25 June 2020

Was ist die europäische Rechtsgemeinschaft? Nichts. Alles!

Spätestens mit dem PSPP-Urteil ist die „Rechtsgemeinschaft“ zu einem europarechtlichen Grundbegriff aufgestiegen. Die Berufung auf diesen Ausdruck ist ein theoretischer Reflexionsstop. Der Beitrag geht Sprachspielen nach und stellt aus rechtshistorischer Perspektive die These auf, dass unter „Rechtsgemeinschaft“ ein Primat der Praxis verhandelt wird.

Der europarechtliche Grundbegriff

In seiner Vorrede zu den Gründen des PSPP-Urteils sagte Andreas Voßkuhle, „die Idee der europäischen Rechtsgemeinschaft“ verliere in der Krise nichts an Bedeutung. Die Auseinandersetzungen zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH seien vielmehr „konstituierender Teil dieser lebendigen europäischen Rechtsgemeinschaft“.

In Bezug darauf kündigte ein paar Tage später Ursula von der Leyen an, die „Rechtsgemeinschaft“ „jederzeit und in alle Richtungen“ zu wahren und zu verteidigen. Peter M. Huber und zahlreiche Kommentator*innen griffen die „Rechtsgemeinschaft“ ebenfalls auf. Zwar hatte Armin von Bogdandy schon vor einigen Jahren die These aufgestellt, bei der „Rechtsgemeinschaft“ handele es sich um einen überholten europarechtlichen „Grundbegriff“. Eine geschichtliche Perspektive legt demgegenüber aber nahe, dass sich die „Rechtsgemeinschaft“ mit den letzten Wochen erst vollständig als Grundbegriff etabliert hat.

Die analytische Kategorie des „Grundbegriffs“ geht zurück auf Reinhart Koselleck. Sie ist etwas grob, aber auch Schlüssel für einen Hypothesenapparat auf dem Gebiet der Historischen Semantik. Man kann unter Kosellecks Begriffen Wörter verstehen, die durch ihre Vieldeutigkeit den gesamten Erwartungshorizont einer bestimmten Zeit einfangen. Sie mögen irgendwann so allgemein werden, dass sie im sprachpolitischen Streit einen regelrechten „Besetzungszwang“ ausüben, bei dem die Gegenseite daran gehindert werden muss, „durch dasselbe Wort anderes zu sagen und zu wollen als man selbst“. Andere Theorien haben stattdessen vom „leeren Signifikanten“ oder „essentially contested concept“ gesprochen, aber Kosellecks Begriffsgeschichte ist inhaltlich besonders nah an Fragen des öffentlichen Rechts und entspricht darüber hinaus juristischen Denk- und Lesegewohnheiten.

Das notorische Wortspiel

Mit „Recht“ und „Gemeinschaft“ werden zwei Ausdrücke zusammengeführt, die begriffsgeschichtliche Megathemen repräsentieren. Daher ist die „Rechtsgemeinschaft“ eine Einladung für soziologisierende Wortspiele mit juristischer Sprachkonvention. „Rechtsgemeinschaft“ kann als Kohärenzargument verstanden werden, also vergleichbar mit dem Topos von der Einheit der Rechtsordnung. Sie kann genauso gut als Argument für Individualrechtsschutz verstanden werden (entspr.: Gemeinschaft jener mit subjektiven Rechten). Eine Spielart davon ist die eben zitierte, offen organische Verwendungsweise bei Voßkuhle: Eine „lebendige Rechtsgemeinschaft“ als die Gemeinschaft derjenigen, die gegenüber der Gemeinschaft eine ultra-vires-Kontrolle geltend machen können.

Aus historischer Sicht ist aber das cui bono auch in anderen Fällen mitzudenken. Schon der EuGH hatte den Ausdruck in seiner Entscheidung Les Verts (1986) benutzt, um zu begründen, „dass weder die Mitgliedsstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle [des Gerichtshofs] (…) entzogen sind“. Das Europarecht ist auch um Ausdrücke wie „Grundrechtsgemeinschaft“ oder „Rechtskulturgemeinschaft“ reicher geworden. Da „Rechtsgemeinschaft“ vor allem „asymmetrische Gegenbegriffe“ evoziert, hat sich die Integrationskritik einige Zeit an dem Begriff die Zähne ausgebissen: Der „Zwangsgemeinschaft“ oder „Willkürgemeinschaft“ steht die politische Unmöglichkeit auf die Stirn geschrieben, aber auch für eine „Verwaltungsgemeinschaft“ würden Wenige an die Urne gehen. Mittlerweile ist die „Rechtsgemeinschaft“ aber in intergouvernementale Europakonzepte integriert und mit der „Rechtsgemeinschaft der Staaten“ (entspr. in etwa „Staatenverbund“) ist auch schon ein Argument gegen die Konstitutionalisierungsthese geführt worden. Wie die meisten staatsorganisationsrechlichen Begriffe der Moderne ist die „Rechtsgemeinschaft“ dabei verzeitlicht. Das heißt, es ist eine Ideologiekritik plausibel, bei der der Begriff geschichtsteleologisch als „zu früh“ oder „zu spät“ für die Beschreibung der Gegenwart gekennzeichnet wird (Koselleck). Beispiele dafür findet man, wo die „Rechtsgemeinschaft“ nur als defizitäres Zwischenstadium zu Anderem gesehen wird: Bürgergemeinschaft, Verfassungsgemeinschaft, politische Gemeinschaft usw. Die Verzeitlichung spielt insbesondere in der Finalitätsdebatte eine bedeutende Rolle und sie ist auch bei von Bogdandys Kritik relevant.

