22 April 2013

Was den Motor antreibt: Der EuGH als Wegbereiter der europäischen Integration?

In den Debatten um die Integration Europas wird der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) immer wieder als der „Motor der Integration“ beschrieben. Auf den ersten Blick hat dieses Bild einiges für sich: Hat der EuGH nicht immer wieder die Initiative ergriffen und dort Recht gesprochen, fortgebildet und geschöpft, wo die Politik sich nicht hinwagte? Gehen die wesentlichen Weichenstellungen im Integrationsprozess – vor allem mit Blick auf die Natur der Rechtsgemeinschaft, deren Reichweite und Umfang – nicht auf europäisches Richterrecht zurück? Und läuft der Motor der Integration in den letzten Jahren nicht gerade im Bereich der Grundrechtsrechtsprechung, mit Entscheidungen wie Brüstle (2011), Melli Bank (2009, 2012) oder jüngst Åkerberg Fransson (2013) wieder auf Hochtouren?

Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die Rede vom „Motor der Integration“, die nicht nur in die medialen, sondern auch in die wissenschaftlichen Debatten Eingang gefunden hat, immer auch als eine Legitimationsbestreitung verstanden werden muss. Als solche ist sie natürlich subtiler als die Rede vom „Aktivismus des Gerichthofs“ und seiner Vertreter oder einer Agenda der Rechtsprechung. In jedem Fall gilt jedoch: ein Gericht, das die Integration vorantreibt, ohne dazu legitimiert worden zu sein, ist auf Abwegen. So verwundert es nicht, dass in den letzten Jahren gerade von Seiten der Politikwissenschaft immer deutlicher die Einhegung der Macht des EuGH gefordert wird.

Wie die europäische Politik mit dem Recht rechnet

Mit Blick auf die neuere Grundrechtsrechtsprechung ist diese Kritik, die sich vor allem auf die Institution selbst richtet, allerdings unbegründet und vor allem irreführend. Die Fixierung auf den Gerichtshof und seine Urteile verstellt nämlich systematisch den Blick auf die wirklich drängenden Probleme der Rechtsgemeinschaft, die zugleich die Ursache für den vermeintlichen Aktivismus des Gerichts sind. Diese liegen jedoch nicht originär im Bereich der Rechtsanwendung, sondern im Bereich der Politik und in der Tatsache, dass politische Entscheidungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Entscheidungen des Rechts gemacht werden. Mit anderen Worten, die politischen Entscheidungsträger haben sich darauf eingestellt, dass der EuGH Fälle nicht zurückweisen kann – egal wie politisch diese von ihrer Natur her sein mögen. Sie rechnen damit, dass die Rechtsprechung im Rahmen von aufkommenden Fällen das klären wird, was sie im Unklaren lassen. Und sie lassen Dinge im Unklaren, weil sie wissen, dass der EuGH an ihrer statt entscheiden wird.

Deutlich wird dies etwa im Fall Brüstle (2011), in dem der EuGH im Rahmen des Patentrechts darüber entscheiden musste, ob die Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus einer befruchteten menschlichen Eizelle, bei der diese möglicherweise zerstört wird, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Um diese Frage jedoch beantworten zu können, musste der EuGH zunächst einmal bestimmen, wie der Begriff des Embryos genau auszulegen ist. Denn diese zentrale Definition war in der „Biopatentrichtline“ offen gelassen worden – und dies, obwohl offensichtlich sein musste, dass sie für die praktische Anwendung der Richtlinie notwendig war.

In den vieldiskutierten Fällen Kadi / Al Barakaat (2008) und Melli Bank (2009, 2012) sah dies nicht viel anders aus. Auch hier war es nur eine Frage der Zeit, bis das ungeklärte Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und UN-Sicherheitsratsresolutionen im Rahmen eines konkreten Falles den Gerichtshof erreichen würde. Das Spannungsfeld hatte sich allerdings schon lange vorher abgezeichnet und war in politischen Kreisen nicht unbekannt. Jedenfalls konnten die europäischen Staaten nicht davon ausgehen, dass die Entscheidungen, die sie selbst in einer Arena des internationalen Rechts mitverfasst hatten, ohne grundrechtliche Kontrolle in Gemeinschaftsrecht umgesetzt würden.

Auch die aktuelle und vielbeachtete Rechtsprechung in Åkerberg Fransson (2013) stellt sich bei Licht betrachtet weitaus weniger spektakulär heraus als zunächst befürchtet. Jedenfalls wird man aus dem Urteil weder einen Schub für die Integration ableiten können, noch ist ein Bruch mit der bestehenden Rechtsprechungslinie auszumachen. Viel eher ist die Entscheidung eine konstante Fortsetzung der wirksamkeitsorientierten Auslegung des Unionsrechts in früheren Fällen, die gerade auch mit Blick auf den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta, wie Jakab zeigt, eher einen mittleren Weg darstellt, nicht jedoch eine Maximalauslegung. Wichtiger ist allerdings, dass der Auslöser der Rechtsprechung, wie in so vielen Fällen, in dem unklaren Rechtsverhältnis von europäischem zu mitgliedstaatlichem Recht zu sehen ist und einer, in dieser Hinsicht wenig hilfreichen Richtlinie 2006/112/EG. Erst auf deren Grundlage wurde der Fall nämlich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens für den EuGH relevant.

