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24 July 2020

Von Auslegung, Abwägung und Abwegen

Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof in seinem Paritätsurteil

Das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15. Juli 2020 zum sogenannten Paritätsgesetz sorgt derzeit für viel Kritik. Auch wenn diese oft eher politischer als rechtlicher Natur ist, zeigen nicht zuletzt die zwei Sondervoten der Richterin Licht und des Richters Petermann sowie der Richterin Heßelmann, dass es sich auch in juristischer Hinsicht um ein besonders streitbares Urteil handelt. Beide Sondervoten monieren unter anderem das Fehlen einer Güterabwägung. Tatsächlich betont der Gerichtshof zwar, dass ein Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze zwar verhältnismäßig sein müsse, eine Güterabwägung im klassischen Sinne sucht man jedoch vergebens. Viel mehr stützt sich das Urteil auf eine einfache Auslegung des Art. 2 Abs. 2 ThürVerf. Es stellt sich damit die Frage inwieweit das Urteil in dogmatischer Hinsicht überzeugen kann.

Der ThürVGH bejaht neben einem Eingriff in die Statusrechte der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG auch eine Beeinträchtigung der Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit der Wahl aus Art. 46 Abs. 1 ThürVerf durch das Paritätsgesetz. Zum einen verhindere das Gesetz die Wahl von Listen, die mit übermäßig vielen Frauen oder übermäßig vielen Männern besetzt sind, worin eine staatliche Beeinflussung der Wahl und damit eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Freiheit der Wahl liege. Sofern es zu gesetzlich vorgesehenen Teilzurückweisung nicht paritätischer Platzierungen aus den Listen nach § 30 Abs. 2 S. 5 ThürLWG kommt, würde zudem der Erfolgswert von Zweitstimmen entfallen, wenn die Partei aus diesem Grund weniger Mandate erhalten würden. Damit wäre auch der Grundsatz der Gleichheit der Wahl betroffen. Die Wahlrechtsgrundsätze gelten darüber hinaus auch bei der parteiinternen Aufstellung der Landeslisten (BVerfGE 89, 243 (251)). Stimmt ein Parteimitglied bei der Listenaufstellung für eine Liste, die mit den Vorgaben des Paritätsgesetz nicht vereinbar ist, so entfalle damit der Erfolgswert dieser Stimme. Die Freiheit der Wahl und die Gleichheit der Wahl sind als Wahlrechtsgrundsätze dabei zwar keine Grundrechte. Sie sind aber grundrechtsgleiche Rechte, deren Verletzung auch im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, Art. 93 I Nr. 4a GG. Wie bei der Prüfung einer Grundrechtsverletzung, ist im Falle der Beeinträchtigung der Wahlrechtsgrundsätze durch den Staat zu prüfen, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist und in diesem Rahmen auch, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde.

Verhältnismäßigkeit als Maßstab strukturierter Abwägung

Wird der Gesetzgeber tätig, so steht dahinter immer ein bestimmtes Ziel, auf das der Legislativakt hinwirken soll. Er möchte den vorgefundenen normativen und gesellschaftlichen Ist-Zustand in Richtung des von ihm angestrebten Soll-Zustands verändern. Wie dieser Soll-Zustand aussieht, bestimmt der demokratisch legitimierte Gesetzgeber dabei zunächst einmal selbst. Ihm kommt eine weitgehende Gestaltungsfreiheit bei der Frage zu, welche Ziele mit dem Gesetz verfolgt werden sollen. So verfolgte der Thüringer Gesetzgeber mit der Änderung des Thüringer Wahlgesetzes das Ziel, die gleichberechtigte demokratische Teilhabe von Frauen zu fördern. So frei der Gesetzgeber grundsätzlich bei der Bestimmung seiner Ziele ist, so sehr binden ihn bei der Wahl des Mittels die Verfassung und insbesondere die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG). Diese sind ihrer traditionellen Funktion nach Abwehrrechte des Einzelnen, die diesen vor dem Einwirken staatlicher Gewalt schützen soll. Dabei muss umfassend geprüft werden, ob für das konkrete Gesetz die subjektiven Rechte des Einzelnen oder das Interesse des Staates überwiegt, wobei sich in den seltensten Fällen eindeutig bestimmen lässt, welcher der beiden widerstreitenden Rechtspositionen im Ergebnis der Vorrang zu gewähren ist.

