28 February 2013

Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft

Es gibt Urteile, deren Tenor ist ein Paukenschlag – und es gibt Entscheidungen, die eher leise daherkommen und dennoch tektonische Machtverschiebungen bewirken. Den Anlass für ein solches Urteil bot die Steuerhinterziehung eines schwedischen Fischers, der in den nördlichen Ausläufern der Ostsee tätig ist. In der Rechtssache Åkerberg Fransson verschiebt der EuGH das Machtgefüge im Verfassungsgerichtsverbund.

Ein Verlierer ist schnell ausgemacht: Das stolze BVerfG wird den Eigenstand der bundesrepublikanischen Grundrechtsordnung nicht mehr lange durchhalten können. Ein Besuch in Bückeburg mag den Karlsruher Richtern einen Vorgeschmack auf die künftige Rolle bieten; der dortige Niedersächsische Staatsgerichtshof sammelt seit Jahrzehnten Erfahrungen mit einer Verfassungsjudikatur im Schatten eines unitarisierten Grundrechtskatalogs. In abgeschwächter Form steht dies auch Karlsruhe bevor. Wie konnte es dazu kommen? Welche Maßstäbe gelten für die Zukunft?

Ende der Ungewissheit

Wirklich überraschend kommt das Urteil nicht. Der Streit um die sachliche Reichweite des europäischen Grundrechtsschutzes schwelt seit Jahren. Früher besaß die Diskussion freilich eine weithin akademische Bedeutung, weil der EuGH die Grundrechte eher stiefmütterlich behandelte und nationale Gerichte die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze nicht wirkungsvoll anwenden konnten. Beides änderte sich freilich mit dem Lissabon-Vertrag. Seither räumt Luxemburg der rechtsverbindlichen Charta immer mehr Raum ein – und ihre Sichtbarkeit erleichtert die innerstaatliche Anwendung.  Damit gewinnt die Streitfrage an Brisanz, wo der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte endet.

Klar ist, dass die Charta sich nicht nur an die EU-Organe richtet, sondern auch die Mitgliedstaaten bindet, soweit diese Unionsrecht durchführen. Doch wo genau liegt die Grenze? Die im Deutschen eher restriktive Formulierung des Artikels 51 der Charta wurde schon durch die offiziellen Erläuterungen ausgebremst, die einer restriktiven Lesart durch die Rezeption der früheren Rechtsprechung entgegenwirken. Da diese gleichfalls nicht sonnenklar war, musste Luxemburg früher oder später Position beziehen. Eben dies ist geschah nun. Bereits der Titel der Presseerklärung macht deutlich, dass die Steuerhinterziehung nur der Anlass für ein Grundsatzurteil ist.

Eindrücklich verdeutlicht der Sachverhalt den Kern des Rechtsproblems. Herr Åkerberg Fransson hatte in den Jahren 2004/05 ca. 74.000 EUR an Einkommens- und Mehrwertsteuer hinterzogen (immerhin ein deutlich höherer Betrag als die nichtbezahlte Stromrechnung des Flaminio Costa, die vor 50 Jahren den Anlass für die Entdeckung des europarechtlichen Vorrangs gab). Hierfür belegte ihn das Finanzamt zuerst mit einer Steuersanktion  von rund 13.000 EUR; nunmehr sollte ein Strafverfahren wegen Steuerbetrugs folgen. Dies hielt der schwedische Fischer für ungerecht und beruft sich auf das Verbot der Doppelbestrafung nach Artikel 50 der Charta. Der EuGH wendet die Norm an.

Ihre Brisanz gewinnt dies Ergebnis durch die geringe Dichte der unionsrechtlichen Vorgaben. Nur ein Viertel der Steuerhinterziehung betraf die Mehrwertsteuer, für die EU-Vorgaben existieren. Letztere sind zwar detailliert, aber nur hinsichtlich der Berechnungsmethode. Zum Steuerbetrug sagt die Richtlinie 2006/112/EG reichlich wenig. Artikel 250 sowie Artikel 273 verpflichten die Mitgliedstaaten allgemein zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung – mehr nicht. Auch der Verweis auf den Schutz der finanziellen Unionsinteressen, weil die Mehrwertsteuer anteilig in den EU-Haushalt fließt, begründet keine klare Handlungsanweisung. Kurzum: Schweden war nicht verpflichtet, eine bestimmte Strafe vorzusehen; es besaß einen Gestaltungsspielraum als Ausfluss der „nationalen Verfahrensautonomie“.

