Was „Quatsch“ ist, wird Quatsch bleiben?
Wie bereits nach der Bundestagswahl 2013, beschloss der außerordentliche Parteitag der SPD am 21. Januar 2018, dass die Parteibasis im Rahmen eines Mitgliederentscheides auf der Grundlage der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Verhandlungsergebnisse das letzte Wort über den Eintritt der SPD in eine Große Koalition mit der CDU und CSU haben wird. Diese basisdemokratische Art der innerparteilichen Entscheidungsfindung ist laut dem Organisationsstatut der SPD satzungsrechtlich zulässig und die daraus hervorgehende Entscheidung für das jeweilige Gremium bindend. Folglich sind die für die SPD vorgesehenen UnterzeichnerInnen des Koalitionsvertrages – also der oder die künftige Parteivorsitzende, Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzende sowie Lars Klingbeil als Generalsekretär – an die Entscheidung der Basis der SPD gebunden. Den 463.723 stimmberechtigten GenossInnen obliegt somit eine folgenschwere Entscheidung. In anderen Parteien wird diese Entscheidung demgegenüber von den nur einige Personen umfassenden Parteigremien getroffen. Ausgerechnet das basisdemokratische Modell scheint bei manchen Unmut auszulösen; überzeugen kann jedoch keines der dagegen vorgebrachten Argumente.
Weisungsfreiheit der Bundestagsabgeordneten
Ein beliebtes Argument unter den KritikerInnen, welches ebenfalls im Rahmen der beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Eilanträge gegen den Mitgliederentscheid vorgebracht wurde, ist die in Art. 38 I 2 GG garantierte Weisungsfreiheit der Bundestagsabgeordneten, die durch den Mitgliederentscheid verletzt werde. So seien einzig die Abgeordneten der beteiligten Fraktionen zur Abstimmung über einen Koalitionsvertrag, der das künftige Regierungsprogramm bereits in seinen Grundzügen festlegt, berechtigt. Nicht dazu berechtigt seien jedoch die außerparlamentarischen Parteien oder gar deren gesamte Mitgliederschaft. Denn einzig die Abgeordneten wählen gemäß Art. 63 GG die Bundeskanzlerin bzw. den Bundeskanzler und bilden dadurch eine Regierungskoalition.
Diese Argumentation verkennt zunächst völlig den Inhalt des Mitgliederentscheids: Die Genossinnen und Genossen haben einzig die Möglichkeit, den Abschluss eines Koalitionsvertrages mit einem „Ja“ zu legitimieren bzw. mit einem „Nein“ zu verhindern. Damit binden sie allein die für die SPD im Koalitionsausschuss sitzenden UnterzeichnerInnen des Koalitionsvertrages, nicht jedoch die gesamten Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion. Sollten sich die GenossInnen mehrheitlich für eine erneute Große Koalition aussprechen, nehmen die SPD-Bundestagsabgeordneten im Anschluss weisungsfrei an der Kanzlerwahl im Bundestag teil. Sie unterliegen dabei allein ihrem Gewissen und stimmen lediglich im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Fraktionsdisziplin entsprechend den Empfehlungen ihrer Fraktion ab (Klein, in Maunz/Dürig, Art. 38 GG, Rn. 214-217). Der SPD-Mitgliederentscheid beeinflusst somit nicht die Ausübung des Bundestagsmandats durch die Mitglieder der SPD-Fraktion im Hinblick auf die Kanzlerwahl und stellt folglich mitnichten eine Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Mandatsfreiheit der Abgeordneten dar, wie das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren bereits 2013 zutreffend entschied (BVerfGE 133, 273). Stein des Anstoßes für die Kritik dürfte also allenfalls die Fraktionsdisziplin sein – gerade diese wird aber in dem Zusammenhang nicht gerügt.
