23 August 2018

Von Diensten und Pflichten

Wenige Gespensterdebatten tauchen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit so regelmäßig auf und verschwinden nach einhelligem Einspruch der Rechtswissenschaft wieder in der Versenkung wie die allgemeine Dienstpflicht für junge Erwachsene. Hier scheint ein Grundbedürfnis zum Ausdruck zu kommen, das der Reichsarbeitsdienst und der Jugenddienst der NS-Jahre offenkundig noch nicht stillen konnten. Immer wieder, wenn eine zarte „moral panic“ ausbricht, die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert bloß scheint, zieht es die Deutschen zur Disziplinierung der Jugend, der es angeblich an staatsbürgerlichem Bewusstsein gebricht. Dass die Kriminalität sinkt, Schulhofprügel fast der Vergangenheit angehören, junge Leute sich massiv in zivilgesellschaftlichen Gruppen – etwa in der Flüchtlingshilfe – oder sogar in Parteien organisieren: geschenkt. Dass die AfD weit überwiegend von älteren Menschen gewählt wird: wohl ein Betriebsunfall. Da die Diskussion bei der Entstehung des Grundgesetzes (damals noch mit einhelliger negativer Antwort), im Rahmen der Notstandsgesetze, bei der Grundpflichtendebatte der 1980/90er Jahre, anlässlich des Pflegenotstandes und der Entscheidung des BVerfG zur Feuerwehrabgabe schon 1995 (!), bei der Aussetzung der Wehrpflicht (bayrisches sozialökologisches Pflichtjahr) ab 2011 und schließlich derzeit wieder im Zeichen des Rechtsextremismus, Pflegekräftemangels und der demographischen Alterung aufflammte, verbietet es immerhin, die merkwürdige Fixierung auf die devianzverdächtige Jugend allein eben dieser Alterung zuzuschreiben. Vielmehr kommt in der Diskussion ein höchst legitimes Unbehagen an Entsolidarisierung in der Marktgesellschaft zum Ausdruck, das sich aber ein voreiliges Ventil verschafft, statt zu den Gründen der Misere vorzustoßen. Die Verfechter*innen der Dienstpflicht verhelfen den Menschen zu ihrem Ausdruck moralischer Vereinsamung und Entfremdung, aber nicht zu ihrem Recht auf solidarische Beziehungsweisen.

Dass die allgemeine Dienstpflicht unter dem geltenden Grundgesetz rechtlich nicht zulässig wäre, ist daher das geringere Problem einer politisch befremdlichen Debatte, die von einer Verdrängung der großen Fragen (Marktwirtschaft, Ökologie, Verteilung) bestimmt ist, wie sie Deutschland und Europa derzeit insgesamt kennzeichnet. Dennoch ist der juristische Aspekt schon deshalb nicht belanglos, weil der Rechtsstaat derzeit bekanntlich von etablierten wie populistischen Politiker*innen in Europa regelmäßig in Frage gestellt wird.

Der juristische Meinungsstand de constitutione lata und ferenda lässt sich so zusammenfassen, wie das etwa Wolfgang Janisch gewohnt kenntnisreich in der SZ getan hat.

Es ist Konsens, dass Art. 12 II GG, der den Arbeitszwang verbietet, einer Wiedereinführung des durch ihn gerade abgelehnten „Reichsarbeitsdienstes“ oder aller entfernt vergleichbaren Institute im Wege steht. Das lässt sich mit der Entstehungsgeschichte, aber auch einer einfachen Wortlautargumentation begründen, die nicht kreativ weitere Begriffsmerkmale außer der Arbeit und dem Zwang hinzudichten will. Die Ausnahme der „Dienstleistungspflicht“ greift nicht, weil das Merkmal „herkömmlich“ gerade eine allgemeine Dienstpflicht, die es vor der NS-Zeit nicht gab, ausschließen sollte. Nur solche Dienste, die auch schon in Weimar bekannt waren, wie etwa Feuerwehrdienste, sollten zulässig bleiben. Das hat auch das BVerfG so gesehen.

