Wachgeküsst: Der französische Verfassungsrat aktiviert erstmals die Fraternité – im Ausländerrecht
Am 6. Juli 2018 entschied der französische Verfassungsrat, dass die Regelungen über die Strafbarkeit von Menschen, die Ausländer ohne Rechtsstatus unterstützen, zum Teil verfassungswidrig sind. Dabei bezog sich der Verfassungsrat erstmals auf den Verfassungsgrundsatz der Brüderlichkeit. Die Entscheidung hat mehrere Dimensionen. Natürlich ist sie für die französische Rechtspraxis von Bedeutung; sie klärt einige wichtige Fragen des französischen Ausländerstrafrechts. Zugleich regt sie dazu an, einen vergleichenden Blick auf das deutsche Ausländerstrafrecht (§§ 95, 96 Aufenthaltsgesetz) und auf das Grundgesetz zu werfen: Was sagt eigentlich die deutsche Verfassung über Brüderlichkeit bzw. über Solidarität?
Wir lesen die Entscheidung aber auch – unabhängig von den Intentionen der französischen Richter – als ein Signal an und für die europäische Flüchtlingspolitik. Geprägt von tiefen Konfliktlinien, sucht sie derzeit in der Sache wie rhetorisch nach Halt. Manche deutsche Politiker, die im Wahlkampfmodus aufgehen, versuchen den Begriff einer europäischen Schutzgemeinschaft neu zu besetzen: Er soll jetzt einen festungsartigen Schutz vor Flüchtlingen meinen. Die Entscheidung zeigt, woran solche Bestrebungen abprallen müssen: An elementaren humanitär-moralischen Grundsätzen, die mit dem Recht verschmolzen sind. Im Flüchtlingsrecht schützt ein Wir andere Menschen, die Hilfe benötigen.
Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle
Der Kassationsgerichtshof (Strafkammer) legte im Rahmen der sogenannten Question priori-taire de constitutionnalité (QPC) dem Verfassungsrat die Frage vor, ob Artikel L. 622-1 und Art. L. 622-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern sowie über das Asylrecht (CESEDA) verfassungsmäßig sind. Eine solche konkrete Normenkontrolle kann im Gegensatz zu Deutschland nicht durch das Gericht von Amts wegen erfolgen, sondern nur auf Antrag einer Partei. Soweit das Gericht den Antrag für zulässig erachtet, leitet es ihn je nach Rechtsweg an den Staatsrat (Verwaltungsgerichtsbarkeit) oder die Kassationsgerichtshöfe (ordentliche Gerichtsbarkeit) weiter. Die obersten Gerichte dienen als Filter und prüfen nochmals die formalen Voraussetzungen. Wird die QPC an den Verfassungsrat weitergeleitet, so erklärt dieser innerhalb von 3 Monaten die Norm für vereinbar oder unvereinbar mit der Verfassung. In letzterem Fall wird die Norm aufgehoben. Die Aufhebung kann auch wie im hiesigen Verfahren auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden, um dem Gesetzgeber eine Neuregelung zu ermöglichen (Art. 62 der Verfassung).
Das Solidaritätsdelikt
Die nun ergangene Entscheidung des Verfassungsrats hat in Frankreich ein großes mediales Echo hervorgerufen. Die im öffentlichen Diskurs meist als Solidaritätsdelikt („délit de solidarité“) bezeichnete Norm sorgt seit Jahren für Diskussionen in der französischen Gesellschaft, da sie – so der Vorwurf – letztlich mitmenschliches solidarisches Verhalten sanktioniere. Besonders zugespitzt hat sich die Frage in der Person des Bauern Cédric Herrou, der unweit der italienischen Grenze lebt und dessen Strafverfahren auch Ausgangspunkt der Entscheidung des Verfassungsrats war. Cédric Herrou erlangte in den letzten Jahren Berühmtheit, da er wiederholt Ausländern bei der illegalen Einreise nach Frankreich geholfen und bei sich aufgenommen hatte. Er wurde hierfür strafrechtlich verurteilt und mehrmals in Polizeigewahrsam genommen.