Dennoch lässt der EuGH keine Zweifel, dass die Charta gilt. Er zitiert nicht nur seine früheren Leitentscheidungen, sondern führt unmissverständlich aus, dass die EU-Grundrechte im gesamten „Geltungsbereich des Unionsrechts“ (scope of EU law/champ d’application) zur Anwendung kommen – und zwar auch dann, wenn „die nationalen Rechtsvorschriften … nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden“. Damit steht fest: Versuche, den Anwendungsbereich der Charta bei den Grundfreiheiten oder den nationalen Gestaltungsspielräumen zurückzudrängen, sind hinfällig. Luxemburg entscheidet sich für eine überaus großzügige Interpretation. Dies stärkt die eigene Position – und schwächt manch anderen Akteur.

Konsequenzen für die innereuropäische Machtbalance

Bei deutschen Juristen mag der Reflex naheliegen, Karlsruhe auf den Plan zu rufen, zumal dieses den EuGH im Honeywell-Beschluss vor einer Kompetenzausweitung unter Rückgriff auf die Charta gewarnt hatte. Karlsruhe wird diesem Ruf jedoch nicht Folge leisten können. Dies liegt bereits daran, dass das Urteil keine grundrechtlich beflügelte Kompetenzusurpation bewirkt, dem Artikel 51 Absatz 2 sowie der Honeywell-Beschluss vorbeugen möchten. Brüssel darf nach dem Urteil nicht mehr Gesetze erlassen als zuvor. Vor allem jedoch ist das Luxemburger Ergebnis methodisch gut vertretbar.

Es liegt im Wesen einer verflochten Rechtsordnung, dass speziell bei Richtlinien nicht immer eine scharfe Trennlinie zwischen EU-Vorgaben und nationalen Gestaltungsspielräumen gezogen werden kann. Wo enden die EU-Grundrechte in Fällen einer Mindestharmonisierung oder bei individuellen Rechtspositionen, über deren Ausgestaltung die nationalen Parlamente entscheiden? Jeder Versuch einer Grenzziehung hätte hier höchst komplexe Abgrenzungsfragen heraufbeschworen (siehe nur das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Generalanwalts). Auf dieses Spiel wollte sich der EuGH nicht einlassen. Er bezieht eine klare Position, deren Reichweite manche Abgrenzungsakrobatik erübrigt.

Ohnehin wäre es verfehlt, das Urteil im Sinn eines Nullsummenspiels als Machtgewinn des EuGH und Einbuße nationaler Gerichte zu deuten. Dies mag für Karlsruhe gelten, aber andernorts ist die Lage vielschichtiger. Speziell in Skandinavien und dem Vereinigten Königreich stärkt das aktuelle Urteil die Gerichte, weil diese erst durch Unionsrecht die Befugnis zur Nichtanwendung von Parlamentsgesetzen erlangen. Hiervon zeugt die Antwort des EuGH auf die erste Vorlagefrage des nordschwedischen Gerichts: erst die Grundrechtecharta gibt diesem die Möglichkeit, das Strafverfahren als Doppelbestrafung auszusetzen. Es ist dies nicht das erste Mal, dass die wirksame Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung auch durch einen Machtgewinn nationaler Gerichte gefördert wird.

Auch in Deutschland gibt es Gewinner. Wenn die Abgrenzung der Grundrechtssphären komplexer wird und häufig eine Doppelung des Grundrechtsschutzes eintritt (hierzu sogleich), dann stärkt dies die Fachgerichtsbarkeit. Dies zeigt das ausländerrechtliche Beispiel der Ausweisung in einer polyzentrischen Grundrechtsordnung, bei der einzig das BVerwG in Leipzig eine hinreichend breite Zuständigkeit besitzt, um an der Kreuzung der Grundrechtsordnungen den Verkehr zu lenken. Während das BVerfG auf das GG beschränkt bleibt, können die Fachgerichte die EuGH-Vorgaben umfassend verarbeiten. Dies stärkt ihre Position, zumal sich Luxemburg – wie vorliegend – auf allgemeine Vorgaben zurückzieht und Einzelheiten an das nationale Gericht zurückverweist.