Beteiligung von Nichtparlamentariern an Koalitionsverhandlungen
Es bestimmen allein die Vertreter der Parteien im Koalitionsausschuss die auf Grundlage der Wahlprogramme ausgehandelten Inhalte der künftigen Regierungsarbeit und nicht deren gesamte Mitglieder. Wer daher die Mandatsfreiheit der Bundestagsabgeordneten gefährdet sieht, sollte konsequenterweise die gesamten Koalitionsverhandlungen durch die drei Parteien im Vorfeld der Regierungsbildung im Bundestag kritisch sehen. So argumentierte zuletzt der ehemalige Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. Er kritisiert nicht nur den Mitgliederentscheid, sondern auch die erst seit Ende der 1990er Jahren übliche Beteiligung der Parteienvertreter an Koalitionsverhandlungen. Diese sind nämlich nicht unbedingt Abgeordnete des Bundestags, wie zum Beispiel Olaf Scholz und Horst Seehofer 2013 und 2018. So werde die Entscheidung über die künftige Regierungsarbeit außerhalb des Parlamentes getroffen, was das Grundgesetz so nicht vorsehe und wodurch eine Aushebelung des parlamentarischen Systems zu fürchten sei.
Interessant ist allerdings, dass eine von der Verfassung in Art. 63 GG ausdrücklich vorgesehene Minderheitsregierung, die derzeit einzige Möglichkeit der Regierungsbildung, welche ohne die vermeintlich verfassungswidrigen Koalitionsverhandlungen auskäme und in der das Parlament zudem eine deutlich gestärkte Rolle hätte, wiederum von vielen Verfassungsrechtlern als wenig vorzugswürdig angesehen wird (Herzog in Maunz/Dürig, Art. 63 Rn. 53 ff.; Dreier/Hermes, Art. 63 Rn. 44; Plöhn, ZParl 2013, S 76; Krings, ZRP 2018, S 2). Man muss sich also fragen, welche Form der Regierungsbildung nach dieser Ansicht überhaupt noch überzeugen kann.
Zudem geht die Kritik an der Beteiligung von Nichtparlamentariern fehl: Wir leben in einer Parteiendemokratie, in der die Parteien gemäß Art. 21 GG maßgeblich bei der Willensbildung des Volkes mitwirken. Die Parteien gewährleisten damit das Funktionieren unseres Wahlsystems, indem sie Inhalte in Form des Wahlprogramms und Personen in Form der parteiintern gewählten KandidatInnen für die Bevölkerung zur Wahl stellen. Parteien sind daher wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Parlamentes. Gleichzeitig wählen die BürgerInnen mit ihrer Zweitstimme eine Partei und ihr Wahlprogramm. Dass die Parteispitzen im Rahmen der Koalitionsverhandlungen gemeinsam mit den entsprechenden Fraktionsvorsitzenden vorab und außerparlamentarisch ihr Regierungsprogramm festlegen, ist dabei kein Ausdruck der Umgehung des Parlamentes. Die Parteien nehmen mit ihrem Mitwirken an den Koalitionsverhandlungen vielmehr die ihnen von den WählerInnen übertragene Verantwortung sowie ihre verfassungsrechtliche Verpflichtung aus Art. 21 GG wahr. Darüber hinaus stellt diese Vorgehensweise die Effizienz und Funktionsfähigkeit der künftigen Regierungsarbeit sicher, indem der Koalitionsvertrag eine Agenda für die kommende Legislatur darstellt.