Die Entscheidung betrifft Art. L. 622-1 CESEDA. Diese Norm kriminalisiert die Erleichterung der illegalen Einreise, der Freizügigkeit oder des unerlaubten Aufenthalts eines Ausländers in Frankreich. Art. L. 622-4 CESEDA statuiert eine Ausnahme von dieser Strafbarkeit für bestimmte Personen, die einen unerlaubten Aufenthalt (d. h. nicht die Einreise und nicht die Freizügigkeit) unterstützen. Es handelt sich dabei um Verwandte und Ehegatten des Ausländers sowie Menschen, die aus humanitären Motiven handeln. Unter letzteren versteht die Norm genauer „jede natürliche oder juristische Person, wenn für die vorgeworfene Handlung keine direkte oder indirekte Gegenleistung erbracht wird und die Handlung darin besteht, Rechtsberatung oder Verpflegung, Unterbringung oder medizinische Versorgung zur Gewährleistung menschenwürdiger und anständiger Lebensbedingungen oder sonstige Hilfe zur Wahrung der Würde oder der körperlichen Unversehrtheit des Ausländers zu erbringen“ (Art. L. 622-4 Abs. 3 CESEDA).
Die hinter der Beihilfe stehende nationale Strafbarkeit der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts steht in einem Spannungsverhältnis zur europäischen Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger). Das darin begründete Ziel, den illegalen Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zügig durch Rückführung zu beenden, wird nämlich durch ein Strafverfahren verzögert. Diese Spannung wurde in Frankreich so behoben, dass der Gesetzgeber Art. L. 621-1 CESEDA, der den illegalen Aufenthalt unter Strafe stellt, aufhob. An der Strafbarkeit der illegalen Einreise hielt der französische Gesetzgeber jedoch fest (Art. L. 621-2 CESEDA).
Die Entscheidung des Verfassungsrats
Der Verfassungsrat trifft in seiner Entscheidung im Wesentlichen zwei Aussagen: (1) Art. L. 622-1 Abs. 1 und Art. L. 622-4 CESEDA sind insoweit verfassungswidrig, als die Beihilfe zur Freizügigkeit von illegal aufhältigen Ausländern sanktioniert wird, (2) in verfassungskonformer Auslegung des Art. L. 622-4 Abs. 3 CESEDA ist davon auszugehen, dass diese Ausnahmebestimmung auch auf sonstige zu humanitären Zwecken geleistete Handlungen anzuwenden ist. Zur Begründung stützt sich der Verfassungsrat auf eine Überlegung, die sicherlich in die französische Rechtsgeschichte eingehen wird, die es aber auch verdient, in der europäischen Rechtsentwicklung wahrgenommen zu werden. Der Verfassungsrat beruft sich auf Art. 2 der Verfassung und den darin enthaltenen Wahlspruch der Republik „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; daneben weist der Verfassungsrat darauf hin, dass dieser Wahlspruch noch in der Präambel und in Art. 72-3 der Verfassung erwähnt wird. Und dann heißt es im typischen knappen französischen Urteilsduktus: „Aus dem Prinzip der Brüderlichkeit folgt die Freiheit anderen zu humanitären Zwecken zu helfen, unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts auf dem Staatsgebiet“ (Rn. 8).
Eine klarstellende Einschränkung folgt freilich direkt im nächsten Absatz. Die Verfassung gewährleiste kein allgemeines Recht auf Einreise und Aufenthalt im Staatsgebiet. Vielmehr stehe dem verfassungsrechtlichen Gut der Brüderlichkeit ein anderes verfassungsrechtliches Gut gegenüber, die Wahrung der öffentlichen Ordnung. Sie umfasse im Bereich des Ausländerrechts die Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Der Verfassungsrat stellt fest, dass das einfache Recht, also Art. L. 622-4 CESEDA, die Beihilfe zur illegalen Einreise und zur Freizügigkeit nicht von Strafe freistelle. Er sieht hier einen Wertungswiderspruch: „Die Hilfe, die dem Ausländer in Bezug auf die Freizügigkeit gewährt wird, begründet jedoch anders als die Hilfe zur Einreise keinen illegalen Zustand“ (Rn. 12). Und dann kommt die entscheidende Passage: „Indem der Gesetzgeber jede der Freizügigkeit dienende Hilfe für die sich illegal aufhaltenden Ausländer sanktioniert, darunter auch die aus humanitären Zwecken geleistete Hilfe, die akzessorisch zur Beihilfe zum illegalen Aufenthalt ist, hat er das Prinzip der Brüderlichkeit und das Verfassungsziel der Wahrung der öffentlichen Ordnung nicht ausgewogen in Einklang gebracht. Somit ist die Norm verfassungswidrig“ (Rn. 13).
