11 June 2021

Was weiß ich denn schon über Kaschmir?

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus.

Goethe, Faust I, Osterspaziergang

In Kaschmir braut sich etwas zusammen. Es gibt massive Militärbewegungen, es gibt Gerüchte, Angst breitet sich aus vor weiteren Massenverhaftungen, Enteignungen und Vertreibungen, vor einem erneuten Internet-Shutdown, vor einer weiteren Teilung des Landes womöglich. Bald zwei Jahre ist es her, dass die hindu-nationalistische indische Zentralregierung den mehrheitlich muslimischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir seiner konstitutionellen Autonomie beraubt und seither in eine Art riesiges Laboratorium zum Ausprobieren und Effektivieren von Unterdrückungsmaßnahmen verwandelt hat, in mancher Hinsicht vergleichbar mit dem, was China in Xinjiang treibt.

Was weiß ich denn schon über Kaschmir? Was geht mich Kaschmir an? Ich sitze hier in der Uckermark auf meiner Terrasse im Schatten, umgeben von Hummelgebrumm und Mohn- und Rosenblüten, trinke mein Gläschen aus und doktere an meinem Editorial herum. Friedlich, ruhig, in Sicherheit. Nachher werde ich noch das Gemüsebeet gießen. Baden gehen unten im See. Kaschmir ist so weit weg.

Wir sind ein deutscher Blog. Ich bin Deutscher, unsere Redaktion besteht aus Deutschen, unser Editorial Board auch, ein großer Teil unserer Autor_innen und zwei Drittel unserer Leser_innen. Wir sitzen in Berlin. Das deutsche Staatsrecht ist unser Handwerkszeug, das haben wir gelernt an der Uni, deutsches Staatsrecht als Analyse- und Bewertungsinstrumentarium zum Verständnis von Staat, Recht und Politik einzusetzen. Mit ihm und an ihm arbeiten wir uns ab seither, an seinen Stärken und Schwächen im Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen und in Relation zu der zusammenwachsenden und gleichzeitig entlang neuer Bruchlinien auseinander treibenden europäischen Rechtsordnung. (Speak for yourself, sagen jetzt vielleicht meine jüngeren Kolleg_innen mit ihren niederländischen oder britischen Jura-Abschlüssen: Okay, mach ich.)

Was weiß ich über Kaschmir? Wenig. Wir hatten eine Handvoll Texte dazu im Spätsommer und Herbst 2019 (z.B. hier, hier und hier), seither kaum noch etwas. Der letzte Text von ADEEL HUSSAIN aus dem Januar 2020 behandelt das Urteil des indischen Supreme Court zu dem fünfmonatigen Kommunikations-Shutdown, den die Zentralregierung über Jammu und Kaschmir verhängt hatte – eine extrem lohnende Lektüre auch wegen der historischen Einordnung des Konflikts zwischen Hindu-Herrschern und Landeigentümern und muslimischen Bauern und Pächtern, die zeigt, wie tief vor allem auch die britische Kolonialregierung in seine Entstehung verstrickt war. So weit weg? Nicht wirklich. So lange her? Auch nicht wirklich.

Was da 2019 passiert ist, war die Auflösung eines eigentümlichen konstitutionellen Schwebezustands: Jammu und Kaschmir war nicht einfach nur eine Provinz oder ein Gliedstaat im Bundesstaat Indien gewesen, ein- und untergeordnet in ein auf höherer Verfassungsebene konstituiertes Ganzes, sondern ein Staat aus eigenem Recht, mit eigener Verfassung, eigenem Staatsoberhaupt und eigenem, in Art. 370 der indischen Verfassung geregeltem Sonderstatus. Zwei autonome Verfassungsordnungen trafen da aufeinander, in der Balance gehalten durch ein Geflecht von Normen, Institutionen, Gerichtsurteilen, Vorläufig- und Endgültigkeiten, für mich als deutschem Verfassungsjuristen ebenso faszinierend wie schwer durchschaubar.

