Warum auch das Grundgesetz bestimmten Zurückweisungen an der Grenze entgegensteht
1. Aus aktuellem Anlass scheint es sinnvoll, daran zu erinnern, dass das Grundgesetz gerade auch der Zurückweisung politisch Verfolgter an der Grenze entgegenstehen sollte, und zu betonen, dass es Zurückweisungen bei drohender Verletzung der Menschenwürde richtigerweise auch weiterhin entgegensteht – als eine zusätzliche verfassungsrechtliche Barriere, die zu den völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Hindernissen (dazu hier und hier) noch hinzutritt (vgl. zum Folgenden hier, insbesondere S. 41-43).
In den Beratungen zum Asylgrundrecht im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates 1948 und 1949 ging es gerade auch um die Frage der Zurückweisung an der Grenze. Bei der Erörterung dieser Frage zeigte sich einmal mehr, wie sehr der Parlamentarische Rat mit der Anerkennung eines Menschenrechts auf Asyl für politisch Verfolgte auf die Erfahrungen der politisch verfolgten Emigranten vor und während des zweiten Weltkrieges reagierte.
2. Das Asylgrundrecht ist zwar durch die Verfassungsänderung von 1993 weitgehend seiner Wirksamkeit beraubt worden – und das Bundesverfassungsgericht hat den neuen Art. 16a GG im Drittstaaten-Urteil von 1996 (zu Unrecht) sogar insgesamt für abschaffbar erklärt.
Dieses Urteil hat jedoch zugleich offengelassen, welche Rechte politisch Verfolgter sich aus der Menschenwürdegarantie selbst ergeben: Was der Gewährleistungsinhalt des Art. 1 I GG sei „und welche Folgerungen sich daraus für die deutsche Staatsgewalt ergeben“, sei „eigenständig zu bestimmen“ (vgl. BVerfGE 94, 49 [103 f.]).
Zum Refoulementverbot der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) heißt es in dem Urteil ausdrücklich:
„[G]emäß Art. 33 Abs. 1 GFK darf ein Flüchtling nicht auf irgendeine Weise (“in any manner whatsoever“) über die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zurückgewiesen werden, in denen ihm Verfolgung droht. Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die Abschiebung oder Zurückweisung in solche Staaten, in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat droht.“ (BVerfGE 94, 49 [92 f.], unter Verweis auf die Äußerungen des Sachverständigen Kälin in der mündlichen Verhandlung sowie auf Zimmermann, Das neue Grundrecht auf Asyl, 1994, S. 171 f.).
3. Die Frage, ob auch die Menschenwürdegarantie Zurückweisungen an der Grenze verbietet, ist (aus den hier näher ausgeführten Gründen) zu bejahen: Jedenfalls aus der Menschenwürdegarantie selbst folgt ein Grundrecht auf Non-Refoulement (als Abwehrrecht), also ein Recht, nicht solchen Maßnahmen des Refoulement (wie Abschiebungen, Auslieferungen oder eben Zurückweisungen an der Grenze) unterworfen zu werden, die die Betroffenen in einem anderen Staat einer Menschenwürdeverletzung aussetzen – etwa durch eine Kettenzurückweisung in einen Staat, in dem ihnen Folter droht.
Dieses zum Identitätskern der Verfassung (Art. 79 III i.V. mit Art. 1 I und Art. 23 I 3 GG) zählende Zurückweisungsverbot ist selbst bei einer unionsrechtlichen Rechtslage, die davon (anders als die jetzige) abweicht, weiter am Maßstab der deutschen Verfassung zu überprüfen – weil die deutsche Hoheitsgewalt „die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“ darf (vgl. – zur Identitätskontrolle am Maßstab der Menschenwürde bei Auslieferungen – BVerfGE 140, 317 [347 f.]).
4. Die Debatten im Parlamentarischen Rat sind deshalb auch nach der Überlagerung des deutschen Asylgrundrechts durch das Unionsrecht (mit seinem grundsätzlichen Anwendungsvorrang vor der Verfassung) weiterhin von Bedeutung. Denn sie sprechen (neben anderen Gründen) dafür, dass das aus der Menschenwürde folgende Refoulementverbot gerade auch das Recht einschließt, nicht an der Grenze zurückgewiesen zu werden.
Der unmittelbare Kontext, in dem im Parlamentarischen Rat die Frage nach der Zurückweisung an der Grenze erörtert wurde, war die Frage einer Beschränkung des Asylrechts nach der politischen Richtung, in der sich der Verfolgte betätigt hatte.
