04 December 2020

Vorrang für Bildung

Warum die Entscheidung der Länder gegen (generelle) Schulschließungen richtig ist

Die seit September erheblich gestiegenen Corona-Infektionszahlen in Deutschland haben zu einem sogenannten „Teil-Lockdown“ geführt. Um das Infektionsgeschehen einzudämmen und die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, mussten ab November in allen Bundesländern unter anderem die gastronomischen Betriebe sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen schließen. Hotelübernachtungen für touristische Zwecke wurden untersagt. Die Maskenpflicht ist ausgeweitet worden.

Weitergehenden Forderungen nach einer (temporären) Schließung von Bildungseinrichtungen, wie im Frühjahr, haben die Länder eine Absage erteilt. Sie räumen dem Recht auf Bildung Vorrang ein. Das ist richtig so – und auch rechtlich sehr gut vertretbar.

Länder entscheiden sich für die Offenhaltung der Schulen

Auf ihrer Videoschaltkonferenz am 25. November haben sich die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder auf eine Fortführung des Teil-Lockdowns und einige Verschärfungen geeinigt. Angesichts der weiterhin hohen (wenn auch aktuell nicht weiter zunehmenden) Infektionszahlen ein unvermeidlicher Schritt.

Die teilweise geforderte Schließung von öffentlichen Schulen, beziehungsweise einen generellen Wechsel zum hybriden Mix aus Präsenzunterricht in kleinen Gruppen und ‚Homeschooling‘, haben die Länderchefs hingegen abgelehnt. Bereits auf ihrer vorbereitenden Sitzung am 20. November hatten die Kultusministerinnen und -minister – in Bekräftigung ihres Beschlusses vom 23. Oktober – betont, dass die Offenhaltung von Kindertageseinrichtungen und Schulen „oberste Priorität“ haben müsse. Gute Bildung entscheide über die Zukunft jedes einzelnen Kindes und sei ein „entscheidender Schlüssel für die Zukunft unserer Gesellschaft“.

Auch abseits solch hehrer Worte verdient die Entscheidung, den (teilweise vehementen) öffentlichen Forderungen nach Restriktionen im Bildungsbereich nicht unvermittelt nachzugeben, Anerkennung. Denn das in diesem Zusammenhang viel bemühte „Recht auf Bildung“ ist nicht lediglich eine rhetorische Figur, die eingesetzt wird, um – zB aus Vereinbarkeitsgründen – gewünschte Maßnahmen zu legitimieren. Es ist ein Menschenrecht, dessen Einschränkung eine genaue Prüfung unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit verlangt. Dass die Prüfung und Abwägung auch bei anhaltend hohen Infektionszahlen zugunsten der Offenhaltung von Bildungseinrichtungen ausfällt, ist – soweit die Hygiene- und Kontrollvorgaben effektiv eingehalten werden und anlassbezogene Maßnahmen ergriffen werden – gut begründet.

Rechtsgrundlage von Schulschließungen nach dem Infektionsschutzgesetz

Zwar erlaubt § 28 Abs. 1 Satz 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ausdrücklich die Schließung von Gemeinschafts­einrichtungen, wozu insbesondere auch „Kindertageseinrichtungen“ (Nr. 1) und „Schulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen“ (Nr. 3) gehören. Anders als bei den Ausgangs- und Kontaktsperren (dazu Kießling, Edenharter, Klafki), besteht an einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage für Schulschließungen und Unterrichtsverbote nach dem IfSG kein Zweifel. Jedoch verlangt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, dass die Maßnahmen nur zulässig sind, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. Die Voraussetzung der Erforderlichkeit stellt eine einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips dar, das bei grundrechtseinschränkenden Maßnahmen der Pandemiebekämpfung immer zu beachten ist.

Beschränkung des Rechts auf Bildung

Im Grundgesetz findet sich das Recht auf Bildung und damit Zugang zu Schulen und anderen Bildungseinrichtungen nicht explizit. Dieses Recht ist aber in den meisten Verfassungen der Bundesländer verankert. Auf Ebene des Völkerrechts wird das Recht auf Bildung unter anderem in Art. 13 Internationaler Sozialpakt, . 20 UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) und, bezogen auf Menschen mit Behinderungen, in Art. 24 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (völker-)rechtsverbindlich garantiert. Es handelt sich seinem Wesen nach um ein soziales Menschenrecht, das vom UN-Sozialausschuss auch als Grundlage für die Wahrnehmung anderer Menschenrechte und damit als „Empowerment-Recht“ betrachtet wird. Seine objektivrechtliche Entsprechung findet das Recht auf Bildung junger Menschen in der staatlichen Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG, dem vom Bundesverfassungsgericht zugleich ein umfassender Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates entnommen wird.

