Warum das Tarifeinheitsgesetz die Falschen trifft
Am 22. Mai 2015 hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Tarifeinheit“ beschlossen, das bei kollidierenden Tarifverträgen in einem Betrieb dem der jeweils größeren Gewerkschaft den Anwendungsvorrang sichert. Dieses Gesetz fordert verfassungsrechtliche Kritik geradezu heraus. Ich habe im Bundestag dagegen gestimmt und in meiner persönlichen Erklärung nach § 31 GO-BT meine eigenen Zweifel an der Verfassungskonformität des Gesetzes zunächst wie folgt formuliert: „Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes postuliert eine Koalitionsfreiheit, die nur durch gleichwertige Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann.“
Schon hier wirft das Gesetz die ersten Fragen auf. Denn zu welchem Zweck die Koalitionsfreiheit eingeschränkt werden soll, ist nicht wirklich klar. In der Gesetzesbegründung wird dazu auf die Wiederherstellung des „Betriebsfriedens“ verwiesen (BT-Drucks. 18/4062, S. 8). Das deutet darauf hin, dass es um die (Wieder‑)Herstellung einer innerbetrieblichen Ordnung geht. Versteht man dies als den (vertraglichen) Rahmen, der die Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (bzw. deren Vertretern in Form der Tarifvertragsparteien) regelt, verstärken sich schon an dieser Stelle die verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn Eingriffe in die „Vertragsparität“ zwischen – jedenfalls gleichstarken – Vertrags- bzw. Verhandlungspartnern lässt die grundgesetzliche Werteordnung im Allgemeinen nur zu, wenn es um den Schutz von Drittinteressen geht, die von diesen Verträgen zumindest mittelbar berührt werden. So hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren – zu Recht – die Freiheitsrechte der an den Finanzmärkten Tätigen mit Blick darauf erheblich eingeschränkt, dass ihr Tun das Finanzsystem als Ganzes in Gefahr bringen kann („systemische Risiken“). Im Familienrecht ist der Gesetzgeber andererseits umso zurückhaltender, je mehr es (nur) um die Festlegung der Rechte und Pflichten der (gleichberechtigten) (Ehe‑)Partner geht, während er den Rechten von Kindern und insbesondere Adoptivkindern umso größere Aufmerksamkeit widmet. Es gilt also mit anderen Worten, die Ausübung von Grundrechten dann – aber auch nur dann – in ihre Schranken zu weisen, wenn sie „Spill-Over-Effekte“ zu Lasten von Dritten haben oder haben können.
Auch der dem Gesetz „zugrundeliegende“ Koalitionsvertrag erkennt diesen Zusammenhang, wenn er ausführt: „Durch flankierende Verfahrensregelungen wird verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen“. Damit nennt er – freilich nur sehr indirekt – den bei Weitem wichtigsten Fall, in dem in den vergangenen Jahren die Grundrechtsausübung der Koalitionspartner solche systemischen Risiken produziert bzw. „Spill-Over-Effekte“ ausgelöst hat. Freiheitsrechte von Vertragspartnern aus diesem Grunde einzuschränken ist nicht nur zulässig, sondern auch geboten! Es sind die gleichen Erwägungen, die bis vor einigen Jahren in manchem dieser Bereiche als Argument für den Einsatz (nicht streikberechtigter) Beamter angeführt wurden. Nur: der Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter und die Vermeidung systemischer Risiken können nicht nur in der Weise bewerkstelligt werden, dass der Staat die entsprechenden Aufgaben in die Hände von Beamten legt, zumal sich die Systemrelevanz von Wirtschaftsbereichen manchmal nicht im Vorhinein erkennen lässt – wie etwa der Bereich der Datenverarbeitung und –übermittlung zeigt. Denn entscheidend ist eine funktionale, nicht eine formale Betrachtungsweise.
