Warum das Asylrecht den Daseinsgrund der EU korrodiert
Die EU lebt vom Vertrauen: Ihre Mitglieder müssen einander glauben können, dass sie alle ihre Verpflichtungen einhalten wollen. Nur dann und nur deshalb sind sie bereit, Souveränität abzugeben und selbst Verpflichtungen einzugehen. Es gibt eine Kommission und einen Gerichtshof, die aufpassen und Schluderer und Freeloader zur Ordnung rufen. Aber am Ende funktioniert die ganze Sache nur, wenn jeder vom anderen glaubt, dass alle ihren Teil der Last tragen – im Prinzip und im Großen und Ganzen jedenfalls.
Eines der eklatantesten Beispiele für die Erosion dieses Vertrauens, das gemessen an seinen Auswirkungen viel zu wenig Beachtung findet, ist das europäische Asylregime.
Das sieht vor, dass jeweils der Mitgliedsstaat, in dem ein Flüchtling seinen Fuß in die EU setzt, für das Asylverfahren zuständig sein soll. Probiert er es woanders, wird er dorthin abgeschoben. Das funktioniert, weil und solange die Fiktion aufrecht erhalten werden kann, dass die EU-Mitgliedsstaaten einer so gut wie der andere ist, was das Asylverfahren betrifft: Dann kann man getrost die Verantwortung an den anderen abgeben.
Dass das im Asylbereich nicht mehr der Fall ist, weiß seit Jahren jeder, der es wissen wollte: In Griechenland ist das Asylsystem total zusammengebrochen. Flüchtlinge leben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen. Immer mehr Gerichte weigerten sich, Abschiebungen nach Griechenland zu akzeptieren. Im Januar verurteilte der EGMR Belgien, weil es einen Flüchtling nach Griechenland abgeschoben hatte.
Heute hat auch der EuGH die Reißleine gezogen. Er nennt dabei mit beispielloser Deutlichkeit und Eindringlichkeit beim Namen, was auf dem Spiel steht,
nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet.
Deshalb, so der EuGH, könne nicht jeder geringfügige Verstoß zu einem Abschiebestopp führen. Aber nun ist es eben so, dass im Fall Griechenland dieses Vertrauen in einer Weise nicht mehr gerechtfertigt ist, vor denen man beim besten Willen die Augen nicht verschließen kann, und deshalb ringt sich der EuGH zu folgender Ansage durch:
Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar.
Gegenüber den Versuchen der anderen Mitgliedsstaaten, die Augen gegenüber den griechischen Zuständen ganz fest zuzupressen, wird das Gericht beinahe sarkastisch. Den Regierungen, die behaupten, nicht über geeignete Informationen zu verfügen, um die Risiken in anderen Ländern beurteilen zu können, empfiehlt es die Lektüre der
regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, in denen auf die praktischen Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in Griechenland hingewiesen wurde, (der) an den zuständigen belgischen Minister gesandten Schreiben des UN‑Flüchtlingskommissariats, aber auch (der) Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und die Vorschläge zur Überarbeitung der Verordnung Nr. 343/2003 zwecks der Steigerung der Wirksamkeit dieses Systems und der Stärkung des tatsächlichen Grundrechtsschutzes…
und fügt mit galliger Süffisanz hinzu:
Zu betonen ist die Erheblichkeit der von der Kommission stammenden Berichte und Änderungsvorschläge zur Verordnung Nr. 343/2003, deren Existenz dem Mitgliedstaat, der die Überstellung vorzunehmen hat, in Anbetracht seiner Teilnahme an den Arbeiten des Rates der Europäischen Union, der einer der Adressaten dieser Dokumente ist, nicht unbekannt sein kann.
Natürlich ist auch den EuGH-Richtern klar, dass man nicht einfach die Schuld den Griechen vor die Tür kippen kann. 90% aller illegalen Einwanderer kamen 2010 über Griechenland. Nicht zuletzt Deutschland sträubt sich mit Zehen und Klauen dagegen, den Mittelmeeranrainern einen adäquaten Teil ihrer Last abzunehmen.
Das ist unser Anteil an der Vertrauenserosion, und er ist nicht kleiner als der der Griechen. Die können mit gutem Recht fragen, wer hier eigentlich der Freeloader ist, wenn die Mittel- und Nordeuropäer den Mittelmeeranrainern die ganze Drecksarbeit der Flüchtlingsbewältigung alleine überlassen.
In dem Urteil wird dieser Punkt nur angetippt, aber immerhin:
Außerdem gilt nach Art. 80 AEUV für die Asylpolitik und ihre Umsetzung der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Die Richtlinie 2001/55 ist ein Beispiel für diese Solidarität, doch sollen ihre Solidaritätsmechanismen, wie in der mündlichen Verhandlung dargelegt worden ist, den ganz außergewöhnlichen Situationen vorbehalten sein, die ihr Anwendungsbereich erfasst, d. h. den Fällen eines Massenzustroms von Vertriebenen.
Hallo, ich bin großer Fan Deiner Beiträge, dieses Foto aber im Kontext dieses Thema zu verwenden, finde ich geschmacklos. Der Missbrauch der Szenerie eines Hardcore-Konzertes und das sog. “crowd-surfing” für das Thema Asylrecht ist eine Beleidigung dieser Subkultur.
[…] https://staging.verfassungsblog.de/warum-das-asylrecht-den-daseinsgrund-der-eu-korrodiert/ […]
versteh ich nicht. Das Foto illustriert eine Situation, die es nur bei wechselseitigem Vertrauen geben kann. Das kann man ein bisschen bemüht finden, ok, aber beleidigend?
Einfach mal gut durchatmen. Bald ist Weihnachten.
wenn man es so sieht – ok! ich habe das foto im kontext des beitrages im sinne von “abschieben” verstanden: der junge mann im foto wird gleich einem asylanten abgeschoben…