Warum ich gegen die Wahlpflicht bin
crossgepostet auf The European
Da dürfen die Leute endlich wählen, und dann gehen sie nicht hin. Sie gehen im Sommer lieber baden und legen sich im Winter lieber vor den Kamin, die faulen Säcke. Sie schimpfen über „die da oben“ und verachten die schmutzige Politik, aber selbst sind sie nicht einmal in der Lage, ein lappiges Kreuzchen auf den Wahlzettel zu malen. Das geht doch nicht. Wo kommen wir denn da hin. Wenn sie nicht freiwillig wählen gehen, dann muss man sie eben zwingen.
Das Gerede von der Wahl als „staatsbürgerlicher Pflicht“ hat etwas eigentümlich Freudloses, Zopfiges und Gouvernantenhaftes. Als sei Politik eine Härte, eine Last, die man gemeinsam tragen muss, ohne dass sich einer drückt. So etwas wie Wehrdienst oder Steuern zahlen. Daraus spricht die deutsche Lust, den Nebenmann zu belehren, zu schleifen und zu schurigeln, um einer Gemeinschaft willen, die sich nicht von selbst versteht und deshalb allerhand Zusammenhalt stiftender Exerzitien bedarf.
Nicht nur nutzlos, sondern schädlich
Ich halte die Wahlpflicht aber nicht nur für einen unsympathischen Gedanken, sondern auch für einen ausgemachten Blödsinn, und zwar aus zwei Gründen: Erstens bringt’s nichts. Zweitens schadet es noch.
Natürlich ist es nicht schön, dass in Deutschland so viele Leute so griesgrämig über Politik und Demokratie denken und reden. In einer Demokratie gibt es keinen Lieben Gott und keinen väterlichen Monarchen, der auf uns aufpasst und dafür sorgt, dass uns nichts Übles widerfährt. Das müssen wir schon selber tun. Wer über die Politiker schimpft, der meint in Wahrheit nicht selten die Zumutung, sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern zu müssen. Was im Übrigen nichts Neues ist: Über diese krypto-obrigkeitsstaatliche Befindlichkeit sorgen wir seit 40 Jahren. Schon 1966 prägte der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel den Begriff „Parlamentsverdrossenheit“. Er hat uns seither nicht verlassen.
Zurück zur Wahlpflicht: Was würde passieren, wenn man sie einführte? Würde dadurch auch nur ein einziger Politikverdrossener politikvergnügt? Wohl kaum. Im Gegenteil: Damit würde quasi amtlich, was die Politikverdrossenen ohnehin schon insgeheim argwöhnen – dass die demokratische Verantwortung der Bürger für ihr eigenes politisches Schicksal eine Last ist, die man allenfalls widerstrebend auf sich nimmt. Ein Anspruch, den der Staat an das Volk stellt und notfalls mit aller Autorität der Obrigkeit durchsetzt.
Spirale der sich selbst reproduzierenden Unzufriedenheit
Nun kann man einwenden, dass mit der Wahlpflicht immerhin die Demokratie wieder repräsentativer würde: Wenn jeder wählen muss, dann ist auch jeder im Parlament vertreten. Dann würde der Bundestag wieder zu einem Spiegelbild der Gesellschaft, in dem sich alle Interessen proportional zur ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Stärke wiederfinden und politisch wirksam werden.
Schön wär’s. Die meisten Nichtwähler haben sich aber bei ihrer Wahlenthaltung etwas gedacht, vielleicht etwas Ungehöriges, vielleicht sogar etwas Undemokratisches, aber jedenfalls ist sie ihnen nicht nur einfach so passiert. Die Wahlen würden, wenn es eine Pflicht zur Teilnahme gäbe, noch stärker den Charakter von „Protest“- und „Denkzettel“-Wahlen annehmen: Man bringt damit nicht zum Ausruck, dass man für etwas ist und diesem Etwas politisch Geltung verschaffen will, sondern dass man gegen etwas ist, auf mehr oder weniger fundamentaler Ebene. Eine solche Wahl ist Gestaltungsauftrag, sondern ein Obstruktionsauftrag. Sie macht Politik schwerer und schmälert ihre Erfolgschancen und nährt damit die Politikverdrossenheit weiter; eine Spirale der sich selbst reproduzierenden Unzufriedenheit würde entstehen.
Und das soll die Demokratie stärken? Na, vielen Dank.
Sehr geehrter Herr Steinbeis,
ein schöner Beitrag, der es in der Kürz auf den Punkt bringt.
Eine Wahlpflicht ist auch m.E. nicht der Weg der beschritten werden sollte.
Auch die Vorstellungen von Hr. Thießen (SPD) eine Wahlpflicht mit angeschlossener Bestrafung bei Nichtbeachtung ist in Deutschland nicht umsetzbar. Das Geld würde eh nicht gezahlt werden (So wie es in Berlin (und auch überall sonst) nicht von Eltern bezahlt wird, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken und dafür eine Strafe bekommen)
Was sollte die Wahlpflicht auch bringen? Durch die geheime Wahl wäre es trotzdem nicht gesichert, dass nicht jeder “Wahlunlustige” einfach seinen Stimmzettel ungültig macht. I.E. würden dadurch also nur sinnlose Mehrkosten produziert.
