Vom Recht der Opposition auf Oppositionsrechte
Muss die Mehrheit der Minderheit genügend Rechte geben, dass es in Deutschlands Demokratie eine effektive Opposition gibt? Darüber wird morgen vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts mündlich verhandelt. Die Fraktion DIE LINKE hatte ein Organstreitverfahren angestrengt, um geklärt zu wissen, ob die derzeitigen Quoren für die Oppositionsrechte im 18. Deutschen Bundestag verfassungsmäßig sind.
In dieser Legislaturperiode entfallen aufgrund der momentanen Mehrheitsverhältnisse 127 der 631 Sitze auf die Oppositionsfraktionen, was etwa einem Anteil von 20 Prozent entspricht. Selten war die Opposition im Bundestag so klein. Dies führt dazu, dass die Abgeordneten der Fraktionen DIE LINKE sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die im Grundgesetz verankerten Quoten für die Ausübung klassischer Minderheiten- und Oppositionsrechte nicht erreichen. Dabei handelt es sich vor allem um Antragsrechte im Bundestag, etwa eine Subsidiaritätsklage zu erheben, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen oder eine abstrakte Normenkontrollklage einzulegen. Diese Rechte sind darüber hinaus auch größtenteils in einfachen Gesetzen geregelt und werden durch weitere an Quotenregelungen gebundene einfachgesetzliche Minderheitenrechte ergänzt.
Aufgrund dessen brachten die Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie DIE LINKE am 29. Januar 2014 einen Gesetzesentwurf zur „Sicherung der Oppositionsrechte in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages“ ein. Dieser sah zunächst die Änderung von sechs einfachen Gesetzen dahingehend vor, dass für die Dauer der 18. Wahlperiode die in den Gesetzen festgelegten Minderheitenrechte von mindestens zwei Oppositionsfraktionen gemeinsam ausgeübt werden können. Auch die Fraktionen der Bundesregierung reagierten auf die Missstände in Hinblick auf die Oppositionsrechte und beantragten am 11. Februar 2014 eine Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Doch damit nicht genug: die Fraktion DIE LINKE brachte schließlich am 18. März 2014 einen weiteren alleinigen Entwurf ein, der eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes in den Artikeln 23, 39, 44, 45a, 93 vorsah, wonach die Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung stellen, die besagten Minderheitenrechte ausüben kann.
Der Bundestag lehnte jedoch die beiden Gesetzesentwürfe der Oppositionsfraktionen ab und beschloss stattdessen die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages, die um § 126a erweitert wurde. Dieser enthält nun für die 18. Wahlperiode eine Sonderregelung, wonach bestimmte Minderheitenrechte im Bundestag von mindestens 120 Abgeordneten ausgeübt werden können und bestimmte Minderheitenrechte in den Ausschüssen jeweils allen Ausschussmitgliedern der nicht an der Bundesregierung beteiligten Fraktionen zustehen. Der neu eingefügte Paragraph lässt allerdings die Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle unberührt.
Für den Kompromiss waren die große Koalition sowie die Grünen, während sich die Linke enthielt. Sie hielt die neuen Regelungen für nicht ausreichend. Aufgrund dessen begehrt die Fraktion DIE LINKE nun im Organstreitverfahren festzustellen, dass der Bundestag gegen das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG und die Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems verstoßen hat. Sie ist der Ansicht, dass der neu eingeführte § 126a verfassungswidrig sei, da zum einen von grundgesetzlichen Quoren nicht auf Ebene der Geschäftsordnung abgewichen werden dürfe und zum anderen die Regelungen nicht weitreichend genug seien. Sie macht geltend, dass gerade einer kleinen Opposition einklagbare effektive Mitwirkungs- und Kontrollrechte gegenüber der Regierung und der entsprechenden Parlamentsmehrheit zur Verfügung stehen müssten. Der grundgesetzlich festgeschriebene Grundkanon an Antragsrechten dürfe Oppositionsfraktionen in keinem Fall vorenthalten werden und nicht nur im Rahmen einer Geschäftsordnung festgelegt sein. Er müsse vielmehr auf einklagbaren Gesetzesänderungen beruhen.
Wo kein Verfassungskläger, da kein Verfassungsrichter
Insbesondere die Erhebung einer Normenkontrollklage, die es erlaubt Gesetze vor dem Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen zu lassen, muss auch für die Minderheitsfraktionen offen stehen. Auch wenn die abstrakte Normenkontrollklage durch die Bundestagsfraktionen in den letzten Jahren in der Praxis keine besonders bedeutende Rolle gespielt hat, ist sie ein mächtiges Kontrollinstrument gegenüber der Regierungsmehrheit, ohne das der Bundestag seine Funktion in der Gewaltenteilung nicht erfüllen kann. Wenn die Opposition potenziell verfassungswidrige Mehrheitsbeschlüsse nicht vor das Verfassungsgericht bringen kann, wird es – zumal wenn auch in den Ländern die Regierungsparteien überall mitregieren – niemand anders tun.