Die zweite Kernaussage der Entscheidung betrifft den Umfang der Straffreistellung in Art. L. 622-4 Abs. 3 CESEDA: Der Verfassungsrat sieht hier keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Brüderlichkeit, ein unverhältnismäßiger Ausgleich zwischen der Brüderlichkeit und der Wahrung der öffentlichen Ordnung liege nicht vor. Er weist aber darauf hin, dass die Norm – in verfassungskonformer Auslegung – „auch auf alle anderen zu humanitären Zwecken geleisteten Handlungen anzuwenden“ ist.
Legalität und Illegalität
Die Entscheidung des Verfassungsrats setzt dem „Solidaritätsdelikt“ Grenzen, schafft es jedoch nicht ab. Die bereits geltende gesetzliche Strafbefreiung für die humanitär motivierte Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt wird verfassungsrechtlich aufgeladen; sie drückt den Grundsatz der Brüderlichkeit aus. Zugleich erfordert dieser Grundsatz, die humanitär motivierte Hilfe bei der Freizügigkeit illegaler Ausländer ebenfalls von Strafe freizustellen, weil diese die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt. Die Brüderlichkeit endet allerdings an der Grenze, da die Hilfe zur illegalen Einreise weiterhin strafbar ist.
Die Entscheidung offenbart die Spannungen, die der Status „irregulärer Migrantinnen und Migranten“ innerhalb einer Rechtsordnung wohl zwangsläufig erzeugt. Einfachrechtliche Illegalität kontrastiert mit verfassungsrechtlicher Legalität. Irreguläre Migranten haben einfachrechtlich gar keinen Status. Aber verfassungs- und menschenrechtlich bleiben sie Träger elementarer Rechte. Der illegale Aufenthalt führt nicht zum Verlust dieser Rechte. Die damit verbundenen Spannungen müssen, so kann die Entscheidung gelesen werden, ausgehalten werden.
Reichweite der Brüderlichkeit
Der Verfassungsrat gibt dem Gedanken der Brüderlichkeit eine interessante Auslegung. Die Beziehung der Brüderlichkeit, die wir hier mit dem Gedanken der Solidarität gleichsetzen, besteht zwischen Menschen, die sich gegenseitig Hilfe versprochen haben. Sie kann damit, darauf hat vor längerer Zeit Jürgen Brand aufmerksam gemacht, theoretisch von der aus Barmherzigkeit geleisteten caritas unterschieden werden. Praktisch verschwimmen die Grenzen allerdings oft. Aber darauf kommt es bei der Entscheidung des Verfassungsrates gar nicht an. Wichtiger ist der Personenkreis, der Brüderlichkeit übt: Nach dem Verfassungsrat umfasst der Personenkreis, der in Brüderlichkeitsbeziehungen steht, nicht nur Staatsangehörige und legal aufhältige Ausländer. Auch die Solidarität, die illegal aufhältigen Ausländern gegenüber geleistet wird, ist eine von der Verfassung anerkannte Solidarität. Auch diese Ausländer sind Teil der Solidargemeinschaft. Die Solidarität ist nur insofern beschränkt, als Solidaritätsübung gegenüber Personen, die sich außerhalb des Territoriums aufhalten, nicht anerkannt wird. Brüderlichkeit ist nicht universell.