Was der Koalitionsvertrag (leider) nicht so deutlich sagt: Zwischen dem Schutz Dritter vor Arbeitskämpfen durch „flankierende Verfahrensregelungen“ und der Zulässigkeit von Eingriffen in die Tarifautonomie selbst gibt es eine kausale Beziehung. Eingriffe in die Tarifautonomie können – mit anderen Worten – nicht mit dem „Selbstzweck“ einfacherer Vertragsgestaltung gerechtfertigt werden, sondern eben nur, um Dritte vor den Folgen von Arbeitskämpfen zu schützen. Beschränkt sich eine Regelung andererseits auf diese „Binnenbeziehungen“, wiegen die verfassungsrechtlichen Bedenken umso schwerer. Koalitionsfreiheit heißt dabei aber nicht nur, kollektiv seine Arbeitsbedingungen auszuhandeln, sondern gerade auch frei entscheiden zu können, wer dies für einen tut – und wer gerade nicht. Auch bedeutet Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur, sich zu entsprechenden Koalitionen zusammen schließen zu können, sondern auch gerade in Koalitionen, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in der Lage sind, für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzutreten!
Beide diese wesentlichen Bestandteile von Art. 9 Abs. 3 GG werden durch das Tarifeinheitsgesetz aber konterkariert. Sollte in einem Betrieb mehr als eine Gewerkschaft Tarifverträge – natürlich jeweils nur für ihre Mitglieder – ausgehandelt haben, die sich vom Inhalt her „überlappen“, so soll dies nach § 4a TVG-neu dazu führen, dass lediglich die (überlappenden) Normen anwendbar sind, die von der „Mehrheitsgewerkschaft“ ausgehandelt wurden. Damit sind in diesem Bereich Verhandlungen über solche Gegenstände für die „Minderheitsgewerkschaft“ tabu: Bei einem umfassenden Tarifvertrag der „Mehrheitsgewerkschaft“ ergibt sich überhaupt kein weiteres Betätigungsfeld. Der „Minderheitsgewerkschaft“ bleibt nach § 4a Abs. 4 TVG-neu lediglich die Möglichkeit, die überlappenden Normen des „Mehrheitstarifvertrags“ nachzuzeichnen – und damit zu akzeptieren, was sie selbst nicht ausgehandelt hat. Damit ist faktisch das erste der oben genannten Elemente der Koalitionsfreiheit ausgeschaltet.
Möchte man als einzelner Arbeitnehmer noch Einfluss auf seine Arbeitsbedingungen nehmen – was faktisch in großen Betrieben nur über die Einflussnahme auf den Tarifvertrag möglich ist – bleibt lediglich die Mitgliedschaft in der „Mehrheitsgewerkschaft“. Somit ist auch die Wahl der Gewerkschaft faktisch für den Einzelnen nicht mehr frei, kann doch über die „Minderheitsgewerkschaft“ nicht mehr auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen effektiv eingewirkt werden.
Die faktische Ausschaltung von Minderheitsgewerkschaften mag zwar auch einen (geringen) Einfluss auf den Schutz von Drittinteressen haben. Im Kern wird das Ziel aber verfehlt – und die gesetzliche Regelung stellt damit schon ein ungeeignetes Mittel dar, die für eine Einschränkung der Tarifautonomie verfassungsrechtlich zulässigen Ziele zu erreichen. Plastisch ausgedrückt: Für den Bürger ist es irrelevant, ob ein Streik, der zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt, von einer Minderheits- oder einer Mehrheitsgewerkschaft verursacht wird. Der in diesem Zusammenhang immer wieder gebrachte Hinweis, dass Eingriffe in das Streikrecht gerade nicht beabsichtigt seien, ist insoweit verräterisch: Gerade solche Eingriffe wären, wenn und soweit Arbeitskämpfe praktisch ausschließlich auf dem Rücken Dritter ausgetragen werden, zulässig – und sogar geboten -, während umgekehrt eine Beeinflussung der gewerkschaftlichen Binnenstruktur der Unternehmen verfassungsrechtlich unzulässig ist.
