Von wegen Würde des Bundestages: Demo im Plenarsaal ist Meinungsfreiheit
Dass Bundestagspräsident Norbert Lammert ganz schnell den Humor verliert, wenn seine Abgeordneten drunten im Plenarsaal ihre politische Meinung auf andere Weise kundtun als durch Redenhalten und Zwischenrufen, ist bekannt: Mal fliegen Parlamentarier raus, weil sie bei der Debatte um das Afghanistan-Mandat Schilder mit den Namen der Kundus-Opfer hochhalten, mal, weil sie auf ihren T-Shirts ihren Protest gegen Stuttgart 21 anmelden. Alles, was wie eine organisierte Demo aussieht, wird als Angriff auf die “Würde des Hauses” gewertet und ohne viel Federlesens unter zustimmendem Nicken der veröffentlichten Meinung unterbunden.
Damit hat Lammert damit womöglich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Das legt zumindest ein heute verkündetes Urteil des EGMR in Straßburg nahe.
Der Fall spielt im Ungarn der Ära Orbán. Mehrere Abgeordnete der LMP (roughly: Grüne) bzw. deren Abspaltung PM hatten bei verschiedenen Gelegenheiten im Plenum Schilder hochgehalten und andere Protestaktionen gegen die FIDESZ-Zweidrittelmehrheit inszeniert, woraufhin ihnen Parlamentspräsident Lászlo Köver (der mit dem Motorradlenkerschnurrbart) Ordnungsgelder aufbrummte.
Das verstößt gegen die Meinungsfreiheit, so die Straßburger Richter einstimmig. Die schützt nämlich die Abgeordneten im Plenum kein bisschen weniger als die Bürger draußen auf der Straße – eher sogar noch mehr, denn hier handelt es sich um politischen Meinungskampf im allerdirektesten Sinne. Und nicht nur das, obendrein rede da ja nicht nur der einzelne Abgeordnete für sich, sondern in Vertretung seiner Wählerschaft. Da müsse es schon extrem harte Gründe geben, wenn der Staat solche Meinungsäußerungen reguliert und sanktioniert.
Die gab es aber nicht. Die Protestaktionen hätten weder besonders gestört noch irgendwen beleidigt. Sie mit Ordnungsgeldern zu sanktionieren, habe einen “chilling effect” auf die Freiheit oppositioneller Minderheiten, sich und ihren Standpunkten im Parlament Gehör zu verschaffen.
Das Parlament ist somit für den EGMR nur einer von vielen Orten politischer Auseinandersetzung, an deren Regulierung er keine wesentlich anderen Maßstäbe anlegt als irgendwo anders auch. Die Straßburger Richter zögern nicht im Mindesten, ihrer Aufgabe, die nationalen parlamentarischen Demokratien am Knebeln von Minderheitsmeinungen zu hindern, auch in deren Allerinnerstem nachzukommen. Dass im Parlament der hohen Kunst politischer Debatte und des argumentativen Florettgefechts gepflogen werden soll statt des medienwirksamen Protestes, dass das grobe Aufeinanderprallen plakativer Meinungen auf die Straße gehört und nicht in den Plenarsaal, all dieser romantische Parlamentskram interessiert die Straßburger überhaupt nicht, von der “Würde des Hauses” ganz zu schweigen.
Ich kann mir vorstellen, dass so manchem Bonner und Heidelberger Staatsrechtslehrer ganz schwummrig zumute wird bei dem Gedanken.
Bei der Entscheidung dürfte sicher eine Rolle gespielt haben, dass es sich um einen ungarischen Fall handelt. In einem Land, wo die Regierungspartei sich eine wahlrechtlich herbeimanipulierte Zweidrittelmehrheit, eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Verfassung nebst gefügig gemachtem Verfassungsgericht, sämtliche politischen Schlüsselpositionen im Land und den allergrößten Teil der Medienöffentlichkeit unter den Nagel gerissen hat, hätte es geradezu zynisch gewirkt, im Interesse der Parlamentskultur die Minderheitsabgeordneten schutzlos der Sanktionierungsgewalt des Herrn Köver auszuliefern.
Aber auch bei uns könnte ich mir Schlimmeres vorstellen als eine Übertragung dieses Urteils auf unsere parlamentarischen Gepflogenheiten. Ich will Lammert nicht mit Köver vergleichen, und die Große Koalition nicht mit FIDESZ/KDNP. Aber an hör- und sichtbarer Opposition fehlt es doch wahrhaftig auch hierzulande. Die Vierfünftelmehrheit, auf die sich unsere aktuelle Regierung stützt, entfaltet eine sedative Wirkung auf die politische Meinungsbildung, die mir mehr Sorge macht als die Aussicht, im Bundestag könnten die Volksvertreter in Weimarer Gewohnheiten zurückfallen und sich vor lauter Leidenschaft wechselseitig an die Gurgel gehen, wenn man sie nicht disziplinarisch an der kurzen Leine hält.
Kanzlerin Merkel lässt ausrichten, die 12-Prozent AfD mit “gutem Regieren” bekämpfen zu wollen. Gutes Regieren, du lieber Himmel! Ich wünsche allen Grünen und Linken, die sich in streitbarer parlamentarischer Rede und Gegenrede an diesem Programm abarbeiten wollen, viel Vergnügen. Wenn sie aber künftig mal ein zünftiges Transparent entrollen, während vorne ein GroKo-Regierungslobpreiser nach dem anderen vor dem Spiegelbild der Vierfünftelmehrheit im Saal seine argumentative Florettkunst zur Schau stellt, dann hätten sie meine ganze Sympathie – und die des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg womöglich auch.
Können wir das auch auf Gerichtssäle übertragen? Was liegt etwa näher, als in einer Verhandlung am EGMR für die Menschenrechte zu demonstrieren?
Ist die Meinungsfreiheit unter der Geltung des Grundgesetzes überhaupt zutreffender Maßstab? BVerfGE 60, 374 lässt da anderes vermuten.
Interessant! Den kannte ich gar nicht, den Beschluss. Das ist genau die Position, die die ungarische Regierung da vertreten hatte und der sich in Straßburg keins der Kammermitglieder hatte anschließen wollen: Parlamentarische Redefreiheit als Sonderrecht, nicht am Maßstab der Meinungsfreiheit zu messen, im Kontext von Immunität und Indemnität speziell geregelt.
Das ist jetzt ja auch erst mal nur eine Kammerentscheidung. Nicht ausgeschlossen, dass das noch vor die Große Kammer geht.
Ein herrlicher Beitrag, den werde ich gleich mal in facebook vorstellen.
[…] Interessantes Urteil des EGMR, Zitat vom Verfassungsblog (gerne in Gaenze lesen!): […]
Welche Würde? Wer sich von Lobbyisten kaufen lässt hat keine Würde sondern nur sein Portmonee im Blick.