Das Werkzeug für diese Prüfung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er stellt die beiden Rechtspositionen gegenüber und führt im Wege einer strukturierten Abwägung zu einem Ergebnis. Dabei ist das Ergebnis dieser Abwägung zwar das ausgewiesene Ziel der Verhältnismäßigkeitsprüfung, keineswegs aber der einzige Beitrag, den sie zur Auflösung der Kollision leistet. Durch die abgestufte, dogmatisch fixierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit steht auf der Haben-Seite neben dem Abwägungsergebnis auch der Abwägungsprozess. Das Abwägungsergebnis wird in diesem Prozess gestützt, indem es begründet und nachvollziehbar gemacht wird. In Bezug auf die juristische Ausbildung ließe sich insoweit eine gewisse Parallele zum Mathematik-Unterricht in der Schule ziehen: Das Ergebnis der Rechnung bzw. der Abwägung kann noch so richtig sein, die Punkte gibt es auf den Rechenweg bzw. die saubere, nachvollziehbare Prüfung der Verhältnismäßigkeit.

Auslegung statt Abwägung?

Nachdem der VerfGH einen Eingriff in Freiheit und Gleichheit der Wahl durch das Paritätsgesetz angenommen hat, wendet er sich der Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu. Hier betont der Gerichtshof eingangs im Rahmen der Maßstabsbildung noch ausdrücklich, dass es dafür erstens eines zwingenden Grundes bedarf und zweitens der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Anwendung findet: „So sind Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit infolge von Differenzierungen des Erfolgswerts nur unter Voraussetzungen gerechtfertigt, die in der Formel des ‚zwingenden Grundes‘ zusammengefasst sind. Dies sind solche Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Darüber hinaus müssen sie zu Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein; zudem richtet sich ihr erlaubtes Ausmaß auch nach der Intensität, mit der in das Recht auf Gleichheit der Wahl eingegriffen wird.“ (Thür. VerfGH, Urteil vom 15. Juli 2020 – 2/20, S. 33 f.)

Die Staatszielbestimmung des Art. 2 Abs. 2 ThürVerf stellt nach eingehender Prüfung des ThürVGH einen solchen zwingenden Grund dar. Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit lassen sich somit auf das Gleichberechtigungsgebot stützen. Unklar ist aber, wie vor allem auch das zweite Sondervotum der Richterin Licht und des Richters Petermann darlegt, warum der Gerichtshof im Anschluss an diese Feststellung keine Prüfung der Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt. Anstatt im Wege der Zweck-Mittel-Relation zu prüfen, ob es sich bei dem ParitätsG um ein zulässiges, weil geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel, handelt, wählt der Gerichtshof einen anderen Weg: Er legt Art. 2 Abs. 2 ThürVerf aus, wobei er sich auf zwei Auslegungsmethoden, die Auslegung anhand des Wortlauts und die historische Auslegung der Norm, beschränkt. Der Gerichtshof kommt dadurch zu dem Ergebnis, dass sich das ParitätsG nicht mit Art. 2 Abs. 2 ThürVerf rechtfertigen lässt. Mehr noch: Die Vorschrift verbiete im Kontext der historischen Auslegung sogar eine paritätische Quotierung der Landeswahllisten, sodass das Änderungsgesetz als Mittel in jedem Falle unzulässig sei, ohne dass es auf eine weitere Abwägung ankäme. Insbesondere die Umstände der Verfassungsgebung werden dabei vom Gerichtshof betont, wonach es Versuche gab, „eine ausdrückliche Regelung über die Pflicht zu einer hälftigen bzw. paritätischen Repräsentanz der Geschlechter aufzunehmen.“ Diese Versuche scheiterten. Die Entstehungsgeschichte zwinge den Gerichtshof deshalb zu der Folgerung, dass Art. 2 Abs. 2 ThürVerf dem Gesetzgeber nicht die Möglichkeit eröffnen wollte, paritätische Quotierungen einzuführen (kritisch dazu Hong).