Infolgedessen dreht sich die Debatte juristisch ausschließlich darum, ob eine Verfassungsänderung möglich wäre, etwa durch Streichung des Begriffs „herkömmlich“ oder durch Schaffung eines neuen Ausnahme-Absatzes 4 in Artikel 12. Verfassungsrechtlich dürfte diese Frage eindeutig zu bejahen sein. Schließlich kam auch bei der Wehrpflicht (Art. 12a GG) oder dem Ersatzdienst niemand ernsthaft auf die Idee, es liege eine Menschenwürdeverletzung vor, die eine Verfassungsänderung sperren würde (Art. 79 III GG). Nicht jeder gut gemeinte Zwang verletzt den Eigenwert menschlicher Subjektivität, zumal eine allgemeine Dienstpflicht kaum mit der eritreischen Vollzeitentmündigung vergleichbar wäre, die derzeit so viele in die Flucht treibt.

Juristisch interessanteres Terrain betreten wir bei der völkerrechtlichen Beurteilung. Vorauszuschicken ist, dass Völkerrechtsabkommen die Bundesrepublik als einfaches Bundesrecht binden. Deren Kündigung – teils möglich, teils ausgeschlossen – wird niemand wollen. Die EMRK, der IpbpR sowie das ILO-Übereinkommen gegen Zwangsarbeit kommen hier ins Spiel. Das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit in Art. 4 II EMRK ist auslegungsfähig und -bedürftig; denn Art. 4 EMRK ist als absolute Garantie nicht einschränkbar. Man muss also auf der Ebene des Schutzbereiches nach einer präzisen Konturierung trachten. Die Rechtsprechung des EGMR ist allerdings für die Einordnung einer allgemeinen Dienstpflicht nicht allzu ergiebig. Das liegt daran, dass sich die bisherigen Fälle am EGMR mit Solidaritätspflichten der Angehörigen freier Berufe befasst haben – also etwa Verpflichtungen für Ärzt*innen, in entlegenen Gegenden für begrenzte Zeit Dienst zu leisten (Iversen), oder für Anwält*innen, Pflichtmandate zu übernehmen (van der Mussele). Auch zu Berufssoldaten hat sich der EGMR geäußert (Chitos). Es wäre daher gewagt, die in diesen Fällen entwickelten Kriterien unbesehen auf die Diskussion der allgemeinen Dienstpflicht zu übertragen. Allerdings kann die eher weite Ausgangsdefinition übernommen werden, wonach jede unfreiwillige Verpflichtung zu einer höchstpersönlichen Dienstleistung Zwangs- oder Pflichtarbeit darstellt, sofern die Arbeit ungerecht oder unterdrückend ist oder zwangsläufige Härten zur Folge hat. Bei dieser Qualifizierung anhand hochgradig unbestimmter Rechtsbegriffe spielt es laut EGMR eine entscheidende Rolle, ob der Verpflichtete Gegenleistungen zu erwarten hat, etwa in Form von Vorteilen in der Ausbildung.

An diesem Punkt könnte man ansetzen, um die allgemeine Dienstpflicht zu rechtfertigen. Denn es dürfte von deren genauer Ausgestaltung abhängen, ob sie mit der EMRK vereinbar wäre. Zu unterscheiden wäre hier einerseits zwischen einem Dienst, bei dem – wie in der früheren DDR beim Umgang mit Regimegegnern – jemand sich „in der Produktion zu bewähren hat“, oder: in der Pflege alter Menschen zu bewähren hat; auf diesen Unterschied dürfte es kaum ankommen, weil Sozialkompetenzen auch im Industriebetrieb nicht ohne Bedeutung sind. Und andererseits zwischen einem solchen Pflichtjahr, auf dessen Ausgestaltung die oder der Einzelne maßgeblich Einfluss nehmen könnte. Wenn also der Pflichtige sich aussuchen kann, in welchem Beruf er in sozialer Mission tätig sein will, ihm dieses Jahr Berufserfahrung in der späteren Ausbildung angerechnet oder der Dienst sogar entlohnt wird, dürfte aus Sicht der EMRK wenig gegen eine allgemeine Dienstpflicht sprechen, solange diese ein Jahr nicht übersteigt. Zu kennzeichnen wäre eine solche Pflicht am ehesten als Wahlpflicht in der Orientierungsphase zwischen Schule und Ausbildung oder Studium. Das Zwangsmoment wäre gegenüber einer zwangsweisen Zuteilung stark zurückgenommen – eben auf eine Wahlpflicht, die die Individualität und die Entscheidungsfreiheit der jungen Menschen voll und ganz respektiert. Es müssen dann freilich auch genügend diverse Stellen zur Auswahl stehen, was eine enorme Bürokratie nach sich zöge – wenn auch ein digitales Verteilungssystem manches vereinfachen dürfte. Insgesamt erscheint eine aufwändig zu gestaltende Dienstpflicht gut vorstellbar, die dem Solidaritätsgedanken der Ausnahmebestimmungen des Art. 4 EMRK entspräche.