Es bleibt ein weiterer  Verlierer: Die Proliferation (deutschsprachiger) Kommentare zu Charta und EMRK darf nicht verdecken, dass die europäische Grundrechtsjudikatur der hergebrachten Methodik nur begrenzt folgt. Dogmatische Systembildung begründet in Europa zumeist keinen produktiven Prozess wechselseitiger Befruchtung, sondern bleibt häufig ein einseitiger Rezeptionsvorgang, der Richterrecht zu deuten sucht. Wenn die deutsche Rechtswissenschaft ihren Glanz behalten möchte, muss sie umdenken. Dies gilt für national ausgerichtete Forscher nicht anders als für Europa- und Völkerrechtler, die das überstaatliche Recht mit der tradierten Methodik bearbeiten.

Grundrechte im Doppelpack

Viele der prognostizierten Folgewirkungen werden nur schleichend sichtbar werden, dafür das innereuropäische Machtgefüge jedoch umso nachhaltiger verändern. Ein Grund für den verzögerten Wandel ist ein Kompromissangebt des EuGH: nationales Recht, dessen Inhalt nicht vollumfänglich durch EU-Recht determiniert ist, aber dennoch der Grundrechtscharta unterfällt (wie im Fall des schwedischen Fischers), kann „ergänzend“ an nationalen Grundrechten gemessen werden. Es kommt mithin zu einer Doppelung des Grundrechtsschutzes, den auch zwei prominente Bundesverfassungsrichter für das Nebeneinander von Charta und Grundgesetz empfehlen.

Dass diese Doppelung kein Freibrief ist, zeigt das parallele EuGH-Urteil in der lang erwarteten Rechtssache Melloni. Das spanische Verfassungsgericht wollte die Vollziehung eines EU-Haftbefehls nach einer Verurteilung in absentia unter Verweis auf spanische Grundrechte aussetzen, obwohl der EU-Gesetzgeber im Jahr 2009 klare Vorgaben getätigt hatte. Der EuGH sah jedoch keinen Gestaltungsspielraum, der die parallele Anwendung nationaler Grundrechte neben der Charta rechtfertigte – und auch Artikel 53 der Charta ändere hieran nichts.  So prominent hatte Luxemburg lange nicht mehr ausgesprochen, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts unter Einschluss der Grundrechte auch die nationalen Verfassungen erfasst. Im Konfliktfall würde Karlsruhe ebenso zu Recht gewiesen werden wie das spanische Tribunal Constitucional im Fall Melloni.

In Deutschland hätte der Sachverhalt wohl keine Probleme bereitet, weil eindeutige EU-Vorgaben nach der Solange-II-Rechtsprechung nicht am Grundgesetz zu messen sind (auch im Fall der Richtlinien-Umsetzung). Allerdings wird Karlsruhe bei nationalen Gestaltungsspielräumen zukünftig immer fragen müssen, ob sein Ergebnis den Grenzziehungen des EuGH für die Doppelgeltung gerecht wird. Diese gilt nach dem Urteil  Melloni nämlich nur, sofern durch die nationalen Grundrechte „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“ Karlsruhe wird regelmäßig prüfen müssen, ob diese Vorgaben beachtet wurden.

Probleme bereiten diese Grenzen der Doppelgeltung vor allem denjenigen Mitgliedstaaten, die einen eigenen Grundrechtskatalog mit ausgefeilter Dogmatik besitzen. Hier können diffizile Anpassungsprobleme auftreten, für die die Caroline-Kontroverse mit dem EGMR sowie die Scharmützel um die Sicherungsverwahrung einen Vorgeschmack boten (wobei sich der EuGH, anders als der EGMR, im Konfliktfall durchsetzt). Bei Mitgliedstaaten, deren Grundrechtsprechung weitgehend dem EGMR folgt, werden derartige Konflikte regelmäßig ausbleiben, zumal Luxemburg keine Motivation für ein Mikromanagement in Grundrechtsfragen an den Tag legt und nationalen Gerichten speziell bei der Verhältnismäßigkeit regelmäßig einen weiten Spielraum zubilligt.

