten werden und eine Effektivität der Staatsgewalt garantieren. Zweitens dürfen keine Ministaaten entstehen, die nicht von allein lebensfähig seien, wie beispielsweise Abchasien oder Südossetien. Eine Untergrenze hinsichtlich der Größe der Staaten zu nennen, hielt Paulus allerdings nicht für möglich – am Beispiel von Luxemburg und Liechtenstein könne man sehen, dass auch sehr kleine Staaten erfolgreich sein könnten. Drittens dürften die Sezessionsstaaten nicht selbst gegen grundlegende Normen des Völkerrechts – das ius cogens – verstoßen. Auch für sie gilt somit u.a. das Gewaltverbot, das Verbot von Völkermord, Sklaverei und Folter und das Gebot, die Menschenrechte zu achten.
Klassischerweise leitet die Völkerrechtswissenschaft aus dem Selbstbestimmungsrecht des Art. 1 Nr. 2 UN-Charta das Recht auf Sezession zur Entkolonialisierung ab. Sezessionsbewegungen außerhalb des kolonialen Zusammenhangs wurden kaum als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts behandelt. Dies sieht Paulus skeptisch. Eine geografische Trennung als Voraussetzung für ein Sezessionsrecht sei schwer zu vertreten. Zudem habe das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag von 1973 aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht auf Wiedervereinigung abgeleitet und sei damit über den Entkolonialisierungsansatz hinausgegangen.
Paulus wies in seinem Vortrag darüber hinaus auf eine moderne Tendenz hin, die beim Zerfall Jugoslawiens entstand: die „remedial secession“ in Fällen der krassen Diskriminierung oder Unterdrückung eines Bevölkerungsteils – also eine „Abhilfe-Sezession“ bzw. die „Sezession als Notwehrrecht“ für die unterdrückte Gruppe. Grundlage für diese Ansicht ist Prinzip V Abs. 7 der Friendly-Relations-Declaration der UN-Generalversammlung:
Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten, die sich gemäß dem oben beschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebietes ohne Unterschiede der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt, ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.
Im Umkehrschluss zu diesem Prinzip schlussfolgern die Vertreter der „remedial secession“, dass eine Volksgruppe ein Recht auf Abspaltung hat, wenn die betreffende Regierung ihre Bevölkerung nicht mehr repräsentiert. Typischerweise kommt es in solchen Situationen zu schweren Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen wie dem Ausschluss von Wahlen, politisch motivierten Vereinigungs- und Versammlungsverboten, Hausarresten und Inhaftierungen. Bei Umkehrschlüssen ist jedoch Vorsicht geboten. Sie sind nicht immer ein zutreffendes Auslegungsmittel. Auch Paulus betonte, dass die „remedial secession“ prekär bliebe und dass sie die absolute Ausnahme darstellen solle. Zuvor müssten alle anderen Mittel zur Beilegung des Konflikts zwischen Mutterstaat und Sezessionsgruppe ausgeschöpft sein.
Gegner der „remedial secession“ wenden ein, dass die Formulierung „ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe“ klar auf den kolonialen Kontext abstelle.
Außerdem gibt es tatsächlich keinen von der Staatengemeinschaft allgemein anerkannten Fall einer erfolgreichen „remedial secession“. Das aktuellste Beispiel ist die Ukraine: Obwohl der ukrainische Staat massive Gewalt gegen die separatistischen Bewegungen im Osten des Landes ausübt, bejaht die Staatengemeinschaft nicht automatisch ein Sezessionsrecht des Ostens. Die Grenzen der zulässigen Zwangsausübung eines Staates gegenüber seinen Bevölkerungsgruppen sind unscharf und der Zeitpunkt, wann eine „Notwehrsezession“ zulässig wird, daher nicht eindeutig zu bestimmen.
Selbst die Abspaltung des Kosovo 2008 wird nicht von allen Staaten anerkannt. Einerseits geschahen dort Menschenrechtsverletzungen, was für eine „remedial secession“ spräche. Andererseits war nicht sichergestellt, dass die Institutionen des Kosovo zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung tatsächlich bereits effektive und unabhängige Gewalt über ihr Territorium ausübten. Somit bleibt die Frage ungeklärt, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen nicht alle Voraussetzungen einer „remedial secession“ gleichzeitig vorliegen.
Innerhalb der Europäischen Unionen gibt es bislang keine einheitliche politische Linie. Im Endeffekt sollte jeder Mitgliedstaaten selbst über seine Beziehungen zum Kosovo nach nationaler Praxis entscheiden. Somit ging hier Politik vor Völkerrecht bzw. traditionelle Staatlichkeits- und Anerkennungskriterien.
Paulus schränkte in seinem Vortrag das Recht auf „remedial secession“ weiter ein: Bevor eine legitime Sezession stattfinden könne, sei ein demokratischer Abstimmungsprozess notwendig. Die genauen Anforderungen an die Information der Bevölkerung im Vorhinein, an die Mehrheitserfordernisse bei der Abstimmung und an die Möglichkeit, Referenden zu wiederholen, sind dabei nicht klar – und laut Paulus auch nicht vom Völkerrecht, sondern vom jeweiligen Verfassungsrecht zu bestimmen. Klar ist, dass die Hürden hoch sind. Als Musterbeispiel nannte Paulus das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland 2014, das im Einvernehmen mit London und in einem geordneten demokratischen Prozess geschah.
Doch leider herrscht bei Weitem nicht immer Einigkeit zwischen dem Mutterstaat und den Sezessionsgruppen. Viel typischer ist die Situation der Krim, die zwar ebenfalls ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt hat, das jedoch international aufgrund seines Schein-Charakters und fehlender Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht anerkannt wird.
Im Ergebnis scheint es problematisch, ein allgemeines völkerrechtliches Sezessionsrecht außerhalb des Entkolonialisierungskontextes aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker abzuleiten. Außer bei evidenten Verstößen gegen das ius cogens kann das Völkerrecht sich hinter verfassungsrechtlichen Vorgaben und politischen Entscheidungsprozessen verstecken. Normative Kriterien des Völkerrechts sind Weichenstellungen und Rahmenbedingungen, die aber, wie im Fall Kosovo, zugunsten politischer Interessen missachtet werden können. In jedem einzelnen Fall muss man zwischen den Selbstbestimmungsinteressen der Sezessionsgruppen und der territorialen Integrität des Mutterstaates abwägen.
„Das Völkerrecht kann nur Hilfestellung für Einigungswillige geben – die Politik ersetzen kann es nicht“, stellte Paulus am Ende seiner Rede richtig fest. Da es völkerrechtlich gesehen eines demokratischen Abstimmungsprozesses für die Feststellung der Unabhängigkeit bedarf, kann ein legitimer Sezessionsprozess praktisch nur zwischen einigungswilligen Parteien stattfinden. Auf Konflikte über die Zulässigkeit von Referenden, deren Ablauf etc. gibt das Völkerrecht keine allgemeine Antwort – solange nicht gegen das Gewaltverbot verstoßen wird. Diese Konflikte müssen Verfassungsrecht und Politik lösen.
EIn ganzer Artikel zum Selbstbestimmungs- und Sezessionsrecht ohne Erwähnung von Art. 1 I IPbpR bzw. IPwskR – ernsthaft?
also müssen Völker, welche mal durch andere Völker und/oder Staaten erobert wurden, nun für immer in diesen Staatsverbund verbleiben?