Man mag unterschiedlicher Auffassung sein, wer (Politik oder Recht) generell in der Pflicht gesehen werden sollte, eine Klärung über diese Fragen herbeizuführen. Unstrittig muss dagegen sein, dass sich die Rechtsprechung einem Urteil nicht entziehen kann, sobald entsprechende Fragen anhängig sind (die Option der Rechtsverweigerung gibt es schließlich nicht). Dann stellt sich aber vor allem die Frage, warum der EuGH mit solch fundamentalen Fragen wie der Auslegung des Embryonenbegriffs oder der indirekten Grundrechtskontrolle von UN-Sicherheitsratsbeschlüssen überhaupt konfrontiert wird.

Juristische Antworten auf politische Fragen

Was hier deutlich wird ist, dass die Entscheidung über die Entscheidung (übrigens ein konstitutives Merkmal der Politik) keineswegs in den Händen der Rechtsprechung liegt. Viel eher sind gerade in der Grundrechtsrechtsprechung in den letzten Jahren eine Reihe von Fällen aufgekommen, deren zugrundeliegenden Fragen und Probleme zuvor die Politik beschäftigten. Da sie dort jedoch nicht hinreichend gelöst wurden oder werden konnten, fanden sie sodann – keineswegs über Nacht, sondern nach Jahren schwelender Rechtsunsicherheit – ihren Weg in das Recht.

Bislang ist es offenbar das Schicksal des Gerichtshofs, mit den politisch nicht lösbaren Fragen juristisch fertig werden zu müssen und dafür zugleich in Haft genommen zu werden. Die vielgescholtenen Urteile Viking und Laval (2007) mögen hierfür das wohl eindrücklichste Beispiel der letzten Jahre abgeben. Jedenfalls dürfte es in Brüssel kein Geheimnis gewesen sein, dass die EU-Osterweiterung, wenn sie eine weitgehende Öffnung der Märkte (von der vor allem die Unternehmen der alten Mitgliedstaaten profitierten) ohne wirksame europäische Sozialstandards (worunter vor allem die Arbeitnehmer litten) bedeutete, früher oder später den EuGH mit grundrechtsrelevanten Fragen beschäftigen würde.

Zu argumentieren, der Gerichtshof solle sich doch in solchen oder ähnlichen Fällen in Zurückhaltung üben, kann freilich nicht überzeugen. Schließlich muss der Verlagerung politischer Aktivitäten auf die supranationale Ebene ein Transfer gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten folgen, um keine Lücken im Individualrechtsschutz entstehen zu lassen; und zwar völlig unabhängig davon, ob die Staaten dies nun gutheißen oder nicht. Noch deutlicher: die Möglichkeit der Überwachung und Einhegung politischer Hoheitsgewalt im Rahmen einer gerichtlichen Kontrolle und am Maßstab des allgemein geltenden Rechts, auf dem die Gemeinschaft gegründet ist und welches sie zu wahren hat, kann nicht allein von dem Willen oder der Fähigkeit der politischen Gremien abhängen, sich zu einer entsprechenden textlichen Verankerung durchzuringen.

Was den Motor der Integration wirklich antreibt

Es darf zudem nicht übersehen werden, dass es gerade im Bereich der Grundrechte vor allem Einzelne sind, die mit gerechtfertigten Erwartungen an die nationalen Gerichte oder den EuGH herantreten. Wie der ehemalige Generalanwalt Carl-Otto Lenz im Deutschlandfunk sagt: „Sie können keinen Motor haben, den sie nicht selber anlassen und abstellen können. Aber der Motor Europäischer Gerichtshof, der wird immer von den Klägern angelassen. Und das sind ganz verschiedene Leute mit ganz verschiedenen Interessen.“

So ergibt sich insgesamt ein anderes, ein komplexeres Bild vom „Motor der Integration“, als das bislang die Debatten bestimmende, welches den EuGH als treibende Kraft der Integration darstellt und diese Rolle zuweilen scharf kritisiert. Denn selbst wenn man den Gerichtshof als Motor der Integration sehen mag, so sind es in erster Linie die Unzulänglichkeiten der politischen Problemlösungsfähigkeit, die den Treibstoff liefern und die legitimen Erwartungen an die Vollständigkeit der Rechtsordnung und den Individualrechtschutz seitens der europäischen Bürger, die den Motor am Laufen halten.


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