23 November 2020

Von der Ausnahme zum Alltäglichen

Sicherheitsgesetzgebung in der Krise

Das Sicherheitsrecht gilt als ebenso dynamisches wie instabiles Rechtsgebiet. Ein Grund hierfür ist, dass Sicherheitsgesetzgebung häufig anlassbezogen ist und auf Einzelereignisse reagiert. Die Spuren des Terroranschlags in Wien am 2.11.2020 waren kaum beseitigt, da legten sowohl die Österreichische Bundesregierung als auch die Europäische Kommission Entwürfe für neue Anti-Terror-Pakete vor: Geplant sind u.a. eine Präventivhaft und elektronische Aufenthaltsüberwachung für terroristische Gefährder, die Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft bei Doppelstaatsbürgern, die Schaffung einer Anti-Terror-Staatsanwaltschaft sowie eine Reform des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Auf europäischer Ebene steht demgegenüber das Aufbrechen der sicheren Ende-zu-Ende-Verschlüsselung (E2E) bei Messenger-Diensten wie Whatsapp, Signal oder Wire im Fokus, die den Sicherheitsbehörden seit Längerem ein Dorn im Auge ist. Beide Pakete sind weitere Bausteine einer Gesetzgebung, die auf konkrete Anlässe mit allgemeinen Gesetzen reagiert und auf diese Weise das Außergewöhnliche verallgemeinert, während das Normale denormalisiert wird.

Verallgemeinerung des Außergewöhnlichen

Realisiert sich eine Gefahrenlage, steigt der Handlungsdruck auf die zuständigen Gesetzgebungsorgane. Es wird reflexhaft nach mehr Sicherheit, neuer Sicherheitsarchitektur und erweiterten Sicherheitsbefugnissen gerufen. Gesetzesänderungen, -erweiterungen und -verschärfungen versprechen einfache Abhilfe, da sie im Unterschied zu Personalaufstockungen oder der Beseitigung von Vollzugsdefiziten kurzfristig und kostenlos umsetzbar sind. Mit ihnen können politisch Verantwortliche Handlungsstärke und Reaktionsschnelligkeit suggerieren und das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit kompensieren.

Zugleich ist der Wunsch nach allgemeingültigen, abstrahierungsfähigen Regelungen gerade in einem grundrechtssensiblen Bereich wie dem Sicherheitsrecht besonders groß: Die regelmäßig aufgrund eines bestimmten terroristischen Anlassfalls (hierzulande insbesondere der „Fall Amri“) geschaffenen neuen Polizei- und Sicherheitsgesetze tendieren dazu, Terrorismus und alltäglichere Gefahren gleichzusetzen. Ihre Regelungen werden auf vermeintlich oder tatsächlich ebenso gefährliche Personengruppen wie Amokläufer, kriminelle Rockergruppen, Hacker und andere Angreifer aus dem Cyberraum, Sexualstraftäter, Stalker, Hooligans oder prügelnde Ehepartner erstreckt. Gesetzesänderungen, die noch ausschließlich mit einer aktuellen terroristischen Bedrohungslage begründet wurden, führen zu gesetzlichen Regelungen, die sich tatbestandlich nicht auf terroristische Anschläge beschränken, sondern sogar Vandalismus erfassen (vgl. Art. 11 III BayPAG). Der ursprünglich begrenzte Terrorismusbezug war in der Entscheidung des BVerfG zum BKAG hervorgehoben (BVerfGE 141, 220, Rn. 112), die – ungewollt – als Blaupause für die Novellen der Länderpolizeigesetze herhalten musste. In letzteren findet diese Begrenzung nur unzureichend Widerhall. So ermöglicht der ebenfalls in Reaktion auf den Anschlag am Berliner Breitscheidplatz geschaffene § 34b I 3 PolG NRW Aufenthaltsvorgaben und Kontaktverbote allgemein zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person. Auf diese Weise öffnet der Gesetzgeber den vor dem Hintergrund einer außergewöhnlichen Bedrohung eingeführten Tatbestand für Phänomene des polizeilichen Alltags.

