15 January 2014

Wahlrechtsurteil: Italiens Verfassungsgerichtshof ersetzt die Politik

1. – Mit einem rechtlich gewagten sowie politisch kontroversen Urteil hat der italienische Verfassungsgerichtshof (itVerfGH) umfassende Teile des Wahlgesetzes für das nationale Parlament für verfassungswidrig erklärt.

Das Wahlgesetz vom Dezember 2005 (Nr. 270) stellte die Grundlage für die Parlamentswahlen von 2006, 2008 und 2013 dar. Das Gesetz ersetzte das vorangegangene, aus dem Jahr 1993, das ein gemischtes Wahlsystem eingeführt hatte, in dem die Parlamentarier zu 75 Prozent in Einmannwahlkreisen und zu 25 Prozent mit dem Verhältniswahlsystem auf geschlossenen Listen gewählt wurden.

Das mit Gesetz 270/2005 eingeführte Wahlsystem legte ein höchst kompliziertes Verhältniswahlmodell fest: einerseits unterschiedliche Sperrklauseln in der Abgeordnetenkammer und im Senat, die wiederum variierten, je nachdem, ob mehrere wahlwerbende Parteien ein Listenbündnis eingingen oder nicht; andererseits einen Mehrheitsbonus von 55% in der Abgeordnetenkammer für das siegreiche Listenbündnis und die ähnlichen Mehrheitsboni für die Senatswahl in jeder Region; und zudem die geschlossene Listen. In diesem Modell bilden die Ausnahme die Senatswahlkreise in der Region Trentino-Südtirol – in der die Einmannwahlkreise in Kraft geblieben sind – sowie jene in der Region Valle d´Aosta – in der über die Einmannwahlkreise jeweils nur ein Abgeordneter und ein Senator gewählt werden.

Mit Urteil vom 13. Jänner 2014 Nr. 1 hat der Verfassungsgerichtshof zwei der grundlegenden Mechanismen dieses Wahlgesetzes für rechtswidrig erklärt: den Mehrheitsbonus (sowohl für die Abgeordnetenkammer als auch für den Senat) und die geschlossenen Listen (die Vorzugsstimmen verhinderten).

In der Folge bleibt ein rein proportionelles Wahlsystem für beide Kammern in Kraft; mit der Möglichkeit, eine einzige Vorzugsstimme abzugeben. Zum Zeitpunkt scheint es so gut wie sicher, dass das Parlament ein neues Gesetz in Richtung Mehrheitswahlrecht verabschieden wird.

2. – Der erste innovative Aspekt dieses Urteils liegt in der Zulässigkeit der Verfassungsklage. In Italien ist keine Verfassungsbeschwerde vorgesehen, aber der vorliegende Fall stellt ein funktionales Äquivalent dazu dar. Die Beschwerde ist von einem Bürger eingereicht worden, der sich in seinen durch die Verfassung garantierten politischen Rechte geschädigt sah. Nachdem die Streitfrage von den Gerichten erster und zweiter Instanz abgewiesen worden war, war es hingegen der Kassationsgerichtshof – der die Klage als nicht unbegründet ansah –, der den Verfassungsgerichtshof anrief. Obgleich dieser in Vergangenheit ähnliche Klagen immer für unzulässig erklärt hatte, ließ er die Klage dieses Mal zu und hielt sie für begründet.

Dabei darf der Einfluss des politischen Kontexts, in dem sich diese Angelegenheit entwickelt hat, nicht außer Acht gelassen werden. Schon seit seiner Verabschiedung wird das Wahlgesetz aufs Schärfste kritisiert. Auch von den selben politischen Kräften, die das Gesetz verabschiedet haben, also die damals von Silvio Berlusconi angeführte Mehrheit. Auch in der wissenschaftlichen Debatte sind große Zweifel über die Verfassungsmäßigkeit vorgebracht worden. Zudem hatten in der vergangenen Legislatur die politischen Kräfte während der von Mario Monti geführten Regierung zugesagt, das Wahlgesetz zu ändern, was sie bekanntlich nicht hielten.

Die Wahlen vom Februar 2013 haben neuerlich zu einer politisch verwickelten Situation geführt: die Mitte-Links-Koalition hat in der Abgeordnetenkammer vom Mehrheitsbonus profitiert (55 Prozent der Abgeordneten), obgleich sie weniger als 30 Prozent der Stimmen und nur 140.000 Stimmen mehr als die Mitte-Rechts-Koalition auf sich vereinen konnte. Hingegen hat Mitte-Links bei der Senatswahl nicht die absolute Mehrheit der Sitze erreicht, obwohl sie in absoluten Zahlen ausgedrückt einen größeren Vorsprung auf Mitte-Rechts erreichen konnte. Aufgrund der erwähnten Mehrheitsboni auf regionaler Ebene kam aber das Wahlsystem in den größeren Regionen Mitte-Rechts oder eben der Oppositionsbewegung “5 Stelle” entgegen.

