Was die Verfassung über uns sagt
Das Jubiläum „100 Jahre B-VG“ und die Verfassungsrealität
Durchweg positive Revuen waren es, die man die letzten Wochen und Monate durch alle österreichischen Formate hindurch aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) lesen durfte (siehe etwa hier, hier und hier). Die kritischeren dieser Beiträge rückten Details im historischen Narrativ zurecht, forderten neue Schwerpunktsetzungen für die Zukunft oder lamentierten staatsstrukturelle Defizite und historisches Gepäck. Alfred Noll und Udo Szekulics gingen im Standard so weit, das Verfassungsgebilde in den Worten von Hans Klecatsky als „Ruine“ zu charakterisieren. Das mag vor dem unüberblickbaren Geflecht aus Gesetzen im Verfassungsrang durchaus seine Berechtigung haben.
Doch ist eine Verfassung ohnedies nur soviel wert, wie die gelebte Verfassungskultur. So lässt zum Beispiel die Garantie der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in Artikel 125 der Sowjetischen Verfassung von 1936 wohl kaum Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der UdSSR zu. Wäre es daher nicht gewinnbringender, aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des B-VG über die gelebte Verfassungsrealität zu reflektieren? Denn es ist letztlich diese, die den Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt. Politische Kultur und der verantwortungsvolle Umgang mit der im Gesellschaftsvertrag übertragenen Staatsgewalt sind dabei entscheidende Faktoren. Vieles bleibt in einer Verfassung unausgesprochen. Diese ist daher auch nur so stark wie die Personen, die sie mit Leben erfüllen.
Leidenschaft für Staatsstrukturprinzipien?
Bis heute ist es nicht gelungen, in Österreich einen Verfassungspatriotismus zu erzeugen, wie er etwa in Deutschland im Hinblick auf das Grundgesetz existiert. Würde man einen solchen im B-VG gründen wollen, so müsste er – mangels Grundrechtekatalog – auf die Staatsstrukturprinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus und das Bekenntnis zur Republik gerichtet sein.
Inwieweit sind diese vier Prinzipien nun über hundert Jahre hinweg in die politische DNA eingedrungen, um sie im Phänotyp österreichischer Verfassungsrealität wiederzufinden? Ohne die Drastik ihrer Thesen bemühen zu wollen, haben Levitsky und Ziblatt in ihrem Werk How Democracies Die die Bedeutung ungeschriebener Verfassungsregeln für eine funktionale Demokratie betont und sich am Beispiel der USA besorgt gezeigt. Wenngleich der österreichische politische Prozess bloß schwer vergleichbar erscheint, können auch in der Alpenrepublik defizitäre Entwicklungen beobachtet werden.
Die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit greifen in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie wohl am stärksten ineinander, wenn es darum geht, die Legitimationskette zwischen Volk und Legislative sicherzustellen. Obwohl 2007 die Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängert wurde, blickt Österreich innerhalb der letzten zehn Jahre bei insgesamt sechs Regierungen auf vier gewählte Nationalratskompositionen zurück. Abseits der wechselnden Koalitionen sind dabei sowohl die parteilichen, als auch teils personellen Kontinuitäten auf Regierungsebene spannend, die vor diesem Hintergrund der Fluktuation nicht notwendigerweise zu erwarten wären. Fraglich ist, welche Schlüsse man daraus ziehen darf und ob sich hier ein verantwortungsvoller Umgang mit der übertragenen Hoheitsgewalt zeigt.
Vielbeschworene Eleganz
Klischeehaft ist es mittlerweile geworden, mit den Worten des Bundespräsidenten von der „Eleganz“ der österreichischen Verfassung zu sprechen. „Elegant“ bedeutet nach dem Duden entweder, „(von der äußeren Erscheinung) durch Vornehmheit, Harmonie besonders der Kleidung oder der Form, Machart o.Ä. auffallend“, „in gewandter, geschickter Weise ausgeführt“ oder „kultiviert, erlesen“. Mit der „Eleganz der Verfassung“ wurde demnach im besten Fall unfreiwillig das Bild einer harmonischen Familienzusammenkunft bemüht, die sich durch die Vermeidung kontroverser Tischgespräche auszeichnet, im schlechtesten Fall kommt ein verwegener Trick, um über eine Situation hinwegzuretten, in den Sinn.
