“Das Völkerstrafrecht ist aus der Weltpolitik nicht mehr wegzudenken”
20 Jahre Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und über 10 Jahre Internationaler Strafgerichtshof: Was ist Ihre persönliche Bilanz aus der Arbeit des Jugoslawientribunals und des Gerichtshofs?
Das Allerwichtigste ist, dass diese Institutionen überhaupt existieren. Das ist bereits ein riesiger rechtspolitischer und völkerstrafrechtlicher Fortschritt. Während der Zeit des Kalten Krieges war an solche Institutionen überhaupt nicht zu denken. Deswegen ist ihr Dasein eine enorme Errungenschaft. Natürlich war die Gründung des Jugoslawientribunals durch den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen damals ein Sprung ins kalte Wasser. Keiner wusste genau, wie ein solches Tribunal eigentlich funktionieren sollte. Aber im Ergebnis ist das Tribunal ein großer Erfolg und das Völkerstrafrecht eigentlich nicht mehr aus der Weltpolitik wegzudenken, auch wenn es historisch gesehen noch ganz am Anfang steht und ein gut zu pflegendes Pflänzlein ist.
Also ist der Grundsatz, dass rechtsförmige Institutionen über die strafrechtliche Verantwortung von Individuen entscheiden, mittlerweile im Völkerrecht verankert?
„The end of impunity – das Ende der Straflosigkeit“ – so lautete ein Slogan vieler politischer Bewegungen, vor allem der Nichtregierungsorganisationen. Diese Bewegung hat lange dafür gekämpft, dass nicht nur die Handlanger in vorderster Reihe für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, sondern gerade die Befehlshaber, und zwar unabhängig von ihrer Position oder ihrem Rang, sei es in der Armee, der Polizei oder der Politik, bis hin zu Staatsoberhäuptern. Um zu erklären, welche Auswirkung das Völkerstrafrecht hat, vergleiche ich es gerne mit entsprechenden nationalen Zusammenhängen. Wir müssen zum Beispiel in Deutschland feststellen, dass viele Straftaten begangen werden. Aber nicht alle werden entdeckt, noch weniger werden strafrechtlich verfolgt und schon gar nicht alle abgeurteilt. Und dennoch: Die Vorstellung, dass es kein Strafrecht, keine strafrechtlichen Institutionen in Form von Gerichten oder der Staatsanwaltschaft gäbe, wäre in einem nationalen Zusammenhang unvorstellbar und würde in der Anarchie enden. Wir sind jetzt am Beginn einer Phase, wo dies auch auf internationaler Ebene gilt. Es wurden sowohl materielles Recht als auch entsprechende Institutionen in Form von Gerichten und Anklagebehörden geschaffen. Das ist ein entscheidender Schritt. Das ist natürlich alles noch sehr unvollkommen, aber diese Anfänge sind bereits eine große Errungenschaft und ich hoffe sehr, dass sich diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzt.
Vor Kurzem hat die Afrikanische Union erfolglos versucht, die laufenden Strafverfahren gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta und Vizepräsident William Ruto auszusetzen. Zeigt sich hier die politische Seite des Völkerstrafrechts? Lassen sich Recht und Politik an dieser Stelle überhaupt trennen?
Die Staatengemeinschaft, die Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof ins Leben ruft, muss sich gleichzeitig klarmachen, dass es dann rechtliche Regelungen gibt und sie muss diese Regeln akzeptieren. Dazu gehört auch, dass die Staatengemeinschaft die Unabhängigkeit der von ihr geschaffenen Institutionen akzeptieren muss. Natürlich können Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof unter anderem auch durch den Weltsicherheitsrat ausgelöst werden und dann bedarf es schon bei der Frage, ob diese Verfahren eingeleitet werden, einer politischen Meinungsbildung. Insofern gibt es sicher Elemente politischer Entscheidungen im Völkerstrafrecht. Auch die Einrichtung eines Ad-hoc Tribunals, wie etwa des Jugoslawientribunals, ist eine politische Entscheidung.