Da der Regierung in beiden Kammern das Vertrauen ausgesprochen werden muss, kam es zu einer Regierung der großen Koalition zwischen der Partei mit der relativen Mehrheit im Senat (PD-Partito Democratico), der Partei von Mario Monti (Scelta Civica – SC) und jener von Silvio Berlusconi (PdL – Popolo della libertà), die sich später – nach dem Amtsverfall von Silvio Berlusconi – in zwei Kräfte teilte (FI – Forza Italia und NCD – Nuovo Centro Destra).

Die Zusage, das Wahlgesetz bald zu reformieren, war eine der vom Staatspräsidenten gestellten Bedingungen, um seine Wiederwahl im April vergangenen Jahres zu akzeptieren. Der Druck auf die Änderung des Gesetzes hat sich auch seitens der öffentlichen Meinung und der Medien immer mehr verstärkt.

In diesem Kontext lässt sich die innovative Rechtsprechung des itVerfGH bezüglich der Entscheidung über die Zulässigkeit der Verfassungsmäßigkeitsfrage erklären. Zumal im Urteil die Zulässigkeit der Frage mit der Notwendigkeit begründet wird, “dass die Gesetze der Verfassungsmäßigkeitsprüfung nicht entzogen werden dürfen, so wie jene für die Wahl der Abgeordnetenkammer und des Senats, die die Regelung über die Zusammensetzung höchster Verfassungsorgane festlegen, welche für die Funktionsweise eines demokratisch-repräsentativen Systems grundlegend sind.”

In anderen Worten: da in Ermangelung der Individualbeschwerde das Risiko besteht, dass sich sehr wichtige Gesetze der Verfassungskontrolle entziehen, muss diese Kontrolle dennoch ermöglicht werden, auch indem eine Beschwerde zugelassen wird, die faktisch eine direkte ist.

3. – In der Sache selbst gab es wenig Zweifel über die Verfassungswidrigkeit des Mehrheitsbonus. Da er nicht an irgendeine Form einer Wahlhürde gebunden war, kam dieser bei jedem Wahlausgang zum Tragen und entwickelte damit einen besonders stark deformierende Wirkung. Somit verletzt er die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Wahlgleicheit. Der itVerfGH erklärt sowohl den nationalen Bonus für die Kammer für rechtswidrig als auch die ähnlichen – aber auf regionaler Basis vorgesehenen – Mehrheitsboni für den Senat. In Erwartung einer möglichen Reform des Parlaments, die tiefgreifend die Rolle des Senats verändern soll, bleibt die Frage offen, wie die regionale Verbindung, die der Senat nach Maßgabe der Verfassung haben muss, garantiert wird (Art. 56 der Verfassung).

Komplexer ist die Frage zu den geschlossenen Listen, denn auch diese sind vom itVerfGH als verfassungswidrig erklärt worden.

Diese hätten nämlich die Verbindung zwischen den Wähler und den Gewähltem verhindert – was dem impliziten Grundsatz der demokratischen Ordnung widerspricht –, weil faktisch den Parteien und eben nicht den Wählern die Auswahl der Gewählten anvertraut wird (insoweit handelt es sich um einen ähnlichen Mechanismus bei der in Deutschland vorgesehenen Zweitstimme).

Allerdings eröffnet sich ein Problem bezüglich der Rechtsfolgen, die die Stattgabe der Klage nach sich zieht. Aufgrund ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist das Wahlgesetz eine verfassungmäßig notwendige Norm, und es kann keine Phase ohne unmittelbar anwendbares Wahlgesetz geben, da ansonsten die Macht zur Auflösung der Kammern durch den Präsidenten der Republik verhindert wäre (Art. 88 Verf.).

Daher: wenn die geschlossenen Listen rechtswidrig sind, muss ein System neuerlich in Kraft treten, das die Abgabe der Vorzugsstimmen ermöglicht. Das letzte Wahlgesetz, das diese vorgesehen hat, war das Verhältniswahlgesetz, das zwischen 1991 und 1993 in Kraft war. In diesem konnte der Wähler nur eine Vorzugsstimme abgeben (bis zum entsprechenden Referendum von 1991 waren es vier Vorzugsstimmen gewesen). Der Gerichtshof lässt über den Interpretationsweg dieses System wieder auferleben, indem er festlegt, “dass die Reihenfolge in der Wahlliste nur in Ermangelung der Vorzugsstimme Gültigkeit erlangt”. Damit ersetzt er – zum Beispiel – den Gesetzgeber in der Entscheidung über die Anzahl der Vorzugsstimmen, die abgegeben werden können. Eine ähnliche Ersetzung des Gesetzgebers vollzieht der itVerfGH, indem er festlegt, wie der Stimmzettel auszusehen hat, indem er vorschreibt, dass darauf ein Feld für die Abgabe der Vorzugsstimme vorzusehen ist (sic).