Das Recht auf Bildung wird durch Schulschließungen, aber auch durch Einschränkungen des Unterrichts in Form des „Fernunterrichts“ oder „Homeschoolings“ für die Kinder und Jugendlichen, gerade auch solche aus ärmeren Familien, eingeschränkt. Betroffen sind vor allem Schülerinnen und Schüler, die von ihren Eltern keine ausreichende Unterstützung erhalten (können), weil diese beruflich zu stark belastet sind, weil sie aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen kommen, nicht Deutsch als Muttersprache sprechen oder sonst mit den akademischen Bildungsinhalten nicht vertraut sind. Ihnen fehlt teilweise die angemessene Lernumgebung im häuslichen Umfeld, ihnen fehlt die Struktur des Schulalltags und nicht zuletzt der unmittelbare Kontakt zu ihren Lehrerinnen und Lehrern (vgl. Huber/Helm). Eine erste Auswertung von Daten des Nationalen Bildungspanels aus den Schulschließungen im Frühjahr unterstützt diesen Befund (vgl. Attig/Nusser/Wolter).

In der Bildungsforschung besteht infolgedessen weitgehende Einigkeit, dass mit jedem Tag Abstand zur Schule auch der Lernabstand zwischen den Kindern abhängig von ihrer Herkunft und ihrem Bedarf an Lernunterstützung wächst (siehe Autor*innenkollektiv, Offener Brief an die KMK). Auch ein gut gemachter Fernunterricht kann unter den gegenwärtigen Bedingungen für einen erheblichen Teil der Schülerinnen und Schüler nicht als angemessene Alternative zur Präsenzsituation in der Schule angesehen werden. Damit ist nicht zuletzt der in der UN-KRK verankerte Grundsatz der Chancengleichheit betroffen (Art. 28 Abs. 1, 1. Halbsatz UN-KRK).

Besonders hart treffen die Schulschließungen auch Kinder mit Behinderungen. Sie benötigen spezielle pädagogische Unterstützung und Assistenz, die ihnen mit den Corona-Beschränkungen teilweise weggebrochen sind (vgl. Goldan/Geist/Lütje-Klose). Infolge von Schulschließungen wird folglich auch die besondere Gewährleistung des Rechts auf inklusive Beschulung nach Art. 24 UN-BRK temporär aufgehoben.

Rechtfertigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes

Eingriffe in Menschenrechte der Kinder, wie sie durch die Schließung der Schulen geschehen, können aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sein. Den Staat trifft eine Schutzpflicht für die Gesundheit in der Schule (vgl. Mangold). Das Recht auf Leben und Gesundheit hat völkerrechtlich – und auch im Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) – einen hohen Rang. Aber es steht nicht allein und über allen anderen Rechten.

Vor allem muss die Verhältnismäßigkeit beachtet werden, wie § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG auch einfachgesetzlich festlegt. Das heißt konkret, dass Schulschließungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, beziehungsweise dem Schutz der Gesundheit geeignet und erforderlich, aber auch zumutbar sein müssen. Das wiederum bedeutet, dass die Länder immer genau prüfen müssen, ob weniger einschneidende Maßnahmen vorhanden sind und, ob in Abwägung mit den Belangen des Gesundheitsschutzes das Menschenrecht auf Bildung Vorrang beansprucht.

Die Länder haben dabei einen Prognose- und Einschätzungsspielraum, müssen aber die Infektionslage genau beobachten und jede Maßnahme auf der Grundlage aktuell verfügbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse treffen. Es ist daher überfällig, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) nunmehr wöchentlich aktualisierte Daten zur „Covid-19-Lage an Schulen“ veröffentlicht, sowie auf die Weiterentwicklung der Datengrundlage hinwirkt. Die KMK hat darüber hinaus beschlossen, vertiefte wissenschaftliche Analysen zu den Infektionsrisiken des Schulbetriebs in Auftrag zu geben (siehe Beschluss vom 20.11.2020 unter 5.). Das ist auch dringend nötig, denn die Rolle von Schulen und Schulkindern im Infektionsgeschehen ist weiterhin nicht geklärt.

Befundlage zur Erkrankung an Covid-19 und Infektionshäufigkeit

Klar ist mittlerweile, dass Kinder an dem Virus deutlich seltener symptomatisch erkranken als Erwachsene, dass es selbst in Risikogruppen kaum zu schweren Krankheitsverläufen kommt und dass die Sterblichkeitsrate unter Minderjährigen äußerst gering ist (vgl. Robert-Koch-Institut, im Folgenden: RKI). Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch bei Kindern vereinzelt zu schweren Krankheitsverläufen bis hin zu Todesfällen kommt. Das Risiko liegt allerdings in einem so geringen Bereich – statistisch gesehen liegt es im Straßenverkehr deutlich höher – dass es durch Hygienemaßnahmen, Gesundheitschecks, aber vor allem durch das sofortige Handeln beim Auftreten von Infektionen, kontrollierbar und damit akzeptabel erscheint (so i.E. auch das RKI).