In der Tat ist die „Rechtsgemeinschaft“ so flexibel wie die Rechtstheorie selbst. So ist es auch kein Zufall, dass sich besonders sprachbewusste Jurist*innen für den Ausdruck interessiert haben. Die Verwendungsweise von Savigny – eine prägende Figur für den deutschen Rechtswortschatz – hat sich bis heute im Duden erhalten. Hans Kelsen, stets der begrifflichen Klarheit verschrieben, gab ihr durch die Relativierung des Staatsbegriffs besonders viel Raum. Kelsens „Rechtsgemeinschaft“ hat sich in Verbindung mit seiner Identitätsthese immer wieder als zitierfähig für das Europarecht erwiesen. Das ist plausibel, aber auch stark zugespitzt – Kelsen verstand selbst den zweiseitigen Vertrag als „Rechtsgemeinschaft“. Savigny, der mit „Rechtsgemeinschaft“ die in „verschiedenen Staaten“ lebenden „Germanen“ meinte, wird demgegenüber oft weiterbenutzt, aber nie zitiert. Im Übrigen wussten Autoren wie Carl Schmitt oder Karl Larenz mit dem Ausdruck immer wieder Sprachspiele zu betreiben. Insgesamt zeigt sich, dass in der Sprachkonvention Erinnerungen an bestimmte theoretische Vorverständnisse erhalten bleiben.

Hallsteins Pragmatik

Im Diskurs der Gegenwart ist aber der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein die wichtigste Autorität für die „Rechtsgemeinschaft“. Ihm zufolge sei die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft, weil sie eine Schöpfung des Rechts sei, eine Quelle des Rechts sei und eine Rechtsidee verfolge (später stattdessen: Rechtsschöpfung, Rechtsquelle, Rechtsordnung).

Man würde die Möglichkeiten geisteswissenschaftlicher Hermeneutik nicht voll ausschöpfen, wenn man es bei dem bloßen Hinweis auf die Eingängigkeit der Alliteration belassen wollte. Hallsteins Wortwahl führt direkt in die rechtstheoretischen Auseinandersetzungen um die vorangegangene Jahrhundertwende. „Rechtsschöpfung“, „Rechtsquelle“, „Rechtsidee“ und „Rechtsordnung“ sind zwar derart konventionell, dass kaum jemand darüber stolpern würde. Aber die Ausdrücke waren auch Schlüssel- bzw. Programmbegriffe, etwa von Savigny (Rechtsquelle), H. Kantorowicz (Rechtsschöpfung) oder Radbruch (Rechtsidee). Davon sind zwei (Schöpfung und Quelle), zumal in ihren gegenseitigen Bezügen, eindrückliche Wassermetaphern, die das Tor zu einem weiteren, schier endlosen Feld von Wortspielen öffnen.

Hallsteins Sprachbild ist jedoch für das geistige Auge nicht ganz mühelos: Wie kann etwas die Quelle dessen sein, aus dem es erst noch geschöpft wird? Es ist natürlich möglich, dieses selbstreferentielle Verständnis des Rechts trotzdem in ein Bild und anachronistisch in eine „eigentlich gemeinte“ Rechtsgemeinschaftstheorie zu überführen. Wahrscheinlich wurde hier jedoch das legitimatorische Potenzial verschiedener Semantiken ohne Rücksicht auf ihre Gegenläufigkeit bemüht. Viel hilft bekanntlich viel. Dabei haben die Metaphern etwas mehr zu leisten „als die Strenge der Theorie zu leisten imstande ist“ und geben Unplausiblem den Schein einer Erklärung (Hans Blumenberg). Nicht umsonst geschieht Hallsteins Begriffsarbeit in zeitlicher Nähe zu den mythischen Urteilen van Gend & Loos und Costa/ENEL, bei denen sich der EuGH bis heute dem Vorwurf der Rechtsschöpfung ex nihilo ausgesetzt sieht. Empathisch gesagt: Hallstein verarbeitet mit seiner zirkulären Metaphorik die Erfahrung, dass er sich den Ursprung des Europarechts selbst rechtslogisch nicht erklären kann, auf eine Geltungsfrage keine befriedigende Antwort hat.

Die Praktiker*innen der frühen Integration waren insgesamt vor das Problem gestellt, dass eine Sprache gefunden werden musste, die nicht zu offensichtlich etatistisch war, obwohl Recht nunmal über Jahrhunderte am Staat gedacht wurde. Ein früher Superstar der Bewegung war der Begriff „supranational“, dieser wurde aber bald zur Polemik von Integrationsgegner*innen und war damit für integrationsfreundliche Sprachpolitik verbrannt.