Das Verfahren selbst aber, und das ist meine Überzeugung, ist kaum beeinflusst durch politische Überzeugungen. Dass politische Einflussnahme auf den Verlauf einzelner Verfahren unmittelbar Auswirkungen gehabt hätte, ist mir nicht bekannt. Das ist auch wichtig, um die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit zu wahren. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung, damit strafrechtliche Verfahren funktionieren. Ich hoffe sehr, dass Staaten begreifen, dass sie gut daran tun, mit solchen Gerichten zusammenzuarbeiten und diese zu unterstützen.
Oft wird von einer „abschreckenden Wirkung“ des Völkerstrafrechts gesprochen. Sehen Sie ein präventives Element im Völkerstrafrecht? Schreckt es Einzelne ab?
Jedenfalls werden es Staaten, die früher ohne Weiteres ehemalige Kriegsverbrecher aufgenommen, ihnen Asyl gewährt und Zugang zu ihren Vermögenswerten verschafft haben, in Zukunft schwer haben, diese Praxis aufrecht zu erhalten. Darin zeigt sich schon eine abschreckende Wirkung. Wenn jemand von der internationalen Strafjustiz angeklagt und strafrechtlich verfolgt wird, dann können Staaten nicht einfach dieser Person Schutz bieten, ohne dass dies auf der internationalen Bühne zumindest politische Konsequenzen hätte. Das ist mittlerweile im allgemeinen Bewusstsein der Staatengemeinschaft angekommen. Ob auch Einzelne abgeschreckt werden, lässt sich nur schwer sagen. Aber das ist im nationalen Strafrecht ja nicht anders. Ein Krimineller lässt sich ja auch nicht durch die Strafandrohung von seiner Tat abhalten. Gleichwohl wird auch bei einzelnen Tätern im Hinterkopf sein: es gibt ein Restrisiko, doch erwischt zu werden. Dieses Restrisiko spielt natürlich eine Rolle, und seit der Verhaftung Pinochets gibt es ein solches Restrisiko nun auch auf internationaler Ebene. Das ist ein großer Fortschritt. Aber es wird sicher noch lange dauern, bis die internationale Strafjustiz perfekt funktionieren wird, wenn sie es denn je tun wird. Keine Justiz funktioniert perfekt.
Das Jugoslawientribunal neigt sich mit seiner Arbeit dem Ende zu. Kann man Bilanz ziehen, Lehren vielleicht, für die weitere Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs?
Ich möchte nicht so anmaßend sein, zu meinen, dass nun alle von unserer Institution, dem Jugoslawientribunal, etwas lernen können. Eines der großen Probleme unserer Arbeit ist die Länge der Verfahren, die sich oft über mehrere Jahre hinziehen. Ich habe zwar keinen Vorschlag, wie man die Verfahrensdauer reduzieren könnte, aber das ist sicherlich ein Problem. Ich wünsche mir, dass der Internationale Strafgerichtshof hier Mittel und Wege findet, seine Verfahren insbesondere im Interesse der Opfer zu beschleunigen. Für die Opfer ist es – etwa bei uns am Jugoslawientribunal – schon schwierig zu akzeptieren, dass vor 20 Jahren im ehemaligen Jugoslawien Kriegsverbrechen begangen wurden und manch wichtiges Verfahren jetzt erst durchgeführt wird. Das ist schwer zu vermitteln. Aber ich weiß auch nicht, mit welchem Instrumentarium das zu beschleunigen wäre. Das gilt insbesondere dann, wenn mutmaßliche Täter sich der Strafverfolgung entziehen und erst nach vielen Jahren an das Tribunal überstellt werden.
Die wichtige Rolle, die dem Opferschutz zukommt, hat beim Internationalen Strafgerichtshof zu einer Institutionalisierung des Opferschutzes geführt. Opfer sind Beteiligte des Verfahrens und sind unter bestimmten Voraussetzungen zu entschädigen. Wie lässt sich Opferschutz mit dem strafrechtlichen Verfahren vereinbaren?