Dagegen stellen sich in Deutschland all die Abgrenzungsprobleme in modifizierter Form, die die extensive Deutung des Artikels 51 hinfällig werden lässt. Wo enden in Fällen der Mindestharmonisierung zwingende EU-Vorgaben, die die Anwendung des Grundgesetzes neben der Charta ermöglichen? Gelten die nationalen Grundrechte, soweit Gestaltungsspielräume im Lichte der Charta grundrechtskonform eingeengt werden? Und was ist mit Dreieckskonstellationen, wenn etwa der Datenschutz von Arbeitnehmern ungeachtet nationaler Gestaltungsspielräume bei der künftigen EU-Datenschutzverordnung letztlich einen Ausgleich zwischen Unternehmerfreiheit und Datenschutz nach der Charta verlangt? All diese Fragen sind umso wichtiger, weil für die EU-Grundrechte vorrangig die Fachgerichte verantwortlich zeichnen.

Fazit: Ende der Karlsruher Hegemonie

Es gab eine Zeit, als das BVerfG als richterlicher Hegemon die Geschicke der gesamteuropäischen Rechtsordnung entscheidend mitbestimmte. Die Mahnungen als Karlsruhe waren ein wichtiger Grund für die richterrechtliche Entwicklung der ungeschriebenen EU-Grundrechte durch den EuGH. Die Krönung dieses Erfolgs ist die Grundrechtecharta, die nach deutschem Vorbild unter dem Vorsitz des ehemaligen BVerfG-Präsidenten Roman Herzog ausgearbeitet wurde.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eben diese Charta nunmehr das Ende der Karlsruher Hegemonie offenbar werden lässt. Nachdem bereits die Karlsruher Mahnungen in Kompetenzfragen weitgehend verhallten, werden zukünftig zahlreiche Grundrechtsurteile ausführen müssen, dass die Grenzen des Unionsrechts für eine Doppelgeltung beachtet wurden. Karlsruhe sollte diese Einsicht zur Umkehr nutzen und die Verschmelzung der Grundrechtssphären aktiv vorantreiben. Dass hierbei so manche dogmatische Verästelung auf der Strecke bleibt, ist unvermeidlich. Nur so kann Karlsruhe jedoch die Zukunft aktiv mitgestalten. Das liegt in unser aller Interesse.


10 Comments

  1. Matthias Bäcker Fri 1 Mar 2013 at 10:15 - Reply

    Lieber Daniel,

    ich stimme Deiner Analyse und Deinen Forderungen weitgehend zu, wäre aber beim Gesamtbefund zurückhaltender. Ich glaube, dass Du die zukünftige Rolle mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte doch etwas unterschätzt. Dafür sehe ich zwei Hauptgründe, die nicht rein rechtlicher, sondern auch praktischer Natur sind:

    Der eine ist ganz platt: Der EuGH kann eine umfassende und detaillierte Grundrechtsjudikatur niemals stemmen. Der Gerichtshof jammert doch jetzt schon über ein paar Hundert Verfahrenseingänge jährlich. Allein das BVerfG hat zehnmal so viele. Solange sich an dem hochgradig ineffizienten Verfahrensrecht, möglicherweise auch der Arbeitsweise in Luxemburg nichts ändert, kann der EuGH bestenfalls hier und da mal Pflöcke einschlagen und muss im Übrigen hoffen, dass in den Mitgliedstaaten die Charta-Grundrechte mit Fleisch versehen werden. Das kann durchaus auch die Aufgabe etwa des BVerfG sein; der grundrechtsdogmatische Baukasten, um die Chartarechte in die Prüfung der GG-Grundrechte einzuspeisen, ist meiner Ansicht nach schon da.