Solche föderalen Schwebezustände, damit können wir etwas anfangen, das kommt uns bekannt vor. Ist nicht die Europäische Union auch ein solcher? Besteht nicht deren Erfolgsgeheimnis gerade darin, die Hierarchie zwischen den Ebenen gerade nicht ein für allemal zu klären, sondern offen und in der Balance zu halten wie ein wunderschönes Calder-Mobile? Eine Balance, die ebenfalls sehr gefährdet erscheint gerade? In dieser Woche hat die EU-Kommission angekündigt, Deutschland verklagen zu wollen, um den Vorrang des Europarechts gegen den Ultra-Vires-Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichts im PSPP-Urteil durchzusetzen. Die Kommission wird ihrerseits verklagt vom Europäischen Parlament, und zwar darauf, endlich den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gegen u.a. Polen in Gang zu setzen, wo wiederum das polnische Verfassungsgericht sich anschickt, den Vorrang des EU-Rechts total aus den Angeln zu heben.

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CALL FOR SUBMISSIONS – DITIGAL SYMPOSIUM ON INTERNATIONAL PANDEMIC LAWMAKING

The Petrie-Flom Center for Health Law Policy, Biotechnology, and Bioethics at Harvard Law School, Middlesex University London, and the Max Planck Institute of Comparative Public Law and International Law invite submissions to a digital symposium hosted by the Verfassungsblog and Bill of Health on the prospective treaty on pandemic preparedness and response.

Find further information here.

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Im August 2019 ist diese Balance im Fall Kaschmir zusammengebrochen. Besser gesagt brach sie nicht zusammen, sondern wurde umgeschmissen, gezielt, bewusst, geplant und mit größter Brutalität, und zwar durch die hindu-nationalistische BJP-Mehrheit im indischen Parlament, angeführt von dem kurz zuvor triumphal im Amt bestätigten Ministerpräsidenten Narendra Modi. An ihrer Stelle errichtete die BJP-Regierung ein klares Ein- und Unterordnungsverhältnis zwischen Zentral- und Teilstaat, und nicht nur das: Die Eigenstaatlichkeit wurde kurzerhand aufgehoben. Jammu und Kaschmir sind jetzt ein direkt von Delhi aus regiertes Unionsterritorium. Obendrein wurde das Territorium aufgespalten. Klare Verhältnisse: Es gibt in Indien keinen Muslim-Staat. Nur eine Hindu-Nation.

Lassen die Kaschmiris sich das gefallen? Wohl nicht. Aber das ist womöglich Teil des Kalküls. Schon zuvor war Kaschmir fortlaufend von Terroranschlägen erschüttert worden, gefördert vom feindlichen Nachbarn Pakistan. Damit  lässt sich Politik machen. So eine wilde Gegend irgendwo an der Peripherie, wo es schlimm zugeht, wo ein permanenter Unruhe- und Gefahrenherd brodelt und von denen aus sich Terroristen und Aufrührer in die Metropolen schleichen und die Mehrheitsgesellschaft in Angst und Schrecken versetzen – so etwas ist aus Sicht eines autoritär-populistischen Regimes eine feine Sache: So bleibt die Mehrheitsgesellschaft stets hinreichend verängstigt, um ihr als Gegenleistung für Schutz Unterstützung abkaufen zu können. Jeder Autokrat, der auf sich hält, hat so etwas heutzutage: Erdogan, Xi, Putin, Netanyahu, und allesamt lernen sie voneinander. Überhaupt gibt es ungeheuer viel zu lernen: Was kann man in so einem peripheren Terrornest an so einem entrechteten Bevölkerungsteil nicht alles an nützlichen Technologien ausprobieren, verfeinern und vervollkommnen.