Ich bin eigentlich sehr froh, dass wir am Jugoslawientribunal Kompensationen und Entschädigungszahlungen nicht institutionalisiert haben. Die Verfahren sind so umfangreich, so vielfältig, dass dies eine zusätzliche Bürde sein würde, die nach meinem Gefühl eher Schwierigkeiten hervorbringt. Und ehrlich gesagt: Wir Richter als Strafrichter verschiedener Herkunft sind eigentlich überfordert mit der Frage nach der angemessenen Kompensation. Ich habe meine Zweifel, ob dem einzelnen Opfer eine individuelle finanzielle Kompensation wirklich hilft oder ob nicht wichtiger ist, dass die Staatengemeinschaft alles daran setzt, dass die Ursachen für solche Konflikte reduziert oder gar beseitigt werden durch verbesserte Infrastrukturen, verbesserte Bildung, good governance. Prävention ist letztlich das wichtigste Element. Die Idee des Opferschutzes ist eigentlich sehr begrüßenswert. Aber die Skepsis gegenüber einem internationalen Opferschutzmechanismus bleibt. Es ist nicht klar, inwieweit die geschaffenen Institutionen hier wirklich zu einer echten Befriedigung der Opfer führen.
Je nach Gericht unterscheiden sich die verfahrensrechtlichen Standards. Das Jugoslawientribunal orientiert sich am angloamerikanischen Recht und ist maßgeblich von den streitigen Parteien geprägt, der IStGH ist ein „Kompromiss“ zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem System, beim Libanon-Tribunal ist etwa die Möglichkeit vorgesehen, ein Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten durchzuführen. Glauben Sie, dass diese unterschiedlichen Verfahren eine Herausforderung für die Herausbildung eines allgemeinen Völkerstrafverfahrensrechts darstellen?
All diese Systeme haben natürlich ihre Vor- und Nachteile. Auch auf europäischer Ebene versuchen wir uns ja an der Rechtsvereinheitlichung. Aber bereits in Europa sieht man, dass erhebliche kulturell bedingte Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen bestehen. Auch hier wird sich schwergetan, etwa das britische Verfahrensrecht mit dem kontinentaleuropäischen Verfahrensrecht in Einklang zu bringen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns. Weil wir ja noch ganz am Anfang der Entwicklung des Völkerstrafrechts stehen, ist es vielleicht auch nicht schlecht, verschiedene Verfahrensarten auszuprobieren. Es wäre sicherlich hilfreich und nützlich – aber vielleicht ist es auch noch zu früh – eine sehr grundsätzliche Untersuchung darüber anzustellen, wie sich die Verfahren im Ergebnis unterscheiden. Man könnte da verschiedene Kriterien untersuchen: Wie unterscheiden sich je nach Verfahren die Erfolge bezüglich der Wahrheitssuche, der Sicherung eines fairen Verfahrens, der Verfahrensdauer? Die Arbeitsweisen der anderen Tribunale und Gerichte kann und möchte ich nicht beurteilen. Ich bedaure es allerdings außerordentlich, dass das Jugoslawientribunal in so großem Maße dem angloamerikanischen Recht verpflichtet ist, obwohl der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ja in einem klassisch kontinentaleuropäisch geprägten Land stattgefunden hat. Die Beteiligten, vor allem auch die Anwälte aus der Region, mussten erst mühsam lernen, wie das Verfahrensrecht am Jugoslawientribunal funktioniert. Das ist etwas problematisch. Man sollte versuchen, auch im Verfahrensrecht so nah wie möglich an den jeweiligen regionalen Rechtstraditionen zu bleiben, allerdings natürlich unter der Berücksichtigung der internationalen menschenrechtlichen Mindeststandards.
Es bleibt also noch viel zu tun im Völkerstrafrecht – was ist Ihre Vision für die nächsten 20 Jahre Völkerstrafrecht?
Vielleicht keine Vision, sondern eine Hoffnung: Ich hoffe sehr, dass trotz aller Kritik, die an den völkerstrafrechtlichen Institutionen geübt wird, die Staatengemeinschaft das völkerstrafrechtliche Instrumentarium ausbaut. Ad hoc-Tribunale wie das Ruandatribunal und das Jugoslawientribunal sind zeitlich begrenzt, ebenso wie gemischte Tribunale. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone etwa hat seine Arbeit im Wesentlichen beendet. Was bleibt, ist der Internationale Strafgerichtshof. Deswegen hoffe ich, dass keine weiteren Staaten versuchen werden, sich daraus zurückzuziehen. Andersrum wäre meine Vision, dass möglichst alle Mitglieder der Vereinten Nationen ihrer Verpflichtung nachkommen, Straflosigkeit nach Kräften zu bekämpfen und dazu gerade auch dem Rom-Statut beitreten und den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in diese wichtigen rechtsstaatlichen Institutionen durch die Staatengemeinschaft.