Fromme Wünsche wie: “Dann würde jeder Bürger aktiv an der Demokratie beteiligt werden, wie es der CSU-Politiker Mayer verlangt, sind zwar schön, am Ende aber leider nur Phantasien.
Regelmäßig verschlägt es mir die Sprache, wenn ich durch die Stadt fahre, und Menschen dabei zuhöre wie sie sich über “die da oben” schimpfen. Regelmäßig lasse ich mich dann dazu hinreißen, mich zu erkundigen wie sie denn bei der letzten Wahl gestimmt hätten.
Mit wenigen Ausnahmen kommt: “Ich gehe seit Jahren nicht mehr wählen, hat eh keinen Sinn”
Was also ist der “richtige” Weg? Gibt es ihn überhaupt?
Sagte ich eingangs, dass eine Wahlpflicht nicht der Weg sei, der beschritten werden sollte, so sage ich auch nach langem Überlegen: Ich weiß nicht, welche Möglichkeit wird haben.
Die Politikverdrossenheit der Deutschen ist so stark, wie schön wäre es, wenn die Energie die (teilweise) aufgewendet wird sich gegen die Politik zu stellen und über “die da oben” zu streiten in die Suche nach Arbeitsplätzen gelenkt werden würde.
Welche Alternativen haben wir? Eine Wahlbeteiligung nach Vorbild der Organspenden? Nur wer sich anmeldet darf wählen?
Teileweise, so muss ich gestehen, ein Wunsch, aber, soviel hat mich mein Jurastudium gelehrt, nicht durchsetzbar.
In diesem Sinne
Stephan
Recht so! Bloß keine Wahlpflicht, die den deutschen Untertan nicht etwa dort abholt, wo er sich (geistig) befindet, sondern dort belässt. Was wir nicht nur national, sondern noch viel dringender im Hinblick auf den nur sehr schwer durchschaubaren und steuerbaren Gesetzgebungsprozess in der Europäischen Union benötigen ist mehr “grassroots democracy”. Dazu müssen die Bürger animiert werden, einerseits von den auf kommunaler Ebene und auf Landesebene in beachtlicher Zahl bestehenden Mitwirkungsmöglichkeiten mehr Gebrauch zu machen, andererseits ihre Abgeordneten auf allen Ebenen zur Parlamentsarbeit in ihrem Sinne anzuhalten. Jeder muss begreifen lernen, dass er im eigenen Interesse mitwirken muss. Eine Wahlpflicht weist in diesem Zusammenhang in eine ganz falsche Richtung! Mag sie auch die Statistik aufhellen, kann sie einem politischen System doch kein Leben einflößen.
Wer das nicht glauben will, dem sei ein Blick auf die Liste der Staaten mit Wahlpflicht empfohlen. Hier zeigt sich, dass entweder die Bestimmungen kaum angewendet, jedenfalls aber Pflichtverletzungen in der Praxis nicht sanktioniert werden oder der betreffende Staat bekanntermaßen nicht zu den Musterbeispielen der Demokratie gehört.
Ein abschließender Hinweis zur “Politikverdrossenheit”: Wer meint, der Wähler habe keinerlei Einfluss auf “die Politik”, der mag den BLick von der nationalen und europäischen Ebene weg und hin zu kommunalen Projekten wenden. Im Sinne gelebter Subsidiarität kann hier jeder daran mitwirken, dass die Kommunen ausreichend Kindergärtenplätze zur Verfügung stellen, die regionale öffentliche Nahverkehr ausreicht usw. Es trifft einfach nicht zu, dass keine Einflussnahmemöglichkeiten bestehen. Vielmehr ist ein solcher Vorwurf undifferenziert und beruht oftmals auf der Trägheit des Äußernden!
mir stellt sich v.a. die Frage der Durchsetzbarkeit – was wenn ich trotzdem nicht hingehe? ist das dann eine bußgeldbewehrte OWi?
und bei 40% nichtwählern dürfte es auch n ziemlicher verwaltungsaufwand sein, den sündern hinterherzurennen…
nett auch den Punkt gebracht, nur so aus Spass fände ich es interessant zu sehen, was passieren würde, wenn die Sitzverteilung im Parlament anhand aller abgegebenen Stimmen und nicht anhand der abgegebenen gültigen Stimmen stimmen berechnet würde
Wenn die Parteien gute nachvollziehbare Visionen hätten außerhalb von Euro-Zeichen in den Augen, wenn sie ehrlich wären, dann würden die Leute auch wählen gehen. Dass sie das nicht tun, hat doch mit dem zunehmenden Vertrauensverlust zu tun.
So richtig die Überlegung zur Wahlpflicht selbst, so schade ist die Diagnose der Politikverdrossenheit. Ein Bericht, den ich jetzt nicht mehr finde, brachte es auf den Punkt: Dort wurden amerikanische Stimmen zitiert, die sich darüber wunderten, warum in Deutschland die Unzufriedenheit mit der neoliberalen Einheitspolitik und den gebrochenen Wahlversprechen (Merkelsteuer!) als Politikverdrossenheit bezeichnet wird.
Recht hatten sie – denn Vertrauensverlust ist keine Politikverdrossenheit. Und Nichtwählen nichts ungehöriges, sondern verständlich, wenn man eh meint keine echte Wahl zu haben (einer Meinung, der ich allerdings nicht bin).