Die Mehrheitsgesellschaft, die auf diese Weise gleichzeitig verängstigt und zufrieden gehalten wird, umfasst uns übrigens alle. So wie das Hindu-Bürgertum in Indien mit Schaudern und am liebsten überhaupt nicht an die fürchterliche Unruheprovinz im fernen Nordwesten denkt und im Allgemeinen tief zufrieden damit ist, was die Modi-Regierung da tut, solange sie ihm die Terroristen vom Leib hält, so schauen wir doch alle auf die globalen Unruheprovinzen, auf den Kaukasus, den Nahen Osten, Afghanistan, Mittelamerika, den Balkan und die Sahelzone, mit Schaudern und voll Angst vor denen, die von dort kommen und sich zu uns aufmachen, und tief zufrieden darüber, dass jene dort und wir hier sind, jene hinten, weit, in der Türkei aufeinanderschlagen und wir hier auf unserer hübschen Terrasse in der Uckermark, ein Gläschen in der Hand, den Blick dankbar und glücklich über den imaginierten Fluss schweifen lassen, auf dem die bunten Schiffe des freien Welthandels gleiten anstatt dieser furchtbaren Dinghies voller ausgemergelter Migranten.

Wir werden in unregelmäßigen Abständen auf dem Verfassungsblog “Briefe aus Kaschmir” posten. Berichte darüber, was sich dort zuträgt, von Autor_innen, die das vor Ort selbst sehen und erleben, was da passiert.

Mehr dazu demnächst.

Dank an A.J. und B.S. für wertvollen Input.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Die EU-Kommission hat ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ultra-Vires-Handeln von EZB und EuGH gegen europäische Verträge verstößt. Ist das eine gute Idee? Aus prinzipiellen Gründen ja, findet THU NGUYEN. Die Gegenmeinung von BENEDIKT RIEDL bringen wir morgen.

Die ebenfalls bereits erwähnte Untätigkeitsklage, mit der das Europäische Parlament die Kommission bedroht, wenn diese nicht endlich den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus in Gang setzt, analysiert SÉBASTIEN PLATON und argumentiert, dass das Parlament effektivere Mittel hätte einsetzen müssen, um die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen.

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Virtual Conference – REWI Day of Interdisciplinary Research

Interdisciplinary research bears the promise to promote understanding and to find solutions for complex problems affecting humanity today: Current global challenges, such as climate change, digitalisation and artificial intelligence require joint efforts across all disciplines to reap the benefits of research and technological progress without losing sight of the achievements our societies have fought for so hard.

On the 18th June 2021 REWI Graz will open its (virtual) doors to researchers from all over the world to discuss these common challenges.

The conference programme and registration details are available here.

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Zu tun gäbe es genug: In Bulgarien hat vor einigen Tagen der allmächtige Generalstaatsanwalt eine Razzia im Innenministerium durchführen lassen, offenbar um eine Untersuchung über illegale Abhörmaßnahmen zu sabotieren. Nach Ansicht von RADOSVETA VASSILEVA zeigt der Fall einmal mehr, welch kafkaeske Institution die Staatsanwaltschaft in Bulgarien ist.

In Österreich musste in einem Skandal um private Chat-Nachrichten mit einem Sektionschef des Justizministeriums ein Richter des Verfassungsgerichtshofs zurücktreten. Für THEO ÖHLINGER wirft der Fall ein Schlaglicht auf ein grundsätzliches Problem des Verfassungsgerichtshofs: seine Mitglieder über ihr Amt neben ihrem Beruf aus.

In Nordrhein-Westfalen will die Landesregierung ein neues Versammlungsgesetz in Kraft setzen – offenkundig in Reaktion auf die Proteste gegen den Braunkohleabbau und die Energiepolitik, und zwar nach Analyse von CLEMENS ARZT mit ziemlich problematischer Stoßrichtung.

Die meisten deutschen Parteien plagen sich mit mehr oder minder prominenten Mitgliedern herum, die sie wegen ihrer skandalträchtigen Äußerungen gern los würden, aber nicht so einfach los werden können – bei den Grünen der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, bei der CDU die “Werteunion” und ihr offen AfD-naher Vorsitzender Max Otte. SVEN JÜRGENSEN warnt, nicht zu unterschätzen, welche Folgen auch ein unterlassenes Parteiausschlussverfahren gegen inhaltliche Grenzgänger haben kann.

Muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk rechtsradikale Parteien bei der Programmgestaltung gleich behandeln mit anderen? Und können diese sich beispielsweise in Talkshows einklagen? Das können sie nicht, meinen ANDREAS FISCHER-LESCANO und GEORG RESTLE. Es müsse der Programmautonomie der Sender und der Redaktionen überlassen bleiben, wie sie mit den Vertreter_innen der AfD umgehen wollen.

