16 April 2020

Von Theorie und Praxis

Covid-19 und Zugang zum Asyl- und Flüchtlingsrecht

Wirklich, wir leben in besonderen Zeiten. Das arglose Wort ist womöglich nicht nur töricht, ohne Bedacht gesprochen kann auch die Anwendung einer hastig verabschiedeten Verordnung vermeidbares Unheil ebenso anrichten, wie, je nach Fallgestaltung, deren Missachtung. Eine glatte Stirn deutet, wie auch der Glaube an eindeutige Antworten, in diesen Tagen auf Unempfindlichkeit hin.

Ob die Anlehnung an Brecht vermessen ist? Angesichts der quasi überall zu lesenden Einschätzung, wir durchlebten aktuell eine Krise, wie sie die Menschheit möglicherweise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt habe, mag daran vergleichsweise wenig zu zweifeln sein. Angesichts mancher, gerade auch verfassungsrechtlich relevanter Realitäten, die derzeit zu erleben sind, muss sich die Parallele geradezu aufdrängen.

Viel ist hier bereits zu lesen gewesen, zu den grundsätzlichen Fragen, welche die gegenwärtige Corona-Gesetzgebungs- und -Verordnungspraxis aufwirft. Zahlreich sind mittlerweile die Versuche, die Gerichte dazu zu bewegen, bestimmte Entscheidungen oder ganze Verordnungen zu überprüfen oder aufzuheben. Den fundierten theoretischen Erwägungen der Kolleg*innen sind aber auch Beobachtungen aus der Praxis zu den mittelbaren Auswirkungen der gegenwärtigen Situation zur Seite zu stellen.

Die Ankündigung: vorerst keine ablehnenden Bescheide

Für das Asyl- und Flüchtlingsrecht stellt die derzeitige Situation eine ganz eigene Herausforderung dar. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge begegnet ihr gemäß einem Schreiben an die Bundesrechtsanwaltskammer vom 09.04.2020 damit, dass – zunächst befristet auf den 19.04.2020 – nur noch vollumfänglich stattgebende Bescheide zugestellt werden sollen:

„Auch Entscheidungen mit Sicherheitsbezug können im Einzelfall zugestellt werden. Bei allen übrigen Entscheidungen (Ablehnung als unbegründet, Ablehnung als offensichtlich unbegründet gem. §§ 29a, 30 AsylG, Ablehnung als unzulässig gem. § 29 I AsylG sowie teilablehnende Bescheide) erfolgt in diesem Zeitraum keine Zustellung der Bescheide.“ (Schreiben des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.04.2020 an den Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer)

Ab dem 20.04.2020 sollen dann in der Zwischenzeit getroffene Entscheidungen zunächst nur an anwaltlich vertretene Antragsteller*innen über die Anwält*in zugestellt werden und ab dem 04.05.2020 zum regulären Verfahren zurückgekehrt werden.

Die Praxis: rechtlich zweifelhafte ablehnende Bescheide

So lobenswert diese grundsätzliche Entscheidung, die im Bedarfsfalle bestimmt noch angeglichen werden kann, auf den ersten Blick erscheint, so fraglich erscheint ihre Angemessenheit. Zum einen kommt sie relativ spät und betrifft offensichtlich nicht Fälle, in denen noch Ende März Entscheidungen zweifelhafter Qualität getroffen wurden. Zum anderen muss an ihrer Umsetzung gezweifelt werden. Zwar hatte das Bundesamt schon Ende März 2020 mitgeteilt, wegen der Corona-Situation “bis auf Weiteres“  keine ablehnende Bescheide mehr zuzustellen, aber trotzdem gehen nach Informationen von ProAsyl weiterhin Ablehnungsentscheidungen und sogar Entscheidungen zu, in denen (Asyl-)Anträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Und gerade in diesen Fällen stellt sich dann mit besonderer Dringlichkeit die Frage, inwiefern unter den gegebenen Umständen der Zugang zum Recht Betroffenen ohne vermeidbare Erschwerung eröffnet ist.

Zwar ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stolz auf seine in der überwiegenden Mehrzahl gerichtlich bestätigte Entscheidungspraxis Diese Statistik könnte aber signifikant verbessert werden, würde das Bundesamt nicht in bestimmten Konstellationen offensichtlich systematisch gegen die dort bekannte Rechtsprechung entscheiden. Noch im März 2020 etwa war es Praxis des Bundesamtes, Anträge von Asylbewerbern aus Libyen als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnen. Dabei ist der entscheidenden Außenstelle bereits seit dem Oktober 2018 (!) Rechtsprechung bekannt, die solche Entscheidungen unter dem hohen Maßstab von Art. 16a IV S. 1 GG und § 36 IV S. 1 AsylG als „ernstlich zweifelhaft“ hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit einstuft (VG 31 L 796.18 A, nicht veröffentlichter Beschluss des VG Berlin vom 31.10.2018, in Bezug genommen in einem Beschluss des VG Berlin vom 19.12.2019, VG 19 L 606.19 A).