Von Wegbegleitern Hallsteins ist häufiger betont worden, die „Rechtsgemeinschaft“ habe ihm ganz besonders am Herzen gelegen. Seine Texte lassen diese Deutung zu, legen sie aber nicht nahe. Er bastelte zwar immer wieder am Konzept der Rechtsgemeinschaft, manchmal ließ er die Semantik jedoch auch weg und in seinen ausgewiesenen Konzeptionskapiteln fällt die „Rechtsgemeinschaft“ durch Abwesenheit auf. Tatsächlich dürfte Hallstein die „Rechtsgemeinschaft“ nie besonders geliebt haben. Oder nicht mehr geliebt haben als „Supranationalität“, „Verfassung“ oder „Föderalismus“. Hallstein war eben Pragmatiker, der aber als Professor im Zivilrecht mit der sozialen Bedeutung von Begriffsarbeit für den akademischen Betrieb vertraut war.

Was bedeutet die Rede von der „Rechtsgemeinschaft“?

Die „Rechtsgemeinschaft“ in diesem Sinne ist also ein Konzept eines Praktikers. Und es waren auch Praktiker*innen, die es zunächst popularisiert haben. Dass der Begriff vor diesem historischen Hintergrund populär ist, wirft die These auf, dass im Europarecht latent noch immer ein Primat der Praxis gilt.

Es entspricht der verbreiteten Verwendungspraxis, „Rechtsgemeinschaft“ emphatisch zu gebrauchen aber nicht dazuzusagen, wie man den Begriff meint. Er täuscht häufig eine Letztbegründung vor, ist in Wirklichkeit aber ein Fingerzeig ins rechtswissenschaftliche Niemandsland. Das diffuse Gemenge an Sprachspielen macht es schlicht aussichtslos, ein Verständnis von „Rechtsgemeinschaft“ zu widerlegen. Der Gegenseite bleibt nur gleichfalls die Berufung auf den Begriff, wobei die Bedeutungsdifferenz fast immer unthematisiert bleibt. Die Bedeutung bleibt also implizit und die „Rechtsgemeinschaft“ selbst wird in der Regel nicht thesenförmig zur Diskussion gestellt, sondern gilt unbegründet. Daher ist der Ausdruck ein theoretischer „Reflexionsstop“ (vgl. die Wertekritik von Niklas Luhmann). Bei der expliziten Beanspruchung von Hallsteins Autorität wird das besonders anschaulich, aber man kann es in verschiedensten Kontexten und unabhängig von europarechtlichen Lagern beobachten.

Die These vom Primat der Praxis, das sich in einem landläufig praktizierten und akzeptierten Reflexionsstop ausdrückt, passt nicht auf jeden empirischen Verwendungsfall. Es passt aber erstaunlich häufig und vor allem weitaus treffsicherer als der Topos vom Primat des Rechts. Deswegen ist die „Rechtsgemeinschaft“ auch kein funktionales Äquivalent zum „Rechtsstaat“, selbst wenn sich die Parallele förmlich aufdrängt.

Historisch hängt die Emphase der „Rechtsgemeinschaft“ mit einer ambitionierten Europarechtspraxis zusammen, hat sich aber aus diesem exklusiven Verwendungszusammenhang gelöst. Daher ist es kein Zufall, dass sich eine Kontroverse um die Bedeutung von „Rechtsgemeinschaft“ ausgerechnet an einem schwelenden Jurisdiktionskonflikt zwischen BVerfG und EuGH entzündet. Wenn in jüngerer Zeit eine Reflexionsdiskussion über den Ausdruck angestoßen wurde, so mag man dies als Versuch deuten, diese Kontroverse aufzuheben und in eine Europarechtswissenschaft zu überführen, die stärker an ihren Grundlagen interessiert ist. Das heißt, dass der Besetzungszwang mittlerweile offenbar auch für die Theorie gilt.

Der Ausdruck ist jedenfalls Begriff im Koselleck’schen Sinne geworden. Der hohe Verbreitungsgrad kommt zu dem Preis, dass die Unterscheidbarkeit des Begriffs verlorengegangen ist. Selbstredend kann man diese Unterscheidbarkeit wiederherstellen, indem man seine Begriffsgeschichte selektiv im Hinblick auf Hallstein rekonstruiert. Aber damit tritt in den Hintergrund, dass die Bedeutung von „Rechtsgemeinschaft“ immer eine Frage des pragmatischen Verwendungszusammenhangs ist. Man macht also an der „Rechtsgemeinschaft“ die reale Erfahrung der linguistischen Binsenweisheit, dass jeder Begriff nur so viel ist wie die Sprachspiele (Ludwig Wittgenstein), die mit ihm betrieben werden. Grundlagenoffene Rechtsdogmatik, die sich von europäischer Machtpolitik abgrenzt, verzichtet auf den Ausdruck.


Ergänzende Literatur

Armin von Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft. Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, EuR 2017, S. 487.

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1989.


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