13 May 2019

Vom Ende realitätsblinder Typisierungen: Nichteheliche Familie und Stiefkindadoption

Es gibt Nachwuchs im Kreise der Senatsjudikate des BVerfG zur Ausgestaltung des Familienrechts. Mit der kürzlich ergangenen Entscheidung zur „Stiefkindadoption“ hat die Leitentscheidung zur „Sukzessivadoption“ aus dem Jahre 2013 ein jüngeres Geschwisterkind erhalten. Der Gesetzgeber muss im Adoptionsrecht erneut nachbessern. Der vollständige Ausschluss der zur gemeinsamen Elternschaft führenden Stiefkindadoption in nichtehelichen Lebensgemeinschaften verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Denn durch ihn werden Kinder in nichtehelichen Stiefkindfamilien ohne hinreichenden Grund schlechter gestellt als Kinder in ehelichen Stiefkindkonstellationen. Nur ihnen versagt der Gesetzgeber bisher ausnahmslos, selbst eine bereits gefestigte soziale Beziehung zu ihrem Stiefelternteil durch eine Adoption auch rechtlich abzusichern.

Bereits ein erster Blick in ihr noch junges Antlitz verrät es: Die neue Entscheidung zur „Stiefkindadoption“ teilt mit ihrer älteren Schwester mehr als bloße Familienähnlichkeit. Der Erste Senat setzt mit ihr konsequent seine jüngere Rechtsprechungslinie im Familienverfassungsrecht fort. Umso überraschender ist es daher, dass sowohl der BGH wie auch die Mehrzahl der im Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen Stellungnahmen von der Verfassungsmäßigkeit des generellen Ausschlusses der Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien ausgegangen waren. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnenswert, sich anhand der aktuellen Entscheidung noch einmal dreier Charakteristika der neueren Rechtsprechungslinie zu vergewissern, die das moderne Familienverfassungsrecht entscheidend prägt: 

1. Diskriminierungsrechtliches Prüfungsprogramm, freiheitsrechtlich angespitzt

Wie ihre große Schwester wird auch die Entscheidung zur Stiefkindadoption von einem im Schwerpunkt diskriminierungsrechtlichen Prüfungsprogramm geprägt. Hinsichtlich der Herleitung konkreter Ausgestaltungspflichten des Gesetzgebers aus den klassischen familienbezogenen Grundrechtsgehalten wahrt das BVerfG weiterhin Zurückhaltung.

Auf den Schutzgehalt des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG können sich vor erfolgter Adoption ohnehin weder Stiefvater noch Mutter berufen. Der Stiefvater ist vor der Adoption nicht Rechtsvater des Kindes und damit nicht Träger des Elterngrundrechts. Die Mutter wird in ihrem Elterngrundrecht durch die bloße Verhinderung der Adoption durch einen Dritten sachlich gar nicht berührt. Anders sieht es demgegenüber in Bezug auf das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aus: Dieses wird durch den Ausschluss der zur gemeinsamen Elternschaft führenden Stiefkindadoption nach Auffassung des BVerfG zwar „berührt“, weil in nichtehelichen Familien der adoptionswillige Stiefelternteil nicht neben der Mutter in die rechtliche Elternstellung einrücken und mit dieser gemeinsam rechtliche Elternverantwortung für das Kind tragen kann. Jedoch fehlt es an einer „Verletzung“ des Grundrechts, weil dem Gesetzgeber für die Frage, wie er die Wahrnehmung der Pflege- und Erziehungsverantwortung effektiv sichert, ein beträchtlicher Spielraum verbleibt. Jedenfalls solange das Kind zumindest ein Elternteil hat, was nicht nur rechtlich zur Übernahme der Elternverantwortung verpflichtet, sondern auch tatsächlich hierzu bereit ist, ist das Kind „nicht elternlos“ und der Staat hat seine Gewährleistungspflicht erfüllt. In gleicher Weise sieht das BVerfG auch das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG zwar als „berührt“ an, weil ohne Gewährung elterntypischer Befugnisse an den Stiefelternteil die beiden Partner in der Familie die Erziehungsaufgaben nicht ohne Weiteres gleichberechtigt wahrnehmen könnten. Ein Anspruch auf Einräumung der vollen rechtlichen Elternstellung folgt aus Art. 6 Abs. 1 GG dennoch nicht. Die gegenteilige Antwort hätte nicht nur die grundrechtsdogmatischen Weichenstellungen innerhalb des Elterngrundrechts, sondern damit zugleich jede sinnvolle Abgrenzung zwischen Art. 6 Abs. 1 und 2 GG untergraben.