4.- Zusammengefasst handelt es sich um ein sehr starkes Urteil, in dem der itVerfGH willentlich die Politik ersetzt, nachdem diese sich für lange Zeit als unfähig erwiesen hat, das Problem der Wahlgesetzgebung anzugehen und zu lösen. Es ist nicht nur die starke Sprache Beleg dafür (so wie etwa, wenn der itVerfGH festhält, dass “der Gesamtheit der gewählten Parlamentarier, ohne jede Ausnahme, die Unterstützung der persönlichen Ernennung durch die Bürger fehlt”. Wobei das Gericht übersehen hat, dass doch in zwei Regionen für die Senatswahl das System der Einmannwahlkreise gilt). Sondern auch die Tatsache, dass der abschließende Abschnitt des Urteiles sich zu banalen Fragen erklärt: so wie etwa über die Legitimität des aktuellen Parlaments sowie der vorangegangenen, die aufgrund dieses teilweise für verfassungwidrig erklärten Gesetzes gewählt worden sind. Aber auch die – eigentlich selbstverständlichen – Hinweise, dass die von diesen Parlamenten erlassenen Rechtsakte rechtmäßig bleiben. Dies ist vonseiten des itVerfGH insgesamt als Präzisierung zu verstehen, die darauf ausgerichtet ist, auf die politischen und medialen Debatten zu antworten, die sich nach der Ankündigung des Urteils entwickelt haben.

Es handelt sich also insgesamt um eine bewusste Ersetzung der Politik durch das Gericht. Was emblematisch für die Notstandslage ist, die das Land durchlebt. Eine Notstandslage, die recht häufig direkt oder indirekt als Erklärungshilfe für Normen und Entscheidungen herangezogen wird, die nur schwer mit dem Verfassungstext vereinbar sind. Wie es eine wichtige Tageszeitung zusammenfasst, hat es sich um “ein Erdbeben im Interesse des Volkes” gehandelt. Summa iniuria, summum ius?


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  1. Christian Schmidt Thu 16 Jan 2014 at 12:20 - Reply

    Was ich jetzt nicht ganz verstehe ist wieso das Urteil eine bewusste Ersetzung der Politik durch das Gericht ist. Sowie es beschrieben ist scheint es mir eher dass das Gericht Schritt für Schritt das mindeste getan hat um die Verfassungsmässigkeit wiederherzustellen.

    Zum Beispiel, wenn man Artikel 88 so interpretiert das es immer ein Wahlgesetz geben muss, dann muss doch in jedem Fall in dem eine Änderung des Wahlgesetz (oder auch nur eines Teils davon) für verfassungswiedrig erklärt wird, die direkt davor geltende Regelung (die ja verfassungskonform war) wieder gelten. Das ist doch nicht Politik, das eine zwangsläufige und automatische Folge.

  2. Christian Schmidt Wed 22 Jan 2014 at 12:13 - Reply

    Und nun haben sich die Parteien auf eine Reform geeinigt – http://derstandard.at/1389857675035/Italiens-Mitte-Links-Chef-Renzi-stellt-Wahlrechtsreform-Modell-vor.

    Ob die wohl verfassunggemaess ist?

  3. Dr. Manfred C. Hettlage Sat 15 Feb 2014 at 20:16 - Reply

    Dem Urteil des itVerfG in Rom kommt über Italien hinaus große Bedeu- tung zu. Die Wählerstimmen für die italienische “Mehrheitsprämie” in Kammer und Senat sind aus der Luft gegriffen. Das Gericht hat das verworfen. Wer nicht von der Gemeinschaft des Wahlvolkes selbst, eigenhändig, durch freie und geheime Kennzeichnung eines Stimm-zettels gewählt worden ist, kann kein Volksvertreter sein.
    Auch der verhassten “Blockwahl” hat das Gericht in Rom eine klare Absage erteilt. Bei “geschlossenen” Listen können die Wähler nur en bloc mit “Ja” oder “Nein” abstimmen und haben keinen Einfluss auf die Rangfolge, nach der die Abgeordneten in das Parlament einziehen. Auch mit diesem Spruch hat das Gericht Rechtsgeschichte geschrieben.

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