Der Gang zu*r Rechtsanwält*in und Zugang zum Recht

Das ist nicht nur aus dem Blickwinkel von Art. 20 III GG bedenklich, sondern wirft erst recht die Frage auf, wie es mit dem Zugang zum Recht in derart grundrechtskritischen Bereichen wie dem Flüchtlingsrecht bestellt ist: Eine solche Entscheidung (Asylbewerber aus Libyen, Ablehnung als „offensichtlich unbegründet“ gem. § 30 I AsylG) wird demnach trotz offensichtlich inhaltlich falscher Entscheidung rechtskräftig, wenn die betroffenen Personen keinen Weg zu einem Gericht finden, das den Eintritt der Rechtskraft verhindern kann. Mit einer Woche ist die Zeit, die hierfür zur Verfügung steht, kurz (§ 36 III S. 1 AsylG). Die Chancen auf eine Korrektur des Bescheids des Bundesamtes wird nur eine entsprechend spezialisierte Rechtsanwält*in realistisch beurteilen können und solche zu finden, ist vielleicht in Berlin nicht das größte Problem, in ländlichen Bereichen, in die Asylbewerber verteilt worden sind (§ 47 I AsylG), dagegen mitunter schon.

Die Frage, ob dann der Weg zum Rechtsanwalt oder zur Rechtsanwältin überhaupt hinreichend einschränkungsfrei möglich ist, hat das Verwaltungsgericht Berlin bereits für die gegenwärtigen (Berliner) Regelungen bejaht, wobei fraglich erscheint, ob sich das Gericht hier in der gebotenen Tiefe mit der gegebenen Situation auseinandergesetzt hat: Der Besuch beim Rechtsanwalt/bei der Rechtsanwältin ist nach den in Berlin nunmehr geltenden Vorschriften rechtfertigungsbedürftig, und die Polizei darf verlangen, die „dringende Erforderlichkeit“ der Wahrnehmung eines Termins beim Anwalt „glaubhaft“ zu machen (§ 14 II, III n) SARS-CoV-2-EindmaßnV). Ob dies nicht im Einzelfall sehr wohl zu einer erhöhten Beschwer beim Zugang zum Recht führt, bleibt, zumal die der Polizei übertragenen Kontrollkompetenzen sehr weitreichend sind, abzuwarten. Zwar mögen sich im Einzelfall Wege und Möglichkeiten finden lassen, aber nicht jede/r Anwält*in ist unter Umständen bereit, auf das per Email übersandte Mandat in aller Schnelle das Verwaltungsgericht anzurufen.

Im konkreten Fall, da das Bundesamt den ablehnenden Libyen-Bescheid unmittelbar vor Bekanntgabe der geänderten Versandpraxis (wohl gemerkt nicht: Entscheidungspraxis) versandt hatte, ist lobend zu erwähnen, dass das angerufene Verwaltungsgericht ohne Verzögerung entschieden hat (nicht veröffentlichter Beschluss vom 31.03.2020 – VG 19 L 143/20 A) – und das, obwohl beim Verwaltungsgericht Berlin auch nur noch eingeschränkt Recht gesprochen wird (Einstellung des Publikumsverkehrs ab dem 23.03.2020).

Hinsichtlich des „Danach“ dieser für alle Beteiligten noch nicht dagewesenen Herausforderung wird zu hoffen sein, dass alle getroffenen Maßnahmen auch auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden, um daraus Lehren für die Zukunft ziehen zu können. Wenn der Zugang zum Recht in Krisenzeiten nicht nur durch praktische Rahmenbedingungen erschwert wird, die bisher unbekannt waren, sondern auch noch einem – wie auch immer gearteten – Rechtfertigungszwang unterworfen wird, der zwar, so das Verwaltungsgericht Berlin keine „erhebliche Hürde für die Inanspruchnahme und Erbringung anwaltlicher Hilfe“ darstellen soll (Beschluss vom 02.02.2020 – VG 14 L 31/20), wird damit doch eine Hürde aufgebaut, die der Grundrechtsausübung fremd sein sollte.

Beschleunigungsgrundsatz vor Gesundheitsschutz

Dass es auch „anders“ geht, zeigt im Übrigen ein Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 09.04.2020 (VG 5 K 2635/17.A). Das Gericht hat in einem seit Oktober 2017 anhängigen (Asyl-)Verfahren nun mit Verfügung vom 03.04.2020 einen Termin angesetzt und dazu den Klägern unter Fristsetzung nach § 87b III VwGO aufgegeben, bis zum 23.04.2020 alle für den Verfahrensausgang beachtlichen (weiteren) Beweismittel und Tatsachen anzugeben. Den daraufhin gestellten Verlegungsantrag, begründet u.a. mit dem Hinweis, die gegenwärtige Berliner Verordnungslage lasse ein – für die Fristeinhaltung unumgängliches – Besprechungstreffen mit der Mandantschaft nicht uneingeschränkt zu und dies sei auch zum Gesundheitsschutz der Gesamtbevölkerung eher zu vermeiden, lehnte das Gericht ab:„Abgesehen davon, dass eine Mandantenbesprechung auch fernmündlich stattfinden kann, bleibt diese – falls sie für dringend erforderlich gehalten wird – auch persönlich möglich (vgl. § 14 Abs. 3 lit. n SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung).“ Warum das Gericht gerade jetzt terminieren muss, erläutert es auch: Der Beschleunigungsgrundsatz erhält „vorliegend dadurch besonderes Gewicht, dass das Verfahren bereits seit etwa 2,5 Jahren anhängig ist, wodurch die Schwelle zur verfassungswidrigen Verfahrensdauer erreicht sein könnte“. Gründe für eine Verlegung auf Grund des (erforderlichen) „Vorliegens eines erheblichen Grundes im Sinne des § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO“ will das Gericht dementsprechend nicht erkennen können.

Die Zeiten, in denen das Recht dem Menschen ein Helfer sein könnte, scheinen ferner denn je.


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