Aus der freiheitsrechtlichen Prüfung folgt daher auf den ersten Blick nur: Die Stiefkindadoption ist kein grundrechtlich gebotenes Rechtsinstitut. Der Gesetzgeber ist bei der Frage, ob und wie er sie rechtlich ausgestaltet, allein an das Gleichbehandlungsgebot gebunden. Dieses bildet dann auch Kern und Schwerpunkt der Prüfung. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Dynamik im Bereich Elternschaft und Familie ist der Rückzug auf ein diskriminierungsrechtliches Prüfungsprogramm gerade deshalb so charmant, weil diese stets eine vorherige Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers als Anknüpfungspunkt voraussetzt. Die wesentlichen Grundwertungen hinsichtlich der Einführung neuer Rechtsinstitute oder Regelungsmodelle bleiben so dem Gesetzgeber vorbehalten. 

Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass die ausführliche Anprüfung der familienbezogenen Freiheitsrechte kein bloßes l’art pour l’art gewesen ist. Vielmehr wird durch sie die gleichheitsrechtliche Prüfung quasi „freiheitsrechtlich angespitzt“. Gerade die „Berührung“ der für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes so wichtigen freiheitsrechtlichen Grundrechtspositionen führt dazu, dass das BVerfG im Rahmen der Gleichheitsprüfung einen strengen Prüfungsmaßstab anlegt, das Differenzierungskriterium also besonders gründlich auf seine Verhältnismäßigkeit hin untersucht. Auch im Familienverfassungsrecht erweist die Kategorie der „Berührung“ freiheitsrechtlicher Gewährleistungsgehalte damit ihre eigentliche Funktion erst im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Prüfung.

2. Zentrale Bedeutung der Grundrechtsperspektive des Kindes 

Gleichzeitig wird bereits mit dem Kindesgrundrecht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG die Prüfungsperspektive ganz zentral auf die Grundrechtsperspektive des Kindes eingestellt. Hierdurch wird die Vorenthaltung der Stiefkindadoption insbesondere im Hinblick auf die von ihr nachteilig betroffenen Kindesinteressen durchleuchtet und in ihrer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eingehend aufbereitet (vgl. Rdn. 67-74 der Entscheidung). 

Dieses setzt sich bei der diskriminierungsrechtlichen Prüfung fort: Auch hier steht ganz die Ungleichbehandlung von Kindern in nichtehelichen Stiefkindfamilien einerseits und den Kindern in ehelichen Stiefkindfamilien andererseits im Zentrum. Ob demgegenüber auch die adoptionsrechtliche Benachteiligung nichtehelicher Paare gegenüber Ehepartnern trotz der Möglichkeit, die Adoption nach einer Eheschließung zu realisieren, einen eigenständigen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellt, lässt das BVerfG am Ende hingegen ausdrücklich offen. 

Die vorrangige Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG aus Sicht der Grundrechtsperspektive Kindes ist natürlich kein Zufall. Denn auch sie führt zu einer zusätzlichen Verschärfung der Rechtfertigungsanforderungen: Aus Sicht des Kindes betrachtet, hat der Gesetzgeber nämlich mit dem Vorliegen einer Ehe an ein Differenzierungskriterium angeknüpft, auf welches das Kind selbst keinen Einfluss nehmen kann. Die Unverfügbarkeit des Differenzierungskriteriums gehört jedoch zu den klassischen Konstellationen, in der das BVerfG den Gründen für eine Ungleichbehandlung eingehender auf den Zahn fühlt. 