Können Ferkel klagen? Den Versuch, Tierrechte vor dem Bundesverfassungsgericht zu stärken, hatte die Tierrechtsorganisation PETA mit einer Verfassungsbeschwerde aller männlichen Ferkel in Deutschland unternommen. JASPER MÜHREL berichtet, wie das ausgegangen ist.

Der EuGH hat gestern über die unionsrechtlichen Kriterien für die Gewährung von subsidiärem Schutz entschieden – und den rein quantitativen Ansatz des BVerwG abgelehnt. PETER VON AUER hofft, dass die deutsche Rechtsprechung damit der Situation in Afghanistan zukünftig besser gerecht wird.

Die jüngste Wahlrechtsreform in Nicaragua halten FLORIAN KRIENER, GABRIEL ÁLVAREZ ARGÜELLO und ALINA MARIA RIPPLINGER für sehr besorgniserregend und ein schlechtes Omen für die für November dieses Jahres angesetzten Präsidentschaftswahlen.

Zurück zu Indien: Dort hat sich die Modi-Regierung neue, weitreichende Befugnisse verschafft, um digitale Plattformen für gefährliche Inhalte zur Verantwortung zu ziehen, und nutzt nach Ansicht von MAXIMILIAN BEYER, SANGEETA MAHAPATRA und MATTHIAS C. KETTEMANN diese Befugnisse, um Kritik als Desinformation abzustempeln und gesellschaftlichen Dissens zu ersticken.

Das spektakuläre Grundsatzurteil des kenianischen Obersten Gerichtshofs zu den Grenzen der Änderungsmöglichkeit der Verfassung schlägt weiter hohe Wellen. MAKAU MUTAU beleuchtet, wie dieses Urteil in der kenianischen Politik das Unterste zuoberst gekehrt hat und wie es in der nächsten Instanz weitergehen könnte. Aus verfassungswissenschaftlicher Perspektive widerspricht RAFAEL MACÍA BRIEDIS der Feierlaune anderer Kommentatoren und mahnt zu mehr Zurückhaltung gegenüber Basic Structure Doctrine.

Zu dem Klima-Urteil aus Den Haag, wonach der Energiekonzern Shell seine Emissionen bis 2030 um 45 Prozent reduzieren muss, kommentiert FELIX EKARDT, dass das Urteil die Umsetzung von Artikel 2 des Pariser Abkommens erheblich voranbringen wird.

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Progressive Jurist*innen durch progressive Lehre – Die HLCMR ist in Gefahr!

Seit mehr als 10 Jahren tritt die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR) als Vorreiterin für progressive Lehre zur Ausbildung kritischer Jurist*innen auf und fördert die praktische und wissenschaftliche Auseinandersetzung von Studierenden mit gesellschaftlich höchst relevanten Themen.

Mit Ende des Jahres 2020 ist nun allerdings die Finanzierung durch das BMBF ausgelaufen. Als Ehemalige haben wir deshalb einen gemeinnützigen Förderverein gegründet, um den Fortbestand der ersten Law Clinic dieser Art in Deutschland zu sichern. Unterstützen auch Sie uns, indem Sie Fördermitglied werden, spenden oder unseren Offenen Brief unterschreiben.

Genauere Informationen finden Sie auf unserer Website.

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Das wäre dann wieder alles für diese Woche.

Bitte überlegen Sie sich, ob Sie nicht doch Mitglied in unserer stetig wachsenden Unterstützer-Gemeinde werden wollen, wenn Sie es nicht schon sind!

Eine frühere Version dieses Editorials enthielt Ungenauigkeiten zum Vertragsverletzungsverfahren und zum Namen eines Autors, die jetzt korrigiert sind.

Ihnen alles Gute, vielen Dank und bis bald,

Ihr

Max Steinbeis


One Comment

  1. Student der Jurisprudenz Sat 12 Jun 2021 at 10:32 - Reply

    Herausragender Artikel! Dieses Thema verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit. Leider verschließen sich viele der Ungerechtigkeit, solange es sie nicht selbst betrifft.

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