Von der unvermeidlichen Politik und der vermeidbaren Politisierung
Das Jahr geht seinem Ende entgegen – Zeit für die wirklich wichtigen Fragen, für jene letzten Dinge, zu denen für den Juristen traditionell das Verhältnis von Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung gehört.
Ist das Bundesverfassungsgericht eine unpolitische Institution? Darüber gab es unlängst einen Dissens zwischen Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, und Bundestagspräsident Norbert Lammert. Das Bundesverfassungsgericht treffe ausschließlich juristische Entscheidungen, so Voßkuhle. Die Entscheidungsfindung der Verfassungsrichter folge einer vollkommen anderen Logik als die Entscheidungsfindung politischer Akteure. Das wolle ihm nicht recht einleuchten, konterte Lammert: “Die Weisheit der allermeisten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dokumentiert sich auch darin, dass sie eben nicht auf eine rein juristische Betrachtungsweise reduziert sind, sondern die politischen Implikationen möglicher rein juristisch vielleicht begründbarer Entscheidungen ganz offenkundig und auffällig im Bewusstsein haben.”
Nun hat sich, in versöhnlicher Absicht, der Berliner Staatsrechtslehrer Dieter Grimm in der Debatte positioniert. Grimm, von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts und als vormaliger Rektor Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs, präzisiert in seinem Beitrag in der F.A.Z. zunächst einmal die Frage, in welchem Sinne die Verfassungsgerichtsbarkeit etwas mit Politik zu tun hat. Dass Gegenstand und Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen oftmals politisch sind, steht für ihn außer Frage – zumal, wenn es um “hochpolitische Fälle” wie die Beteiligung an der Europäischen Währungsunion geht, aber auch in den Alltagskonstellationen individueller Grundrechtsverletzungen, die mitunter Bedeutung über den Einzelfall hinaus haben. Die Entscheidungskriterien indes seien juristisch.
Mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts kommt es daher zu einem Arenenwechsel. Andere Akteure treten auf und andere Maßstäbe gelten. Waren vorher die politischen Parteien am Zuge, wenn auch in wechselnden Rollen als Regierung, Parlament, Ländervertretung und so weiter, so sind es nun acht Verfassungsrichter. Und für diese zählt nicht mehr, ob die politische Entscheidung nützlich oder schädlich ist, viel oder wenig kostet, Wahlchancen erhöht oder mindert oder welche Gesichtspunkte sonst für die politische Entscheidung wichtig sein mögen.
Vor Gericht geht es nur noch um die Frage, ob die Anforderungen der Verfassung eingehalten worden sind oder nicht. Nicht als ob im politischen Entscheidungsprozess die Verfassungsfrage gar keine Rolle spielte. Aber sie steht dort nicht im Vordergrund.
Dieter Grimm gesteht ein, dass der Verfassungsanwendung “zwangsläufig ein Element von Verfassungsschöpfung” innewohne,
und das ist das eigentliche Legitimationsproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie ist um ihrer Kontrollfunktion willen unabhängig von der Politik und nicht in den demokratischen Verantwortungszusammenhang einbezogen, um sich bei ihren Entscheidungen ausschließlich an rechtlichen Kriterien orientieren zu können, aber diese Kriterien sind nicht in der Lage, eine vollständige Bindung zu erzeugen.
Richter bringen Vorverständnisse und Erfahrungen mit, und politische Überzeugungen. Dass sie zuweilen auch Politikerfahrung im biographischen Gepäck haben, findet Grimm nicht verfänglich – “sofern ihnen der Rollenwechsel zuzutrauen ist”.
Ein Gericht, das regelmäßig über die Produkte des politischen Prozesses zu urteilen hat, profitiert von der Kenntnis der Bedingungen, unter denen politisches Handeln vor sich geht.
Die Aufgabe, das mit der Verfassungsgerichtsbarkeit “unvermeidlich verbundene Maß an Politik von vermeidbarer Politisierung der Rechtsprechung zu trennen” weist Grimm nicht nur dem institutionellen Arrangement zu, sondern auch der Kontrolle durch den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs, durch eine Öffentlichkeit, die dem Gericht genau in die Urteile schaut. Dazu gehört offenkundig auch die Pflicht, das Bundesverfassungsgericht (und seinen Präsidenten) vor der Selbsttäuschung einer imaginierten Politikferne zu bewahren.
Eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine Illusion. Man sollte ihr keinen Vorschub leisten. Das Eingeständnis, dass Verfassungsgerichte politische Institutionen sind, schließt jedoch nicht aus, dass sie zugleich rechtliche Institutionen sind. Sie wirken an der wichtigsten Schnittstelle von Politik und Recht. Damit sind Risiken verbunden. Das gilt aber für den Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit nicht weniger.
Eine nüchterne Bestandsaufnahme also, von kühler Präzision. Aber was läse man lieber, am Ende eines Karlsruher Jubiläumsjahres mit mancherlei dekorativen Geburtstagssträußen und schnittigen Inventurberichten. Und eine schöne Lektüre für beschauliche Momente unter dem Weihnachtsbaum. Denn am Ende kann man bei Grimm auch eine Ermutigung zum eifrigen Verfassungsbloggen lesen, die wir gleich mal in die Liste unserer Vorsätze fürs Neue Jahr aufnehmen:
Wichtig ist auch, dass die Tätigkeit des Verfassungsgerichts von einem ständigen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs begleitet wird, der es an die lege artis entwickelten Rationalitätskriterien bindet und mit der Gesellschaft, für die es Recht spricht, in Verbindung hält.
Nichts ist so selbstverständlich, dass es nicht immer wieder gesagt werden muss. Und gut, dass Dieter Grimm es übernommen hat, auf das unvermeidbar Politische der Verfassungsgerichtsbarkeit hinzuweisen. Ihm kann es weder als Ahnungslosigkeit noch Besserwisserei angelastet werden.
Den im Text anklingenden Jahreswechselgedanken nehme ich gern zum Anlass, für eine gutes Jahr (meinem ersten) mit dem Verfassungsblog zu danken – und zu diesem ersten Kommentar. Auf ein vielfältiges neues Jahr mit Politik, Verfassung und Recht!
die diskussion zwischen voßkuhle und lammert auch hier als video: http://www.bundestag.de/Mediathek/index.jsp?categorie=Wissenschaftsforen&action=search&contentArea=details&offsetStart=0&offsetLength=6&id=36617116&instance=m187&destination=search