Deutlich schwerer ist weiterhin das Übertragungs- und Verbreitungsrisiko unter Schulkindern einzuschätzen. Dass die Schulen – wie teilweise behauptet – „Treiber“ der Pandemie sind, lässt sich anhand der vorliegenden Studien nicht belegen. So stellt das RKI in Bezug auf die Empfänglichkeit („Suszeptibilität“) für SARS-CoV-2-Infektionen ausdrücklich fest: „In Studien, in denen Kontaktpersonen von infektiösen Personen untersucht wurden, zeigte sich bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen meist eine geringere Empfänglichkeit“.

Es lässt sich jedoch auf der anderen Seite auch nicht behaupten, die Schulen spielten beim Infektionsgeschehen keine Rolle. So ist nach derzeitigem Erkenntnisstand davon auszugehen, „dass Kinder – wie bei anderen respiratorischen übertragbaren Erkrankungen – relevant zu einer Verbreitung von COVID-19 beitragen“ (RKI, S. 6).

Wird damit also vor allem das (erwachsene) pädagogische Personal an den Schulen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt? Auch dies wird mitunter behauptet, lässt sich aber durch die vorliegenden Daten gleichfalls nicht bestätigen. So liegt die Infektionsrate unter den Lehrkräften laut KMK-Zahlen derzeit in etwa im Durchschnitt der erwachsenen bundesdeutschen Bevölkerung. Ein signifikant höheres Infektionsrisiko als das, welches andere „systemrelevante“ Berufsgruppen – wie Polizist*innen, Mitarbeiter*innen im Einzelhandel etc. – zu tragen haben, ist derzeit jedenfalls nicht erkennbar. Damit soll die besondere Leistung von Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeitenden in den Schulen nicht kleingeredet werden – gerade in der Pandemie zeigt sich, weshalb die Bildungseinrichtungen und ihre Mitarbeitenden für die Gesellschaft so wichtig, ja „systemrelevant“ sind.

Vorgehen der Länder entspricht der Verhältnismäßigkeit

Es zeigt sich also, dass das von den Ländern und der Kanzlerin vereinbarte anlassbezogene und gestufte Vorgehen – bei grundsätzlichem Vorrang des Präsenzunterrichts – dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Der dem Staat obliegende grundrechtliche Schutzauftrag wird durch eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt.

Zu nennen sind als Neuerungen gegenüber den schon bisher geltenden Hygieneregelungen die Maskenpflicht im Unterricht ab der 7. Klasse, die Bildung von stabilen Klassenverbänden und die Verbesserung der Kontrollstrategien. Bei einer regionalen Inzidenz von 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche soll für die älteren Jahrgangsstufen in den Hybrid- beziehungsweise Wechselunterricht übergegangen werden. Hervorzuheben ist auch die neue Regelung zur Quarantäne bei bestätigten Infektionen bei Schülern. In diesem Fall soll umgehend eine häusliche „Clusterisolierung“ der Lerngruppe, beziehungsweise Klasse, für fünf Tage erfolgen, bevor alle betroffenen Schüler einer Schnelltestung unterzogen werden, bevor sie an die Schule zurückkehren. Zwar werden Lehrkräfte nach dem gemeinsamen Beschluss nicht in die Clusterisolierung einbezogen, aber es wird empfohlen, dass sie einen Schnelltest bekommen und bis zum Negativbefund in Quarantäne bleiben. Dass die Bundesländer bei diesen Maßnahmen in einzelnen Punkten – zum Beispiel den Inzidenzzahlen – von den RKI-Empfehlungen abweichen, oder einzelne Länder strengere Regelungen eingeführt haben (wie die Maskenpflicht für alle Jahrgänge in Bayern), liegt im Rahmen ihres jeweiligen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums.

Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass die Maßnahmen des Teil-Lockdowns wirksam sind und Infektionszahlen nicht weiter oder wieder steigen. Dann wird auch über einen temporären Wechsel in den Hybrid- oder Fernunterricht nachzudenken sein (vgl. Empfehlungen Expert_innenkommission FES). Grundsätzlich gilt: Ein anlassbezogenes und regionales Einschreiten ist immer das mildere Mittel gegenüber einer generellen Schließung von Bildungseinrichtungen. Unter den gegebenen Umständen ist es richtig, dass die Länder dem Recht auf Bildung Vorrang einräumen.

Der Text beruht in Teilen auf meinem Beitrag „Schulrechtliche Herausforderungen in der Corona-Pandemie“ in: Fickermann/Edelstein (Hg.): „Langsam vermisse ich die Schule…“ Schule während und nach der Corona-Pandemie, DDS Beiheft 16, 2020, S. 105-116.


One Comment

  1. Liske Thu 10 Dec 2020 at 14:33 - Reply

    Danke für den Beitrag. Wieso wird kein Bezug auf den neuen §28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG genommen? Der wäre hier ja als speziellere Norm die einschlägige Rechtsgrundlage…

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