    Außerdem finde ich, mit Verlaub, dass Du in Deinem Posting teilweise doch etwas zu hierarchisch argumentierst. Ich denke, dass der Siegeszug der Solange-Rechtsprechung in Europa (sowohl der EGMR als auch eine Reihe mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte haben ja zumindest sehr ähnliche Kontrollkonzepte gegenüber Unionsrecht entwickelt) ein Zeichen dafür ist, dass ein einseitiger Grundrechtsoktroi aus Luxemburg zumindest auf Dauer riskant wäre. Gerade wenn in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen der EuGH die Weichen aus mitgliedstaatlicher Sicht zu einseitig stellt, könnten die Solange-Vorbehalte durchaus noch praktisch relevant werden. Es könnte ja schon reichen, wenn eine Vorlage an den EuGH zur Auslegung der GRCh entsprechend formuliert ist. Jetzt kann man sagen, der EuGH muss und kann nicht nach der Pfeife von 27 mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten tanzen. Zumindest wenn sich mehrere dieser Gerichte und darunter auch einige der einflussreicheren und international sichtbareren einig werden, ist das aber faktisch nicht mehr so einfach. Selbst rein rechtlich ist es mit der Hegemonie des EuGH im Übrigen auch wieder vorbei, sobald der Beitritt der EU zur EMRK vollzogen ist.

    Aus meiner Sicht entsteht darum hier eher ein System wechselseitiger checks and balances und die Chance eines echten Grundrechtsgesprächs zwischen EuGH, EGMR und nationalen Verfassungs- wie Fachgerichten als Akteuren, wobei jeder dieser Akteure Einflussmöglichkeiten und zur Not Drohpositionen hat. Mir persönlich gefällt das auch viel besser als eine Hierarchie mit einem Gericht an der Spitze, dessen grundrechtliche Durchsetzungsfreude ich im Übrigen auch etwas skeptischer beurteilen würde.

    Viele Grüße
    Matthias

  2. O. García Fri 1 Mar 2013 at 13:54 - Reply

    Sehr geehrter Herr Thym,

    ich bin enttäuscht, daß Sie in Ihrem Beitrag zwar wichtige Differenzierungen ansprechen, diese aber gewissermaßen im Kleingedruckten untergehen lassen.

    Die Entscheidungen Åkerberg Fransson (http://dejure.org/2013,2363) und Melloni (http://dejure.org/2013,2365) müssen klarer voneinander abgegrenzt werden. Sie schreiben zu Recht, daß Åkerberg Fransson grundsätzlich eine “Doppelung des Grundrechtsschutzes” bedeutet (von dem Sonderfall der mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse abgesehen). Hier sehe ich – vielleicht vom Atmosphärischen abgesehen – nichts Sensationelles und insbesondere nichts, das das BVerfG auf Bückeburg-Niveau schrumpfen ließe, wie Sie pointiert andeuten. Die Grundrechtsschutzsysteme ergänzen und überlappen sich und büßen keineswegs – weder materiell noch prozedural – ihre Bedeutungen ein. Wenn die EU demnächst dem MRK-System beitritt, wird noch eine dritte Sicherungsstufe hinzukommen.

    Die Entscheidung Åkerberg Fransson ist ein natürlicher Schritt, der in etwa dem Hinzutreten des MRK-Schutzes in den 1950er Jahren (später verstärkt durch die Einführung der Individualbeschwerde beim Gerichtshof) neben den Grundrechtsschutz durch das Grundgesetz entspricht.

    Ganz andere Brisanz hat der Fall Melloni, den Sie nur beiläufig ansprechen, den Sie aber immerhin zu Recht als Kronzeugen an der Stelle aufrufen, an der Sie darauf hinweisen, daß die Rechtsprechung des EuGH bitter werden kann für das BVerfG.

    Bei Melloni geht es hingegen gerade nicht um Doppelung, sondern um Subtraktion im Verhältnis der Grundrechtssysteme. Was das Ergebnis im konkreten Fall betrifft, so war es vorherzusehen. Bedeutender an dem Fall ist die Methodik, mit der der Generalanwalt und – ihm offenbar folgend – der Gerichtshof an die für sie neue Frage der Grundrechtskultur herangehen. Und diese Methodik ist verheerend, denn sie erstickt eine Grundrechtsentwicklung im Keim. Sie arbeitet mit einem sterilisierten Grundrechtskatalog.