Denormalisierung des Normalen

Speziell im Sicherheitsrecht kann man generelle Fassungen des Normtextes rechtspolitisch gutheißen, weil hierdurch – zumindest vordergründig – der Eindruck eines Feindstraf- oder Sonderpolizeirechts für Terroristen vermieden wird. Die Wissenschaft begrüßt bisweilen die Generalisierungen und fordert – auch mit Blick auf ein neues Musterpolizeigesetz – weitere Verallgemeinerungen und Ausdehnungen der entsprechenden Tatbestände. Ob Sexualdelikte, ein beharrliches Nachstellen oder häusliche Gewalt in ihrer Wertigkeit einer terroristischen Gefahr gleichkommen und damit entsprechende Eingriffsmaßnahmen wie eine elektronische Aufenthaltsüberwachung, Kontaktverbote oder einen Präventivgewahrsam rechtfertigen können, darf indes bezweifelt werden. So schlimm das „Terrorregime“ eines Haustyrannen oder Stalkers für den Einzelnen auch sein mag, so wenig vergleichbar ist es mit der gesamtgesellschaftlichen Bedrohung durch islamistische oder rechtsextremistische Terrorgruppen oder Einzeltäter. Dies gilt für Hooliganismus und Vandalismus allemal, obschon die Krawalle in Stuttgart und Frankfurt im Sommer 2020 bisweilen irrig als Vorzeichen eines neuen Linksterrorismus gedeutet wurden.

Mehr noch: Indem der Normgeber außergewöhnlich weitreichende und außergewöhnlich engriffsintensive Präventionsbefugnisse, die aufgrund eines als außergewöhnlich empfundenen Anlassfalls geschaffen wurden, auf andere, als gleichwertig empfundene Szenarien und Zielgruppen erstreckt, veralltäglicht er die entsprechenden Maßnahmen. Mit der Generalisierung wird das, was als Ausnahmetatbestand für Gefährder und mutmaßliche Mitglieder von Terrorgruppen gedacht war, zu einem allgemeinen Maßstab für alltägliches polizeiliches Handeln. Die Trennung von Normal- und Ausnahmepolizeirecht, von Normal- und Ausnahmezustand wird hierdurch unterminiert (eingehend Barczak, Der nervöse Staat – Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2020, 453 ff.). Die Generalisierung verschleiert den ursprünglichen Ausnahmecharakter und besitzt eine Erleichterungs-, Beruhigungs- und Gewöhnungsfunktion. Sie erleichtert die Akzeptanz der ursprünglich außergewöhnlichen Maßnahme, da letztere sich nunmehr auf etwas angeblich Allgemeingültiges stützen lässt. Die Verallgemeinerung beruhigt zugleich das rechtsstaatliche Gewissen und führt zu einem Gewöhnungseffekt (Pieroth, VERW 53 (2020), 39 (51)), da sie in der abstrakt-generellen Form eines Parlamentsgesetzes und damit in der auf Allgemeinheit, Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit gerichteten Handlungsform der Normallage daherkommt. Die betreffenden Regelungen werden durch ihre dauerhafte Einschreibung in diese jedoch nicht harmloser (sondern lediglich verharmlost) oder normaler (sondern lediglich scheinnormalisiert) (vgl. Barczak, a.a.O., 129).