Die heute zutage tretenden Kommunikationsfehler zwischen Ministerien und deren einzelner Sub-Einheiten oder die nahezu slapstickhafte Unfähigkeit, legistisch saubere Verordnungen zu erlassen, werfen jedenfalls die Frage nach den langfristigen Nachwirkungen auf: den vermeintlich gebrochenen Abmachungen und unerfüllbaren Ultimaten gegenüber dem Koalitionspartner, dem bewussten Schritt hinein in eine unhaltbare Minderheitsregierung oder die darauffolgende „Vertrauensregierung“, deren großteils positiv rezipierte Arbeit (siehe etwa hier, hier und hier) wiederum abrupt unterbrochen wurde.
Ein Problem, das sich 1920 mangels Kommunikationsmöglichkeiten in Echtzeit nicht stellte, ist der zunehmende Drang von Regierung, Kanzler und Ministern, persönlich Informationsdienstleistungen für das Volk zu erbringen. Nahezu täglich treten sie in unterschiedlichster Konstellation und zu allen Tages- und Nachtzeiten an die Öffentlichkeit, wenn sie nicht gerade ihre Social Media-Kanäle mit möglichst persönlichkeitswirksamen Eindrücken füttern lassen (Anwaltskanzleien verfügen mittlerweile über Richtlinien, welche die Verwendung von Social Media ausschließlich zur Selbstdarstellung verbieten, wenn dabei die berufliche Zugehörigkeit mitangeführt würde). Während staatliche Öffentlichkeitsarbeit ein wesentliches Element für die Meinungsbildung im demokratischen Prozess darstellt, mag man sich dabei die Frage stellen: Was wurde eigentlich aus dem politischen Bewährungsamt des Pressesprechers?
Interpretationshoheit und Verantwortung
Abseits der Abkehr vom Prinzip der Subsidiarität des Verwaltungshandelns, der zumindest suggerierten Ignoranz gegenüber den Experten im Berufsbeamtentum, und der ganz praktischen – und neben dem soeben für Bewerbung der eigenen Regierungsarbeit beschlossenen Rahmen von 30 Millionen Euro für den Steuerzahler interessanten – Frage nach den dafür aufgewendeten Nettostunden, die möglicherweise besser in substantielle Arbeit fließen würden, stellt sich aus Perspektive der Gewaltenteilung ein zentrales verfassungsrechtliches Problem: anstelle des Legalitätsgrundsatzes tritt die – wohl auch vom Volk so empfundene – Interpretationshoheit der Regierung. Hierbei wird die ohnedies dünne Mauer zwischen Exekutive und Legislative endgültig erodiert. Dabei bleiben (verfassungs)rechtswidrige Maßnahmen in Abwesenheit eines effektiven und leicht zugänglichen Rechtsschutzes meist ohne Konsequenzen. Die Aussagen einzelner Regierungsmitglieder legen nahe, dass sie sich darüber auch bewusst sind.
Das Institut persönlicher politischer Verantwortung erscheint damit schlicht démodé, wie sich auch wiederholt im Auftreten einzelner Regierungsmitglieder in Untersuchungsausschüssen zeigt. Eine Rücktrittskultur existiert im Österreich des 21. Jahrhunderts nur aus gesundheitlichen Gründen, Trotz, innerparteilichem respektive koalitionärem Druck oder zur Vorbereitung auf andere Ämter (letzteres mittlerweile auch nicht mehr zwangsläufig).