Die Fragen stellte Hannah Birkenkötter
Dieses Interview erschien zuerst auf dem Blog der AG Junge UN-Forschung.
Ein Problem der ganzen Tribunale ist sicher das Empfinden von Siegerjustiz. Die Sieger urteilen über die Verlierer. Die Starken über die Schwachen. Ein Vorwurf, an dem auch der Internationale Strafgerichtshof nichtr vorbeikommt (Kenia).
Ad-hoc-Tribunale halte ich für hilfreich und sinnvoll (auch wenn gerade hier das Siegerjustiz-Problem ganz besonders offenkundig wird). Die Frage ist für mich allerdings, ob beim IStGH die Vorteile die Nachteile (weltpolitisch) wirklich aufwiegen.
Früher konnte man schwankende Diktaturen u.a. auch dadurch beenden, dass man den Diktator mit einer netten Abfindung und seinem veruntreuten Vermögen irgendwo in ein sicheres Drittland ausgeflogen hat und er vorzugsweise in der Schweiz oder an der französischen Riviera seinen – meist nicht ganz freiwilligen – Ruhestand verbringen konnte (die afrikanische Geschichte hat da ja einige Beispiele). Das mag zwar aus Gründen der Gerechtigkeit nicht die schönste Lösung gewesen sein, aber politisch/diplomatisch sehr pragmatisch und opportun.
Mit der Internationalen Strafjustiz geht das so nicht mehr – denn welcher Diktator würde sich noch “ausfliegen lassen”, wenn ihm dort die Aussicht auf ein Gerichtsverfahren vor dem IStGH mit Haftstrafe, Konfiskation seines Vermögens, etc. etc.. droht? Statt dessen krallt man sich an der Macht so lange fest, wie es irgendwie geht, in der Hoffnung, die Sache aussitzen zu können – und das schadet in mehrfacher Hinsicht: Zum einen lassen sich Diktaturen nicht mehr so “problemlos” beenden wie früher, wenn es mal eng wird. Zum anderen führt es wohl dazu, dass schwankende Regimes die Repression erhöhen, um die Macht zu wahren, und am Ende im Regelfall nur noch durch Bürgerkrieg und blutige Revolten gestürzt werden können, die im besten Falle nur das Land, im schlimmsten Falle eine ganze Region destabilisieren.
Bestes Beispiel ist in meinen Augen der Sudan. Hier bin ich mir nicht sicher, ob man sich mit dem Internationalen Haftbefehl gegen al-Baschir wirklich einen gefallen getan hat. Denn warum sollte der Mann mit dieser Aussicht irgendwas anderes tun, als um jeden Preis zu versuchen, an der Macht zu bleiben? Ob die Lage in Syrien verbessert würde, würde es nicht die “Drohung” der Internationalen Strafjustiz geben, wenn Assad ausreisen würde, kann man wohl nicht beurteilen und dürfte je nach dem, ob man pro oder contra IStGH ist, wohl schwanken. Aber auch diesen Gedanken halte ich nicht für abwegig.
Im Fazit:
Gerechtigkeit ist ein hohes Gut, allerdings sehe ich das auf transnationaler Ebene problematisch, weil das eigentlich ein sehr politischer Raum ist, in dem in der Diplomatie viel mit schmutzigen Deals gearbeitet wurde – die führten am Ende vielleicht nicht zu allgemeiner Zufriedenheit, waren aber nicht selten einigermaßen effektiv. Und diesen Weg hat man sich durch den IStGH, der aus moralischer und rechtlicher Perspektive sicher der saubere und richtigere Weg ist, abgeschnitten – ob das im Ergebnis ein Gewinn für die betroffenen Nationen, Regionen und Völker ist, halte ich zumindest für sehr fragwürdig.