Im Rahmen einer verstärkt auf die Regelung exzeptioneller Szenarien und außergewöhnlicher Situationen ausgerichteten Gesetzgebung fungiert das Ausnahmedenken als Medium einer Denormalisierung der Rechtsordnung, im Gefolge dessen sich das Zentrum der Normalität ebenso kontinuierlich wie kleinschrittig zu verlagern droht. Die Ausnahme im Tatsächlichen wird auf diese Weise zum neuen gesetzlichen Regelfall (vgl. Barczak, a.a.O., 447 f.). Diese Lehre hätte man schon aus der Antiterrorgesetzgebung der 1970er und 80er Jahre ziehen können. Mit dem Verzicht auf ein politisches Sonderstrafrecht und der „bloßen“ Verschärfung des regulären Straf- und Strafverfahrensrechts sollte jeder äußere Anhaltspunkt einer befristeten Ausnahmegesetzgebung peinlichst vermieden und der Haltung Ausdruck verliehen werden, die Terroristinnen und Terroristen der RAF wie normale Kriminelle zu behandeln. Die als „Lex Baader-Meinhof“ oder „Lex RAF“ apostrophierten Regelungen änderten das Strafverfahrensrecht grundlegend, indem u.a. die Anzahl möglicher Verteidiger begrenzt (§ 137 I 2 StPO), das Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO) eingeführt sowie die Ausschließung eines Verteidigers (§§ 138a, 138b StPO), die Durchführung des Verfahrens in Abwesenheit der Angeklagten (§§ 231a, 231b StPO) und die Unterbrechung jedweder Verbindung zu anderen Gefangenen und der Außenwelt im Wege der Kontaktsperre (§§ 31 ff. EGGVG) ermöglicht wurden. Die ursprünglich aus Anlass des RAF-Terrorismus eingeführten Regelungen existieren nahezu ausnahmslos und in weitgehend unveränderter Form bis heute. Sie bildeten die Blaupause für die Terrorismusbekämpfungsgesetzgebung nach dem 11.9.2001 und haben die Normalität im Straf- und Strafprozessrecht dauerhaft verändert.

Gesetze der Angst

Die Generalisierung anlassbezogener Regelungen bildet ein typisches rechtspolitisches Reaktionsmuster. Dies gilt nicht nur im Bereich des Sicherheitsrechts und nicht erst seit gestern. Rechtspolitik ist häufig anlass- und ereignisgetrieben. Für die Sicherheitsgesetzgebung gilt dies jedoch in besonderer Weise. Eine ereignisgetriebene Normgebung wird hier zudem in besonderem Maße virulent, denn es wird mit dem Polizei-, materiellen Straf- und Strafverfahrensrecht in Bereiche eingegriffen, die nach traditionellem Verständnis zum Kernbestand eines der Verhältnismäßigkeit verpflichteten Rechtsstaats zu zählen sind (Barczak, a.a.O., 37).

Dies wirkt auf die Technik von Gesetzgebung zurück und impliziert einen legislatorischen Qualitätsverlust: Gerade dort, wo regelmäßig hochrangige Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit, persönliche Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung oder der Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates auf dem Spiel stehen, treten die Gesetze der Angst an die Stelle der ebenso ökonomischen wie emotionslosen Rationalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. So ist empirisch erwiesen, dass in Westeuropa die Angst vor der terroristischen Bedrohung noch nie so groß wie heute war, obschon die Zahl der Todesopfer infolge terroristischer Anschläge seitens der ETA, IRA und RAF in den 1970er und 80er Jahren sehr viel höher lag (vgl. Global Terrorism Database). Die Rechts- und Sicherheitspolitik reagiert auf dieses Dilemma jedoch nicht mit seiner Offenlegung oder kommunikativen Bearbeitung, sondern statuiert immer neue terrorismusspezifische Interventionsbefugnisse, um diese alsdann zu verallgemeinern und auf andere Szenarien anzuwenden. Dass die bestehenden Regelungen zur effektiven Gefahrenbeseitigung nicht ausreichen, wird dabei typischerweise genauso wenig mit validen Daten nachgewiesen wie die Erforderlichkeit neuer Instrumente und Institute. Der Trend zur Gesetzesevaluation konnte dieser Entwicklung bislang keinen Einhalt gebieten (Barczak, a.a.O., 37).