Ein Blick in das deutsche Recht
Es wird interessant sein, weiter zu beobachten, ob der Verfassungsrat den Grundsatz der Brüderlichkeit auch in anderen Kontexten aktiviert. Darüber wollen wir hier nicht spekulieren, sondern lieber den Blick auf das deutsche Recht richten. Im deutschen Ausländerstrafrecht ist eine Argumentation, die derjenigen der Entscheidung des Verfassungsrates vergleichbar wäre, nicht ohne weiteres möglich. Dies liegt zunächst natürlich daran, dass die Solidarität als solche im deutschen Recht nur schwer als Prinzip mit Verfassungsrang identifiziert werden kann. Solidarität ist eine horizontale Beziehung zwischen Privaten. Eine Norm, die solche Beziehungen verfassungsrechtlich approbieren würde, ist nicht ersichtlich. Der Text des Grundgesetzes enthält keine entsprechende Referenz. Sachlich steht einer verfassungsrechtlichen Relevanz des Solidaritätsgedankens die Trennung von Staat und Gesellschaft entgegen, die in der deutschen Verfassungstheorie als fundamental gilt.
Das Sozialstaatsprinzip ist unergiebig, weil es vor allem auf die vertikale Beziehung von Staat und Bürger bezogen wird. Es lässt die dahinterstehende, horizontale Solidarbeziehung verfassungsrechtlich unterbelichtet. Die Verfassungsrechtswissenschaft hat gegenläufige Interpretationen des Solidaritätsgedankens vorgelegt. So sind nach Uwe Volkmann die Grundrechte „Prozessoren“ auch der Solidarität, d. h. die Grundrechte ermöglichen und sichern Solidarbeziehungen. Otto Depenheuer sieht Solidarität als vorverfassungsrechtliches, d. h. auch den Grundrechten vorausliegendes Prinzip an, das den Staat zu einer homogenen Solidargemeinschaft forme. Anknüpfungspunkte sind also da, aber es ist schwierig, die gesetzlichen Regelungen des deutschen Ausländerstrafrechts „solidaritätsrechtlich“ zu durchleuchten.
Der Gesetzgeber hat die Normen über die Strafbarkeit der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts trotz ihres Konflikts mit der Rückführungsrichtlinie bislang beibehalten (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Aufenthaltsgesetz (Vorschläge zur Anpassung wurden von der Wissenschaft unterbreitet). Im Grundsatz ist anerkannt, dass die humanitär motivierte Unterstützung der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts nicht als Beihilfe zu einem Delikt nach § 95 Aufenthaltsgesetz strafbar ist. Art. 96 Aufenthaltsgesetz betrifft nur die Schleuserkriminalität. Gleichwohl ist es im Einzelfall oft schwierig, die Abgrenzung zwischen strafbaren und nicht strafbaren Verhaltensweisen vorzunehmen. Wenn die Grundrechte Handlungen schützen, die innerhalb von Solidaritätsbeziehungen angesiedelt sind, können hier Impulse gewonnen werden. Die deutsche Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sollte weiter darüber nachdenken, welche verfassungsrechtliche Relevanz Brüderlichkeit hat – und welche Folgen daraus für das einfache Recht zu ziehen sind. Natürlich auch im Ausländerrecht.
In Bayern ( bei der CSU) hat man Spezis. Brüder gibt es da eher nur in einer Familie oder im Glauben und in der Regel nicht darüberhinaus im Ausland.
“Bei einem Ausländer, etwa vor einem in der Schlange beim Bäcker, kann man mitunter nicht ohne weiteres wissen, ob dieser hochausgebildeter IT-Spezialist ist”, und damit eher brüderlich sein kann. “Oder ob dieser islamischer Terrorist ist” und daher teils eher weniger brüderlich scheint.
Brüderlichkeit kann begrifflich zunächst ziemlich vage wirken und grundsätzlich zumindest hier noch einige Konkretisierung erfordern.
Danke für den Beitrag – und zwei Fragen:
1. Stimmt es wirklich, dass der Verfassungsrat (gar) keine Brüderlichkeit “gegenüber Personen, die sich außerhalb des Territoriums aufhalten”, anerkennt?