3. Strenger und typisierungskritischer Prüfungsmaßstab 

Es ist demnach insbesondere die ins Zentrum gerückte Grundrechtsperspektive des Kindes, die in der jüngeren Rechtsprechungslinie zum Familienverfassungsrecht wieder zu einem strengen Rechtfertigungsmaßstab führt. 

Der strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, die sich daraus ergibt, hielt die starre Beschränkung der Stiefkindadoption auf eheliche Familienkonstellationen dann auch zu Recht nicht stand. Der Gesetzgeber wollte mit ihr sicherstellen, dass Kinder nur in möglichst stabilen Familienverhältnissen von ihren Stiefeltern adoptiert werden. Damit verfolgte er zweifellos nicht nur einen legitimen, sondern gerade auch aus Sicht des Kindeswohls wichtigen Zweck: Nur in längerfristigen Paarbeziehungen wird ein Kind zu seinem Stiefelternteil regelmäßig eine so gefestigte soziale Eltern-Kind-Beziehung aufbauen können, dass deren rechtliche Absicherung durch die Adoption selbst dann als regelmäßig kindeswohldienlich bewertet werden kann, wenn man das Szenario einer späteren Trennung der Eltern mitbedenkt. Als tatbestandliche Anknüpfung war die Ehe damit bereits nach der Konzeption des Gesetzgebers primär Mittel im Dienste des Kindesinteresses an stabilen Familienstrukturen, nicht Ausdruck einer gesetzgeberischen Privilegierung des Ehestatus per se. Dass es dem Gesetzgeber auch in Zukunft unbenommen bleibt, auf diese Weise typisierend an die „Ehe“ als Indikator für die Stabilität einer Paarbeziehung anzuknüpfen, hat das BVerfG sogar im 4. Leitsatz ausdrücklich klargestellt. 

Zum verfassungsrechtlichen Problem wurde die typisierende Anknüpfung an die Ehe im vorliegenden Kontext erst durch ihre Ausschließlichkeit. Bereits die Familiensituation der Beschwerdeführer, die der Verfassungsbeschwerde zugrunde lag, macht anschaulich, dass sich die nichteheliche Familie heute kaum mehr pauschal als Hort der Instabilität und des Wankelmutes begreifen lässt, die dem stabilen Idyll der ehelichen Elternverbindung kategorisch entgegengesetzt werden kann. Dort hatte nach dem Tod des ehelichen Vaters die Mutter mit ihren beiden Kindern bereits sechs Jahre mit ihrem neuen Lebensgefährten in einer nichtehelichen Familie zusammengelebt, bevor sie den Adoptionsantrag stellten. Aus der Verbindung war zudem bereits ein gemeinsames Kind hervorgegangen. Von einer Ehe hatten Mutter und Stiefvater nur deshalb abgesehen, weil sie den Verlust der Witwenrente der Mutter bedeutet hätte, die von ihnen für die Sicherung des Lebensunterhalts als wesentlich angesehen wurde.

Allgemeiner konstatiert nunmehr auch das BVerfG unter Verweis auf umfangreiches statistisches Datenmaterial nüchtern, dass nicht nur „die tatsächliche Bedeutung der nichtehelichen Familie als weitere Familienform neben der ehelichen Familie erheblich zugenommen hat“, sondern dass „angesichts der zunehmenden Zahl“ auch außer Frage stehe, dass „nichteheliche Stiefkindfamilien existieren, in denen die Beziehung der Eltern langfristig angelegt und tatsächlich stabil ist“ (Rdn. 98 f.). 

Vor diesem Hintergrund schoss der Gesetzgeber mit der ausnahmslosen Begrenzung der Stiefkindadoption auf eheliche Familien weit über das Ziel hinaus. Denn mit der Regelung wurden zugleich auch alle nichtehelichen Stiefkindfamilien ausgeschlossen, in denen die Partnerschaft der Eltern stabil ist und aller Voraussicht nach auch stabil bleiben wird. Dass es auch zielgenauer geht, illustrierte das BVerfG mit einem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus, der in seinem Umfang auf einen gesunden rechtsvergleichenden Appetit schließen lässt. Zielgenauer könnte der Gesetzgeber beispielsweise sein Regelungsziel verfolgen, wenn er neben den ehelichen auch solchen nichtehelichen Elternverbindungen den Zugang zur Stiefkindadoption gewährte, die aufgrund des Vorliegens weiterer Stabilitätsindikatoren (z.B. bisheriger Dauer der Beziehung) oder einer konkreten Prognose im Einzelfall ein hinreichendes Maß an Stabilität auch für die Zukunft erwarten lassen. 