Das Ergebnis der Auslegung lautet damit, dass das Paritätsgesetz per se kein legitimes Mittel zur Zweckverfolgung sein könne. Das erklärt zwar, warum eine weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit unterbleibt, kann jedoch vor dem Hintergrund nicht überzeugen, dass zwischen der bewussten Nichtaufnahme in den Verfassungstext und dem ausdrücklichen Verbot eines Mittels durch die Verfassung ein gewichtiger Unterschied besteht: Aus letzterem kann eine unmittelbare Delegitimation des Mittels folgen, die eine weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit obsolet machen würde. Als Beispiel für ein solches Verbot wird regelmäßig das Zensurverbot aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG angeführt oder das Verbot der Todesstrafe aus Art. 102 GG, das dem Staat schon die Wahl dieser Mittel unter allen Umständen verbietet. Paritätische Quotierungen werden von der ThürVerf jedoch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Aus dem Prozess der Verfassungsgebung ergibt sich letztlich nur, dass sich der Verfassungsgeber dagegen entschieden hat, solchen Quotierungen Verfassungsrang einzuräumen – mehr aber auch nicht. Vor allem folgt daraus kein an den einfachen Gesetzgeber adressiertes absolutes Verbot, solche Quotierungen zu schaffen, solange damit nicht übermäßig in die Wahlrechtsgrundsätze und die Statusrechte der Parteien eingegriffen wird. Intention des verfassungsgebenden Gesetzgebers war es doch gerade eine über Art. 3 Abs. 2 GG hinausreichende Gleichstellungsverpflichtung zu schaffen. Da kann es kaum überzeugen, mit der Begründung, der verfassungsgebende Gesetzgeber sei nicht noch weitergegangen und habe der paritätischen Quotierung keinen Verfassungsrang eingeräumt, die inhaltlichen Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 2 ThürVerf womöglich hinter die des Art. 3 Abs. 2 GG zurückfallen zu lassen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Auslegungsergebnisse des Gerichtshofs in der Verhältnismäßigkeit, insbesondere in der Angemessenheit, durchaus eine Rolle spielen können. Nur dass sich allein aus dem Ergebnis der historischen Auslegung ergeben soll, dass die Verfassung des Freistaates Thüringen eine paritätische Quotierung von Landeslisten von vornherein ausschließt, ist fernliegend. Der Gerichtshof ersetzt hier Abwägung durch Auslegung. Das kann nicht überzeugen.


One Comment

  1. mq86mq Fri 24 Jul 2020 at 20:17 - Reply

    Die Wahlrechtsgrundsätze sind keine Abwehrrechte des Einzelnen. Sie haben zwar auch einen subjektivrechtlichen Gehalt, aber primär regeln sie die Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk. Insbesondere ist das Wahlgeheimnis nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Der Staat muss die Wahlrechtsgrundsätze auch schon unabhängig von Ansprüchen Einzelner gewährleisten.

    Dass ein »zwingender Grund« vorliegt, hat der VerfGH nicht gesagt. Er hat bloß gesagt, dass das nicht schon deshalb von vornherein ausscheidet, weil er ein Staatsziel betrifft, das mit Wahlen und demokratischer Staatsorganisation erstmal nichts zu tun hat. Von den beiden Voraussetzungen für den »zwingenden Grund« hält er die Legitimation durch die Verfassung auch in der Stoßrichtung im Grundsatz für gegeben, nicht aber das den Wahlrechtsgrundsätzen ebenbürtige Gewicht. Das begründet er in der Tat ziemlich sparsam und unsystematisch, aber die diesbezügliche Abwägung an sich ist auf Seite 42 schon vorhanden (mangelnde Konkretisierung im Verhältnis zu Anzahl, Bedeutung und Intensität der Beeinträchtigungen). Die Sondervoten setzen dem noch weniger entgegen. Die Verhältnismäßigkeit der konkreten Maßnahme im eigentlichen Sinn wär dann erst der nächste Schritt.

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