    Ich habe dies anläßlich der Schlußanträge des Generalanwalts näher begründet: http://blog.delegibus.com/2012/10/21/die-menschenwurde-des-angeklagten-und-die-nationale-identitat-des-konigreichs-spanien/

    Mit besten Grüßen,
    Oliver García

  3. Blickensdörfer Fri 1 Mar 2013 at 18:01 - Reply

    Ein interessanter Artikel zum Verständnis von “Recht”, von „Grundrechten“ und „Menschenrechten“, von „EU-Recht“ und „nationalen Rechten“, zum Verständnis von deren Zusammenhängen.
    Nicht erschließt sich aus dem Artikel das genannte „Fazit: Ende der Karlsruher Hegemonie“. Es beantwortet nicht die im vorangehenden Absatz gestellten Fragen. Auch deshalb nicht, weil diese nicht an die Feststellungen des BVerfG in dessen Lissabon-Urteil (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. (1 – 421) gerichtet sind. Allein mit seinen Feststellungen in den folgend zitierten Absätzen begründet das BVerfG den Anspruch auf „Hegemonie“ deutlich.
    355
    (2) Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist seit jeher eine zentrale Aufgabe staatlicher Gewalt. Bei der Aufgabe, ein geordnetes menschliches Zusammenleben durch Schutz der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens auf der Grundlage einer Rechtsordnung zu schaffen, zu sichern und durchzusetzen, ist das Strafrecht ein unverzichtbares Element zur Sicherung der Unverbrüchlichkeit dieser Rechtsordnung (vgl. Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Band 1, 1989, S. 49). Jede Strafnorm enthält ein mit staatlicher Autorität versehenes sozialethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Der konkrete Inhalt dieses Unwerturteils ergibt sich aus Straftatbestand und Strafandrohung (vgl. BVerfGE 25, 269 ; 27, 18 ). Es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt. Eine Rechtsgemeinschaft gibt sich durch das Strafrecht einen in ihren Werten verankerten Verhaltenskodex, dessen Verletzung nach der geteilten Rechtsüberzeugung als so schwerwiegend und unerträglich für das Zusammenleben in der Gemeinschaft gewertet wird, dass sie Strafe erforderlich macht (vgl. Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur?, ZStW 1993, S. 774 ).
    356
    Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit im modernen Verfassungsstaat zählt. Der Gesetzgeber ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei (vgl. BVerfGE 50, 142 ; 120, 224 ; zur Grenzziehung zwischen kriminellem Unrecht und Ordnungsunrecht BVerfGE 27, 18 ; 96, 10 ).
    358
    Wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen sind die vertraglichen Kompetenzgrundlagen für solche Schritte strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen und ihre Nutzung bedarf besonderer Rechtfertigung. Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum. Dies erkennt auch der Vertrag von Lissabon ausdrücklich an, wenn er die neu begründeten Kompetenzen der Strafrechtspflege mit einer sogenannten Notbremse versieht, die es dem – letztlich parlamentarisch verantwortlichen – Vertreter eines Mitgliedstaates im Rat erlaubt, gestützt auf „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ mit seinem Veto strafrechtsbedeutsame Richtlinien jedenfalls für sein Land zu verhindern (Art. 83 Abs. 3 AEUV).

  4. Daniel Thym Mon 4 Mar 2013 at 15:43 - Reply

    Herzlichen Dank für die teils guten Kommentare, die mir Gelegenheit zu einer dreifachen Klarstellung/Reaktion geben:

    1. Ich behaupte nicht, dass sich der EuGH zu einem Grundrechtsoktroi aufschwingt, den bereits die Ressourcen nicht zulassen. Ganz anders die (deutschen) Fachgerichte in Fällen einer chartakonformen Auslegung von EU-Sekundärrecht, die Karlsruhe nicht leisten kann. Dies ist auch die Krux mit dem Dreiecksverhältnis beim Datenschutz: Wenn nationale Gestaltungsspielräume vom EuGH und/oder Fachgerichten chartakonform auszugestalten sind, schmilzt der Raum für die Anwendung nationaler Grundrechte.