„Zwei-Klassen-Wahlrecht“ oder mehr Demokratie
Auch liest und hört man zurzeit häufig die Kritik, dass die 463.723 GenossInnen nun erneut über die Regierungsbildung abstimmen dürften, während der normale Wähler einzig am 24. September 2017 seine Stimme abgeben konnte. Die SPD erhielt bei der Bundestagswahl rund 9,5 Millionen Zweitstimmen, wurde somit überwiegend von nun nicht stimmberechtigten Nichtmitgliedern gewählt. Innerhalb des Mitgliederentscheides dürfen nun jedoch auch Personen abstimmen, die bei der Bundestagswahl – mangels Zustimmung oder Wahlberechtigung – die SPD gar nicht wählten. Damit komme den Stimmen der SPD-Mitglieder viel stärkeres Gewicht zu, und es entstünde ein „Zwei-Klassen-Wahlrecht“. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und sei daher verfassungswidrig. Eine interessante Argumentation. Sie verkennt jedoch, dass der Mitgliederentscheid – im Gegensatz zur Bundestagswahl – nicht die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag bestimmt, sondern einzig Ausdruck parteiinterner Willensbildung im Hinblick auf das Eingehen eines Koalitionsvertrages ist. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag werden sich erst wieder mit der Bundestagswahl 2021 – oder ausnahmsweise früher durch das Auflösen des Bundestages durch den Bundespräsidenten – ändern.
Fazit
Da es sich beim Mitgliederentscheid einzig um eine parteiinterne Art der Willensbildung handelt und keinesfalls um einen Akt der öffentlichen Gewalt, wies das Bundesverfassungsgericht nun erneut die Eilanträge gegen den SPD-Mitgliederentscheid mangels geeigneten Beschwerdegegenstands bereits als unzulässig ab. Die SPD entscheidet per Mitgliederentscheid einzig intern, ob die Parteiführung erneut einen Koalitionsvertrag mit der CDU und CSU eingehen soll. Der rechtlich verbindliche Mitgliederentscheid ist dabei zugleich ein Akt der Legitimation für Parteivorsitz und Generalsekretariat, den die CDU beispielsweise in Form eines Parteitages gestaltet. Dieser Legitimationsakt ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Parteien zur demokratischen Gestaltung ihrer inneren Ordnung. Es überzeugt daher nicht im Geringsten, zu behaupten, eine basisdemokratische Abstimmung als Akt der Legitimation sei verfassungswidrig. Insbesondere wenn man diese mit einem Vorstands- oder Parteitagsbeschluss vergleicht. Daher ließe sich die Abweisung durch das Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an die etwas saloppe Reaktion des damaligen Parteivorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, auf die bereits 2013 geäußerte, verfassungsrechtliche Kritik auch so lesen: „[L]assen Sie uns diesen Quatsch beenden!“.
Der Wählerwille schlägt sich regelmäßig in den Mehrheitsverhältnissen der Fraktionen im Parlament nieder. So darf sich die Fraktion mit den anteilsmäßig meisten Mandaten als beauftragt erachten, den Regierungsbildungsprozess zu führen. Bei der Wahl zum aktuellen Thüringer Landtag war dies die CDU-Fraktion. Anteilsmäßig folgten ihr die Fraktionen: Die Linke, SPD, AfD und B’90/Grüne. Mögliche Koalitionen waren die Große Koalition (evtl. auch eine Afghanistan-Koalition) und -da man eine Regierungsbildung mit der AfD aus guten Gründen ausschloss- Rot-Rot-Grün. Auch hier wurden die SPD-Mitglieder befragt, und zwar noch bevor Koalitionsverhandlungen aufgenommen wurden. Es wurde also nicht über einen unterschriftsreifen Koalitionsvertrag abgestimmt. Die SPD-Mitglieder entschieden sich für Rot-Rot-Grün. Erst nach dem Mitgliederentscheid wurden entsprechende Koalitionsverhandlungen geführt. Somit stellt die zweitgrößte Fraktion nunmehr den Ministerpräsidenten. Die größte Fraktion hingegen war gar nicht erst an einer Regierungsbildung beteiligt. In Anbetracht der eingangs genannten Prämisse wundert es nicht, dass bei einem solchen Vorgehen Kritik hinsichtlich einer 2-Klassen-Wählerschaft laut wird. Hierbei wird nicht verkannt, dass es kein Automatismus ist, dass die größten Fraktionen eine Regierung zu stellen haben. Dass jedoch die Mitglieder der Partei, die die drittgrößte Fraktion im Landtag stellt, mit ihrer Entscheidung der größten Fraktion das Recht entzieht, eine Regierungsbildung zu führen, halte ich durchaus für diskussionsbedürftig.