Vor allem Hermann v. Mangoldt stellte bei der Ablehnung einer solchen Beschränkung das Argument in den Vordergrund, dass dadurch eine Prüfung an der Grenze erforderlich werden könnte, die das Asylrecht letztlich insgesamt unwirksam machen werde. In der zweiten Lesung des Grundsatzausschusses führte er dazu aus:
„Nimmt man eine solche Beschränkung auf, dann kann die Polizei an der Grenze machen, was sie will. Es ist dann eine Prüfung notwendig, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen des Asylrechts vorliegen oder nicht. Diese Prüfung liegt in den Händen der Grenzpolizei. Damit wird das Asylrecht vollkommen unwirksam. Wir haben dafür Erfahrungen aus dem letzten Krieg, namentlich von der Schweiz her. Man kann das Asylrecht nur halten, wenn man die Bestimmung ganz einfach und schlicht fasst:
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“
Er wiederholte diesen Gedanken in der der ersten Lesung im Hauptausschuss:
„Wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgend etwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.“
Dort pflichtete ihm Carlo Schmid bei, indem er anschaulich schilderte, um welchen Erfahrungshintergrund es ging:
„Dann beginnt das Spiel: man schickt den Mann zurück oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es wieder weiter.
(Dr. von Mangoldt: Wir haben unsere Erfahrungen aus dem Krieg.)“
In der zweiten Lesung im Hauptausschuss zog v. Mangoldt das Argument ein weiteres, nunmehr drittes Mal heran, und es fehlte später auch in seinem Kommentar zum Grundgesetz nicht. Die Erfahrung von Flüchtlingen, die an der Grenze abgewiesen von Land zu Land geirrt waren – „an die andere Grenze […], und von dort wieder weiter“ –, ließ v. Mangoldt und Schmid eine Begrenzung auf bestimmte Gruppen von politischen Flüchtlingen als zu riskant erscheinen, weil, wenn die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen letztlich „in den Händen der Grenzpolizei“ lag, die Zurückweisung vielleicht auch die Berechtigten treffen würde.
5. Es ist aus heutiger Sicht zwar offenkundig, dass v. Mangoldts Argumentation nicht ganz schlüssig war. Entweder legitimiert bereits die Voraussetzung einer ‚politischen Verfolgung‘ eine Prüfung an der Grenze – oder es kann auch bei weiteren Voraussetzungen eine Grenzprüfung für unzulässig gehalten und die Einreise bereits bei der bloßen Berufung auf deren Vorliegen ermöglicht werden. Ferner bedachte v. Mangoldt offenbar trotz der bereits bestehenden Einigkeit über die Klagbarkeit der Grundrechte noch nicht die Möglichkeit eines einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes an der Grenze, durch den ja ebenso verhindert werden kann, dass das ‚letzte Wort‘ bei den Grenzbehörden liegt.
Worauf es jedoch, ungeachtet dieser Bedenken an v. Mangoldts Annahme, die fragliche Begrenzung des Personenkreises, und erst sie, ziehe eine Grenzprüfung nach sich, ankommt, ist, dass v. Mangoldt eine solche letztverantwortliche Einreiseprüfung durch die Grenzpolizei als unvereinbar mit der Wirksamkeit des Asylrechts ansah.
Dem Parlamentarischen Rat stand bei seinen Beratungen gerade auch die Situation der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze vor Augen: Das Asylrecht sollte gerade sie vor einer unberechtigten Zurückweisung schützen. Die Unwägbarkeiten bei der grenzpolizeilichen Prüfung der Zugangsberechtigung zum Staatsgebiet gehörten zu der spezifischen historischen Gefährdungslage, auf die das Asylgrundrecht reagieren sollte.
Es dürfte doch mehr als fraglich sein, ob die Überlegungen des Parlamentarischen Rates von vor 70 Jahren, die unter völlig unterschiedlichen faktischen Voraussetzungen erfolgten, für die aktuelle Interpretation der Verfassung überhaupt noch herangezogen werden können.
Verstehe ich Ihre Argumentation richtig wie folgt:
1. Man darf Flüchtlinge nicht in das Fluchtland abschieben, obwohl ein Fluchtgrund besteht.
2. Man darf Flüchtlinge auch nicht in ein anderes Land abschieben, das in das Fluchtland abschiebt, obwohl ein Fluchtgrund besteht.
Ist eine Zurückweisung an bspw. der deutsch-französischen Grenze dann zulässig? Frankreich schiebt Presseberichten zufolge faktisch überhaupt nicht ab, auch nach Ablehnung eines Asylantrags.
Auch dieser Artikel scheint mir doch sehr vereinfachend – und von einem soliden Misstrauen gegenüber Verwaltungsverfahren anderer EU-Staaten geprägt. Am deutschen Wesen…?