Zwar soll die Geschwisterlichkeit es nicht verbieten, Hilfe zur illegalen Einreise zu bestrafen. Aber ob sie es z.B. verbieten könnte, Lebensrettung bei Seenot staatlich zu verhindern oder zu bestrafen, ist damit doch nicht gesagt? Vielleicht ist der Grundsatz der Brüderlichkeit dann aber doch universell?
2. Der Grundsatz wirkt ja hier nicht nur zwischen Privaten, sondern entfaltet gerade abwehrrechtliche Wirkungen gegenüber dem Staat, nämlich als ein abwehrrechtliches Verbot der Bestrafung privaten Handelns – oder?
Überschneidet er sich insoweit nicht mit Freiheit und Gleichheit als Quelle von Abwehrrechten, deren Aussagen er insoweit konkretisiert, bekräftigt und verstärkt?
Freiheit und Gleichheit in ihrer Abwehrfunktion gegenüber dem Staat sind ja aber zweifellos auch im Grundgesetz verankert, nämlich in Menschenwürde und Grundrechten. Liegt es dann aber nicht nahe, dass auch das Grundgesetz mit der Freiheit und Gleichheit aller Menschen der Bestrafung von Akten der Mitmenschlichkeit Grenzen setzt – und jedenfalls insoweit ebenfalls einen Grundsatz der Geschwisterlichkeit anerkennt?
Lieber Mathias,
wir fangen mit Frage 2 an, das würden wir ähnlich sehen. Der Gedanke der Brüderlichkeit verstärkt die grundrechtliche Stellung gegenüber dem Staat, und umgekehrt. Daraus ergibt sich ein Hinweis für Frage 1: Brüderlichkeit, so wie wir sie verstehen würden, verbietet gar nichts, sondern muss vom Staat – in zu präzisierenden Grenzen – anerkannt werden. Die Seenotrettung könnte man in das Verständnis von Brüderlichkeit, das der Verfassungsrat zugrunde legt, sicherlich nicht einbeziehen. Die Brüderlichkeit soll auf Handlungen auf dem Staatsgebiet begrenzt sein. Eine andere Frage ist, ob das richtig ist. Selbst wenn Brüderlichkeit universell ist, kann daraus vermutlich nicht die Straffreiheit einer jeden Handlung abgeleitet werden.
Danke. Zur ersten Frage (keine universelle Geltung) bin ich noch nicht ganz überzeugt. Ergibt sich aus der Entscheidung wirklich eine kategorische Begrenzung des Grundsatzes auf Handlungen innerhalb des Staatsgebiets?
Ihr schreibt ja: “Die Verfassung gewährleiste kein allgemeines Recht auf Einreise und Aufenthalt im Staatsgebiet. Vielmehr stehe dem verfassungsrechtlichen Gut der Brüderlichkeit ein anderes verfassungsrechtliches Gut gegenüber, die Wahrung der öffentlichen Ordnung.”
Aus Sicht deutscher Grundrechtskategorien klingt das ja eher so, als ob nicht schon der Schutzbereich für die (verstärkende) Wirkung des Geschwisterlichkeitsgrundsatzes territorial begrenzt wird, sondern das Ganze erst das Ergebnis einer Abwägung mit der öffentlichen Ordnung, also einer Art Rechtfertigungsprüfung ist, oder?
Dann aber scheint es doch zumindest nicht ausgeschlossen, dass insoweit zwischen Hilfe zur illegalen Einreise und Lebensrettung vor dem Ertrinken zu unterscheiden sein könnte? Dass Hilfe zur illegalen Einreise verboten und bestraft werden kann (= dieser Eingriff in der Abwägung gerechtfertigt ist) muss dann aber doch noch nicht heißen, dass auch das Verbot oder die Bestrafung einer vor dem Ertrinken bewahrenden Hilfeleistung außerhalb des Staatsgebiets mit dem Grundsatz der Geschwisterlichkeit oder Mitmenschlichkeit vereinbar wären (= als Eingriff gerechtfertigt werden könnten)?