Keine Bedeutung haben für die Dienstpflicht hingegen die geschriebenen Ausnahmegründe des Art. 4 III EMRK, die alle nicht einschlägig sind, wie die Literatur durchaus einhellig feststellt. Insbesondere kann Buchstabe b („Ersatzdienst“) nicht herhalten, weil die Dienstpflicht allgemein und nicht substitutiv ausgestaltet wäre. Buchstabe d („Bürgerpflichten“) passt ebenso wenig, weil hier wie bei Art. 12 II GG auf das Herkommen abgestellt wird.

Sollte die EU-Grundrechtecharta anwendbar sein, würde sich aus ihr nichts anderes als aus der EMRK ergeben. Art. 8 III IPbpR ist mit Art. 4 II, III EMRK wortgleich und wohl parallel auszulegen. Art. 1 b des ILO-Übereinkommens Nr. 105 verbietet Pflichtarbeit „als Methode der Rekrutierung und Verwendung von Arbeitskräften für Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung.“ Offenkundig bezweckt die allgemeine Dienstpflicht aber nicht die Steigerung des Bruttosozialprodukts, sondern die soziale Orientierung junger Menschen. Mit dem ILO-Übereinkommen käme man allenfalls dann in Konflikt, wenn man die Dienstpflicht als Maßnahme gegen den „Pflegenotstand“ deklarierte und es der Regierung um die Ersetzung regulärer Arbeitsplätze und Einspareffekte ginge. Das wäre in der Tat völkerrechtlich verboten.

Damit lässt sich festhalten, dass eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel der Einführung eines sozialen Pflichtjahres zulässig wäre, sofern die Dienstpflicht den oben beschriebenen völkerrechtlichen Anforderungen (kurze Dauer, Wahlfreiheit, Kompensation, Solidaritätsfunktion, keine Arbeitsplatzsubstitution) genügt. Das sind hohe Hürden, die der verfassungsändernde Gesetzgeber aber bei entsprechendem Willen nehmen könnte.

Eine völlig andere Frage ist, ob sich eine allgemeine Dienstpflicht politisch empfiehlt. Wie oben dargelegt, sind daran erhebliche Zweifel erlaubt. Solidarische Beziehungsweisen entstehen aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, nicht aber aus politisch verordneten Maßnahmen. Wer sich um schwindende Solidarität sorgt, muss schon tiefer ansetzen, als eine verdächtige Gruppe im Wege psychischer Projektion mit der Schuld zu belasten, die die Gesellschaft bloß verdrängt.


One Comment

  1. Peter Camenzind Thu 23 Aug 2018 at 22:47 - Reply

    Bei Regelung einer Pflicht zur Arbeitsaufnahme für Sozialleistungsempfänger gab es weniger verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Bedenken. Dort war m.E. anerkannt, dass eine Versagung von Vorteilen bei unterlassener Arbeitsaufnahme etwa durch Sozialleistungskürzungen iSV. Sanktionen, weniger Zwangsarbeit begründen muss o.ä.
    Man kann eventuell für ein soziales Jahr bestimmter Altersgruppen ähnliche Begründung erwägen. So könnte man die (ordnungsgemäße) Ableistung eines sozialen Jahres u.U. günstig oder weniger günstig bei Einstellungsentscheidungen unter Mitbeteiligung des Staates miteinfließen lassen o.ä. Dafür bedürfte es vielleicht weniger einer Verfassungsänderung (ähnlich wie bei Sozialleistungssanktionen).
    Eine Durchsetzung eines sozialen Dienstjahres mit Verwaltungszwang oder Strafnormen o.ä. kann eher weniger verhältnismäßig möglich und angestrebt scheinen.

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