Die Gesetzgebung im Bereich öffentlicher Sicherheit ist vielmehr Ausdruck einer dominanten Rückkopplungslogik zwischen gesellschaftlich wahrgenommener, medial reproduzierter Bedrohung und der Aktivierung staatlicher Institutionen. Dies belegt die COVID-19-Pandemie aktuell auf besonders nachdrückliche Weise: Wo die gefühlte Sicherheit gestört wird und das subjektive Unsicherheitsempfinden eine kritische Grenze erreicht, wird das Verlangen nach einem Akt, der die „verlorene“ Sicherheit per Federstrich „wiederherstellt“, schier überwältigend (Barczak, a.a.O., 429). Das permanente Streben nach Antizipation verspricht allenthalben eine frühzeitige Identifizierung von Risiken und damit die Verhinderung ihrer Realisierung. Gesetzgeberische Antizipation und normative Vorsorge sind Normalitätsproduzenten. Anomalität im Sinne eines ausgebrochenen Ausnahmefalls, einer eingetretenen Gefahr oder eines realisierten Risikos liegt außerhalb des Denkschemas eines Präventions- und Vorsorgestaates. Die tatbestandliche Antizipation nicht nur einer bestimmten, sondern aller möglichen Gefährdungs- und Risikolagen – und mag ihr Eintritt noch so unwahrscheinlich erscheinen – lässt sich vielmehr als der archimedische Punkt in seiner Funktionslogik begreifen (Barczak, a.a.O., 370). Vor diesem Hintergrund erscheint die Verallgemeinerung vorsorgender Regelungen rechtssoziologisch schlüssig und rechtspolitisch konsequent.

Gebote guter Gesetzgebung

Demgegenüber zwingt schon die Rechtsklugheit zu rechtspolitischer Besonnenheit und Zurückhaltung gegenüber Verallgemeinerungen, Verstetigungen und Veralltäglichungen des Anlassbezogenen und Außergewöhnlichen. Rechtsklugheit meint die menschliche Fähigkeit, in einer kontingenten Praxis situationsangemessene rechtliche Entscheidungen zu treffen. Pauschale, nicht nähere begründete oder belegte Generalisierungen im Recht der öffentlichen Sicherheit zeugen vielleicht nicht gleich von „Rechtsdummheit“, sie widersprechen aber den Anforderungen guter, rationaler Gesetzgebung. Sie sind Ausdruck eines nie ruhenden, nervösen Staates, der die Logik der Wirklichkeit durch die Logik der Möglichkeit ersetzt und unentwegt nach Gefahrenquellen und potentiellen Störern Ausschau hält (Barczak, a.a.O., 673).

In vorschneller Gleichmacherei liegt auch kein rechtsstaatlicher Zugewinn. Der Trend zur Generalisierung besitzt zwar unbestreitbar eine willkürvorbeugende Komponente, indem er bestimmte Phänomene gerade keinem Sonder- oder Ausnahmeregime unterwirft, sondern sie im systematischen Kontext mit anderen Erscheinungsformen zu behandeln und bewältigen sucht. Hierfür braucht es jedoch eines kohärenten Rahmens: Was für Amokläufe und Cyberangriffe auf Kritische Infrastrukturen womöglich noch angenommen werden kann, muss für Organisierte Kriminalität, Sexualstraftaten und häusliche Gewalt nicht in gleicher Weise gelten. Es ist Sache des BVerfG, in den anhängigen Verfahren gegen das BayPAG den verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich Eingriffsschwellen, Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit zur Durchsetzung zu verhelfen und den Generalisierungstrend zu stoppen. Generalisierungen im Bereich des Sicherheitsrechts, mit denen anlassbezogene, originär terrorismusspezifische Regelungen pauschal und vorschnell, ohne Begründung und rechtstatsächlichen Beleg auf andere (Kriminalitäts-)Phänomene erstreckt werden, sind keine rechtspolitische Petitesse. Sie sind schlechte, da verfassungswidrige Gesetzgebung.


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