    2. Thesenbildung lebt von der Zuspitzung; das gilt auch für die Bückeburg-Metapher. Diese akzentuiert einen Strukturwandel, der mittel- und langfristig von einer Doppelgeltung nationaler Grundrechte ausgehen wird. Anders als die EMRK zieht das Europarecht klare Grenzen, die speziell bei einer Teil- der Mindestharmonisierung durch detailliertes Sekundärrecht zu grundrechtssensiblen Themen verstärkt werden. Nationale Grundrechte und deren Dogmatik werden in ihrer Gestaltungsfreiheit deutlich stärker eingeschränkt werden, als es der Zweite Senat im Urteil zur Sicherungsverwahrung für die EMRK vorgab.

    3. Mein Beitrag beinhaltet u.a. ein Plädoyer für eine stärkere Verknüpfung der Grundrechtsebenen, ganz auf der Linie von Matthias Bäcker. Aber ist das wirklich bereits Realität? Ein Blick in die Lehrbücher, die Kommentare und die offizielle Begründung der BVerfG-Rechtsprechung lässt mich daran zweifeln. Hier bleibt viel zu tun.

  5. Blickensdörfer Tue 5 Mar 2013 at 11:50 - Reply

    Wenn Matthias Bäcker „die Chance eines echten Grundrechtsgesprächs“ entstehen sieht, dann beurteilt (auch) er damit die bisherigen „Grundrechtsgespräche“ als nicht „echt“. Mit diesem Attribut wird hier auf das beliebige Verstehen vom Wort „Grundrechte“ verwiesen. Und dieses Wort ist tatsächlich nur scheinbar ein Begriff.
    „Echt“ geht es um das Verstehen der weiteren, tieferen „europäische Integration“ und der Wahrung der „Verfassungsidentität“ (Identität des Grundgesetzes).
    Doch dieses Verstehen ist weder Kraft Zusammenhangs gegeben noch ist es ein Verstehen nach dem Sin und Zweck einer Norm, Resultat einer besonderen Art teleologischen Auslegung. Denn – so auch das BVerfG -: Das Verstehen und damit auch politischen Entscheidungen sind in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen.
    Diese Vorverständnisse sind aber Ausdruck des herrschenden Verständnisses, mit dem das Verstehen beherrscht wird. Deshalb weist das BVerfG nur scheinbar auf eine Möglichkeit hin, die scheinbar von diesem herrschenden Verständnis unabhängig ist: Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür bereits den Weg der Ultra-vires-Kontrolle eröffnet, die im Fall von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Gemeinschafts- und Unionsorgane greift.
    Jedenfalls könne – so nach Auffassung des BVerfG – auch der EUGH keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung entfalten. Und „solange“ nicht mit „echten Grundrechtgesprächen“ das beliebige Verstehen überwunden wird, wird dadurch auch und nicht nur „doppelt“ die Geltung von Recht unterschiedlich begründet.

  6. O. García Tue 5 Mar 2013 at 18:28 - Reply

    Noch ein ergänzender Gedanke:

    Viel wichtiger als die Vermessung des Verhältnisses zwischen den Grundrechten auf den verschiedenen Ebenen und des Verhältnisses zwischen dem BVerfG und dem EuGH erscheint mir, daß die Diskussion in der Rechtswissenschaft sich unmittelbar um die Fortentwicklung der EU-Grundrechte dreht. Die Wissenschaft sollte sich hier mehr als Akteur statt als Beobachter verstehen.

  7. […] potenziell zu Lasten mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume, beugt der EuGH mit seiner „Alles-oder-Nichts-Lösung“ Rechtsunsicherheiten vor, die der […]

  8. […] heißt ein vor wenigen Wochen ergangenes Urteil des EuGH, das besagt, dass alle Fälle, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegen, am Maßstab der […]

  9. […] Ausnahmeklauseln in einer detaillierten Richtlinie (Rn. 102-104). Diese Lösung würde zwar das BVerfG teilweise entmachten, nicht jedoch Bundestag und Bundesrat. Dogmatisch entspräche dies einer Lesart des […]

  10. […] of the financial crisis) the most pertinent controversy in EU constitutional law at this moment. The stakes are high and a settlement has not been found yet. But I cannot subscribe to his dramatic appeal. It seems to […]

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