Vielleicht sind es in alledem tatsächlich die Mängel des B-VG selbst, die hier zum Ausdruck kommen. Einem Gründungsmythos, der selbst hundert Jahre später die Überwindung nicht bloß einer Regierungsform, sondern gleich auch einer gesamten Gesellschaftsschicht über das Habsburgergesetz und das Gesetz über die Aufhebung des Adels im Verfassungsrang mitträgt, dabei aber selbst mangels Inspiration auf einen Grundrechtekatalog der Monarchie zurückgreifen muss, fehlt womöglich ein klarer moralischer Kompass. Ewald Wiederin meinte in seinem Kommentar im Standard, dass es der „nüchtern, unterkühlte Ton“ und „die Kongruenz von Form und Inhalt“ seien, „die die Schönheit unserer Verfassung ausmachen“. Blickt man ausschließlich auf das B-VG, so findet man darin aber nur Antworten auf staatsstrukturelle Fragen und die Staatsstrukturprinzipien selbst können kaum weiter gestreckt werden als ihr kollektives Begriffsverständnis.
Abwägung und Reflexion
Das deutsche Grundgesetz setzt mit seinem zentralen Menschenwürdebegriff und dem vorangestellten Grundrechtekatalog einen klaren Bruch und Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Herrschaft. Zu den, wenn man so will, verfassungsrechtlichen „Glücksmomenten“ der Jahre 1948/49 und darüber hinaus konnte es in der österreichischen Suche nach Kontinuität zur Ersten Republik gar nicht erst kommen. Wenn der österreichische Bundespräsident zu den einschränkenden Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung verkündet, dass es nun abzuwägen gelte, „wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um, wie jetzt im Fall von COVID, unsere Gesundheit zu schützen“, so käme in Deutschland unmittelbar die Antwort, dass hierauf bereits das Grundgesetz in seiner Präzisierung durch das Bundesverfassungsgericht eine klare Antwort hätte. Schon der Mangel verfassungsprozessualer Eilmechanismen machen dies als ersten Gedankengang für Österreich zweifelhaft. Gerade hier sollte aber der Verfassungsstaat für uns da sein, sodass wir eben keine so tiefgreifenden Entscheidungen aus Befindlichkeit und Emotion heraus treffen müssen.
Jubiläen bieten nicht bloß die Gelegenheit zu Feier, sondern auch die Chance für Reflexion. Ohne letztere bleibt erstere hohl. Berechtigter Kritik an der Verfassungsrealität sollte niemals mit Betroffenheit, Sturheit oder Zynismus begegnet werden. Die Gefahren für den demokratischen Prozess andernorts sollten von uns jedenfalls einmahnen, so realistisch zu sein, sich zumindest die ultimativen Konsequenzen vor Augen zu halten, wenn die Möglichkeiten der Verfassung kontinuierlich entgegen der Aspirationen des Gesellschaftsvertrags im Sinne des pouvoir constituant gelebt werden. Was die Verfassung über uns sagt, hängt auch davon ab, wie wir ihre unausgesprochenen Gebote und Erwartungshaltungen achten.
Ausgezeichnte Erörterung. Über den fehlenden Grundrechte-Anker im B-VG hinaus ist noch auf das mangelhafte Verständnis für die Grundrechte in der Legislative hinzuweisen. Wer den Wahrheitsbeweis will, sehe sich die Ausschussberichte des Nationalrates zu den Grundrechtseinschränkungen der letzten Jahre an. Der dauerhafte “Glücksmoment” des Art 93 GG fehlt der österreichischen Verfassung ebenfalls. Und das hat gewaltige Auswirkungen, denn die parlamentarischen Anfragebeantwortungen der Wiener Regierung sind viel zu oft ein Hohn auf dieses vom B-VG (Art 52) vorgesehene wichtige Instrument des Gewaltenausgleichs. Die anfragenden Abgeordneten können dagegen de facto nichts unternehmen.