Wie das Verfahren ausgeht und wie sich das Bundesverfassungsgericht positioniert, ist offen. Auch wenn sich die beteiligten Parteien darüber einig sind, dass eine wirkungsvolle Opposition für einen demokratischen Staat bedeutsam ist, besteht Uneinigkeit darüber, wie die ihr grundgesetzlich garantierten Rechte gesetzlich verankert sein müssen. In einer anderen Klage der Fraktion DIE LINKE zu Minderheitenrechten im Bundestag hat das Bundesverfassungsgericht am 22.09.15 der Oppositionspartei den Anspruch auf Aufnahme in eine Arbeitsgruppe und informelle Gesprächsrunde im Vermittlungsverfahrens versagt (BVerfG v. 22.09.2015 – 2 BvE 1/11). Ob sich daraus allerdings eine Grundtendenz des Gerichts zur Frage von Oppositions- und Minderheitenrechten und somit eine Prognose für das anhängige Verfahren ableiten lässt, ist eher fraglich.
Der Ruf nach festen Quoren für parlamentarische Rechte geht insbesondere aus Erkenntnissen hervor, die aus der deutschen Geschichte nach der Weimarer Republik gezogen wurden. Sie sichern vor allem die Funktionsfähigkeit des Bundestags. Gegen die Aufweichung der derzeitigen verfassungsrechtlichen Regelungen spricht zudem, dass das Grundgesetz zu keiner Zeit dem Ausgleich unproportionaler Wahlergebnisse dienen sollte.
Allerdings kann die Rolle der Oppositionsfraktionen im Bundestag nicht wichtig genug eingeschätzt werden. Die Bundesrepublik hat in Art. 20 Abs. 2 ihres Grundgesetzes das Demokratieprinzip als elementaren Grundsatz verankert. Der Bundestag versteht sich als Ort der Meinungspluralität und offenen politischen Debatte. Dieser Funktion kann er allerdings nur ausreichend gerecht werden, wenn Minderheiten- und Oppositionsrechte vollständig und einklagbar auch auf verfassungsrechtlicher Ebene verankert sind.
Auf die Idee, der Ausbau gerichtlicher Normenkontrollkompetenzen könne sich auf das Demokratieprinzip berufen, kommt man auch nur in Deutschland.
Sollte sich der Trend zu großen Koalitionen verstetigen, sollte man aber über außerparlamentarische Kontrollrechte neu nachdenken, namentlich darüber, direkt demokratische Elemente ins GG integrieren.
Plebiszite helfen nicht unbedingt, wenn die BT-Mehrheit die Minderheitenrechte von Menschen angreift, die in der Bevölkerungsmehrheit auch keine besondere Sympathie/Solidarität erfahren. Auch hier sind aber z.B. abstrakte Normenkontrollen ein an sich geeignetes Korrektiv, neben Individualverfassungsbeschwerden, für die die Hürden teils jedenfalls faktisch aber zu hoch sind.
Ihr Punkt zu den Plebisziten ist richtig. Ob für die abstrakte Normenkontrolle aber wirklich anderes gilt, würde ich bezweifeln. Hätten Sie vielleicht ein Beispiel für mich? Gesucht würde eine Entscheidung des BVerfG, in der das Gericht
(1.) im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle
(2.) Minderheiten zu Seite gesprungen wäre, die in irgendeiner Weise etwas anderes sind als bloß die in einer konkreten Sachfrage politisch Unterlegenen (strukturelle Minderheiten?).
(Und in einem zweiten Teil könnten wir uns dann überlegen, ob damit ausgerechnet die DEMOKRATIE i.S.v. Art. 20 II GG gegen die parlamentarische Mehrheit geschützt wurde.)
Wäre das mit den Plebisziten denn so falsch?
Wenn man es nicht als direkte Entscheidung versteht, sehe ich darin kein Problem. Nämlich so, dass, in einem Falle wie diesem, das Volk als Megaphon fungiert für die unterbesetzte Opposition; Dass ein Sonderartikel/Gesetz sicherstellt dass sich im Fall der Fälle die Opposition direkt ans Volk wenden kann (inkl. Gegendarstellung eines Regierungsvertreters) sie aufzurufen, über eine Normenkontrolle abzustimmen. Die Opposition trägt ihren Fall vor, eine Gegendarstellung wird erwidert, und ein abschließender Apell (Opposition) leitet die Abstimmung ein, welche dann lediglich, bei entsprechender Mehrheit (51% ?!) eine Normenkontrolle einleitet; damit wäre nur Abhilfe geschaffen, und die eigentliche Kontrolle wäre wieder dort, wo sie hingehört, nämlich beim Verfassungsgericht.
Ist das denn so abwegig?
Es könnte allein schon hilfreich sein für ein stärkeres Demokratieempfinden, gerade in den bedenklichen Zeiten großer Koalitionen (in denen Minderheiten-Meinungen leider allzu schnell unter den Tisch fallen; ein Unding für jede humanistische Demokratie)
Dann wäre die relative Unabhängigkeit des Gerichts von politischen Grabenkämpfen freilich perdu. Würde ein solches “Antragsrecht des Volkes” das Gericht nicht so sehr unter Druck setzen, dass von der juristischen Eigenlogik seiner Entscheidungen nichts mehr übrig bliebe? Und wäre dann statt einer Entscheidung “dort, wo sie hingehört”, nicht eine Entscheidung direkt durch das Volk vorzuziehen?