“Dass jedoch die Mitglieder der Partei, die die drittgrößte Fraktion im Landtag stellt, mit ihrer Entscheidung der größten Fraktion das Recht entzieht, eine Regierungsbildung zu führen, halte ich durchaus für diskussionsbedürftig.”
Wenn das so wäre, dann könnte ich Ihnen zustimmen. Tatsächlich kann weder die drittgrößte Fraktion noch die sie stellende Partei die Rechte der größten Fraktion in der von Ihnen behaupteten Weise beschneiden. Es ist der größten Fraktion vielmehr unbenommen, mit anderen Fraktionen eine Regierungsbildung zu versuchen (so verstehe ich Ihren mir unbekannten Begriff “Regierungsbildung führen”). Genauso steht es aber allen anderen Fraktionen frei, eine solche Regierungsbildung abzulehnen oder sogar bereits das Gespräch darüber zu verweigern. Insbesondere Letzteres kann man in Ansehung der konkreten Umstände eines Einzelfalls freilich durchaus kritisch sehen – von Rechts wegen verboten ist es meines Erachtens nicht.
Weshalb sollte es vorzugswürdig sein, dass Personen ohne demokratisches Mandat – seien es Parteitage, Parteivorstände oder wie jetzt bei der SPD alle Parteimitglieder – faktisch Entscheidungen treffen, die nach dem Grundgesetz den gewählten Abgeordneten zukommen? Ist einmal die Regierung gebildet, setzt sich das Ganze fort: Dann bestimmen die so genannten Koalitionsausschüsse die Politik. Sie sind ebenfalls regelmäßig (auch) mit Parteifunktionären ohne Mandat besetzt.
Der Rückgriff auf Art. 21 GG erscheint mir zirkelschlüssig: Wieweit der Einfluss der Parteien im Verhältnis zu den gewählten Abgeordneten reichen soll, ist doch gerade die Frage. (Abgesehen davon: Der Satz *Wir leben in einer Parteiendemokratie, in der die Parteien gemäß Art. 21 GG maßgeblich bei der Willensbildung des Volkes mitwirken* enthält eine subtile Insinuation: Denn das Wort „maßgeblich“ taucht im Wortlaut des Art. 21 nicht auf.)
Streng juristisch mag gegen die gegenwärtige Praxis der Koalitionsverhandlungen und der „Ratifizierung“ der Koalitionsverträge durch Parteigremien nichts zu erinnern sein. Doch führt sie dazu, dass etwa der Bundestag zur bloßen Kulisse eines Schauspiels herabgewürdigt wird, bei dem andere den Text schreiben und die Regie führen. Dem (gerade aktuell dringend benötigten) Vertrauen in die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen dient dies eher nicht.
Die Parteiführung kann wie die Führung in allen Gesellschaften bei der Führung auf das Wohl der Partei, bzw. Gesellschaft verpflichtet sein.
Hier hat eine Partreiführung etwas für die Partei vereinbart und dies danach parteiintern zur Abstimmung gestellt.
Die abzustimmende Frage kann für das Parteiwohl vollkommen unerheblich sein. Nur in diesem Fall kann die Parteiführung insgesamt rechtmäßig gehandelt haben. Oder die abzustimmende Frage kann für das Parteiwohl in einer Form erheblich sein. In diesem Fall, kann die Parteiführung in jedem Fall rechtswidrig gehandelt haben. Dies entweder durch die Vereinbarung selbst, oder dadurch dass sie über die Vereinbarung nochmals abstimmen ließ.
Dass die abzustimmende Frage für das Parteiwohl vollkommen unerheblich ist, kann überhaupt, wie auch besonders bei basisdemokratisch Orientierten, weniger verbreitet sein. Im Gegenteil scheint man vielmehr erbreitet einen Grund, welcher solche Abstimmung rechtfertigen können soll, gerade im Parteiwohl sehen zu wollen.