Etwas unschlüssig, ob es vor diesem Hintergrund im vorliegenden Fall nicht bereits an der Geeignetheit bzw. Erforderlichkeit der Regelung fehlt, verneint das BVerfG dann im Ergebnis jedenfalls die Angemessenheit: Die Nachteile, die Kindern in stabilen nichtehelichen Stiefkindfamilien durch den kategorischen Ausschluss der Stiefkindadoption im Einzelfall drohen, stehen demnach in keinem Verhältnis zu dem sich mit dem generellen Ausschluss gegenüber konkreten Stabilitätsprognosen im Einzelfall ggf. zu erzielenden Mehr an Schutz. Der erforderliche Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption lasse sich „hinreichend wirksam mit einer auf konkretere Stabilitätsprognosen abstellenden Adoptionsregelung sichern“. In deren Rahmen ist der Gesetzgeber freilich nicht gehindert, an nichteheliche Lebensgemeinschaften „solche Stabilitätserwartungen zu stellen, wie sie Ehen berechtigterweise entgegengebracht werden dürfen“. 

Damit sind Typisierungen auch im Familienrecht zwar weiterhin grundsätzlich möglich. Das BVerfG weist ausdrücklich darauf hin, dass sie etwa dann in Betracht kommen, wenn eine Regelung über ungewisse Sachverhalte (z.B. Stabilität einer Paarbeziehung) zu treffen ist, die sich selbst bei detaillierter Einzelfallbetrachtung im familiengerichtlichen Verfahren nicht mit Sicherheit bestimmen lassen. Jedoch unterliegt die Verwendung von Typisierungen gerade im Kindschaftsrecht strengen verfassungsrechtlichen Grenzen. Greift der Gesetzgeber hier auf belastungsintensive Typisierungen zurück, ohne zugleich Ausnahmeregelungen bzw. die Möglichkeit einer einzelfallorientierten familiengerichtlichen Entscheidung vorzusehen, wird eine solche Regelung regelmäßig keine Aussicht auf Bestand mehr haben. Für familienrechtliche Typisierungen, denen wie im vorliegenden Fall nicht einmal mehr ein realitätsgerechtes Bild der Wirklichkeit zugrunde liegt, gilt dies erst recht. 


One Comment

  1. Holger Thu 16 May 2019 at 18:03 - Reply

    Abstrakt und aus Sicht des Kindes betrachtet ist das sicher ein positives Urteil. Aber im konkreten Klagefall ist es m.E. klare Rosinenpickerei des Klägerpaares:

    “Von einer Ehe hatten Mutter und Stiefvater nur deshalb abgesehen, weil sie den Verlust der Witwenrente der Mutter bedeutet hätte.”

    Die Konzeption der Witwenrente ist aus heutiger Sicht ebenso “realitätsblind”, da Rentenbeginn und -wegfall nur von einer alten bzw. neuen Ehe abhängt. Damit werden zunächst Verheiratete gegenüber anderen Paaren durch die gesetzliche Rentenversicherung bevorzugt abgesichert, bei eingetretenen Todesfall dann aber Witwen, die nichteheliche Partnerschaften eingehen, gegenüber erneut Heiratenden bevorzugt. Die Klägerin und ihr Partner nutzen beide dieser Privilegien und erklagen sich zusätzlich das gesetzlich bisher nur Ehen zustehende Stiefadoptionsrecht.

    Die Witwenrente ist dazu gedacht, den materiellen Absturz durch den Tod des (potenziell alleinverdienenden) Partners bis zu einer etwaigen neuen Partnerschaft auszugleichen, und nicht als dauerhaftes “bedingungsloses Grundeinkommen” für ein Paar in einer festen Beziehung.

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