Sollte man den Ansatz wegen seiner (geringfügig) auch den Dritten zugutekommenden Wirkung aber für zulässig halten, wäre aber darüber hinaus seine Verhältnismäßigkeit fraglich: Denn – wie in der parlamentarischen Diskussion deutlich geworden ist – mit der Möglichkeit, unmittelbar die Arbeitnehmer (und nicht die Gewerkschaftsmitglieder) eines Betriebes über die Vorzugswürdigkeit des einen oder anderen Tarifvertrages abstimmen zu lassen, hätte es eine deutlich weniger (nämlich gar nicht) die Koalitionsfreiheit beeinträchtigende Alternative zur jetzt verabschiedeten Regelung gegeben.
Vor allem aber ist zu berücksichtigen, dass es in der Tat Maßnahmen gegeben hätte, die in verfassungsgemäß zulässiger Weise die Tarifautonomie hätten einschränken können. Zu nennen sind hier vor allem die Regelungen, die wie in zahlreichen anderen europäischen Ländern auch den Schutz der von einem Arbeitskampf Drittbetroffenen sichergestellt hätten. Hierzu zählen insbesondere Ankündigungsfristen, Schlichtungsverfahren, die Koordination oder Begrenzung von Streikzeiten oder die Pflicht zur Aufrechterhaltung einer Grundversorgung. Dies kann bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die bei der Einschränkung von Grundrechten vorzunehmen ist, nicht unberücksichtigt bleiben.
Regelungstechnisch hätten hier zunächst Nachbesserungen bei den schuldrechtlichen Beziehungen (Verträge bzw. öffentlich-rechtliche Schuldverhältnisse) zu Drittbetroffenen nahegelegen, die durch Streiks mittelbar beeinträchtigt werden. Während es hier im Fernverkehr der Eisenbahnen und im Luftverkehr klare Regelwerke gibt, nach denen die Gegenleistung für streikbedingt nicht erbrachte Leistungen zu erstatten ist, herrscht im Bereich der (vor allem öffentlich-rechtlich organisierten) kommunalen Daseinsvorsorge ein unüberschaubarer Flickenteppich vor, der Dritte in zahlreichen Fällen (Kindergärten, Müllentsorgung, ÖPNV, Frachtverkehr) einseitig belastet: eine – letztlich nur klarstellende – Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die auch solche Verhältnisse den wahrscheinlich ohnehin geltenden europarechtlichen Vorgaben unterwürfe, würde schon weiterhelfen. Die aber fehlt.
Darüber hinaus wäre aber auch explizit zu regeln, dass und wann – unabhängig vom Entfallen der Gegenleistungsansprüche – Arbeitskämpfe in „systemrelevanten“ Bereichen der Gesellschaft unzulässig bzw. nur eingeschränkt zulässig sind. Diese Frage wäre dann in die von den Arbeitsgerichten vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Streiks verbindlich einzubeziehen. Fraglich ist aber, ob nicht auch Dritte – im Falle der Kindergärten die Eltern – die Unzulässigkeit eines Streiks wegen Eingriffs in ihre Rechte geltend machen können. Über die „klassischen“ und – jedenfalls früher – typischerweise von Beamten übernommenen Tätigkeiten wie den hoheitlichen Teil der öffentlichen Verwaltung und den Verkehrssektor (einschließlich der elektronischen Kommunikation) hinaus gehören dazu insbesondere auch die Kindergärten – und zwar eher als Schulen und Universitäten. Denn in einer auf die Arbeitstätigkeit beider Elternteile ausgerichteten Gesellschaft ist die (mindestens Möglichkeit einer) Fremdbetreuung kleiner Kinder Funktionsbedingung unserer Gesellschaft geworden. Wer die Gleichberechtigung der Geschlechter mit Hilfe der Quote durchsetzen will, darf der Gesellschaft die praktische Umsetzung dieses Grundsatzes nicht verweigern!
Die für den Fall einer Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten schon angekündigten Verfassungsbeschwerden können damit – so steht zu hoffen – jedenfalls zur Klärung dieser Fragen beitragen. Wenn im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Tarifeinheit immer wieder gesagt wurde, es stelle keinen Eingriff in das Streikrecht dar, stellt sich dabei insbesondere die Frage, ob ein solcher Eingriff nicht zulässig und vielleicht sogar geboten gewesen wäre. Karlsruhe wird uns diese Frage beantworten.