24 February 2021

Weder revolutionär noch eine Besonderheit

Fördermaßnahmen zwischen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und völkerrechtlicher Verpflichtung

Der Berliner Gesetzesentwurf für eine bevorzugte Einstellung von „Menschen mit Migrationshintergrund“ im öffentlichen Dienst ist zwar vorerst gescheitert, doch das Thema wird uns mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren weiter beschäftigen. Die politischen und rechtlichen Kontroversen sind vorprogrammiert, denn solche Maßnahmen tangieren Ressourcen und Privilegien. Es geht um grundlegende Verteilungsfragen und -kämpfe und damit um Machtfragen und -kämpfe. Anders als pauschal behauptet, sind Fördermaßnahmen für Angehörige bestimmter sozialer Gruppen, die historisch und strukturell diskriminiert werden, nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch internationalrechtlich verpflichtend.

Begriffe mit Defiziten

Im politischen und juristischen Diskurs werden zahlreiche Begriffe verwendet, die teils abwertend, teils ebenso unpräzise wie unzutreffend sind. Der Begriff „Migrantenquote“ trägt eine abwertende Konnotation in sich, der Begriff „positive Diskriminierung“ ist begrifflich widersprüchlich und dogmatisch inkorrekt. Eine Diskriminierung, auch eine positive, ist rechtlich unzulässig. Daher empfiehlt etwa CERD (UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung), diesen Begriff zu vermeiden (etwa CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 32). Nicht weniger problematisch ist der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“, auch wenn er zuweilen einfachgesetzlich legaldefiniert ist, wie etwa in § 2 des Berliner Integrationsgesetzes. Er entspricht nämlich explizit keinem Begriff im Antidiskriminierungsrecht auf nationaler oder internationaler Ebene und kann implizit mögliche Betroffene im Kern nicht zutreffend zusammenfassen. Einschlägige verfassungs-, europa- und internationalrechtliche normative Vorgaben zielen nicht in jeder Hinsicht auf den Schutz von Personen ab, die unter diesen Sammelbegriff fallen. Die einschlägigen Normen knüpfen zum einen an Merkmale an, die einer Person zugeschrieben werden, und zum anderen an die Diskriminierung als Resultat einer unzulässigen Differenzierung. Erst die Kombination kann rechtliche Folgen nach sich ziehen. Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist aus unterschiedlichen Gründen defizitär. Er ist unzureichend (under inclusive), weil er Personen, die z.B. auf Grund von Rasse oder Hautfarbe diskriminiert werden, nicht stets erfasst, etwa Schwarze Deutsche ohne Migrationshintergrund. Er ist überschüssig (over inclusive), weil er Personen erfasst, die antidiskriminierungsrechtlich nicht zwingend einer Förderung bedürfen. Daher ist es zutreffender, für Fördermaßnahmen an Kategorien anzuknüpfen, die in Art. 3 III 1 GG und relevanten internationalrechtlichen Rechtstexten normiert sind.

Vielfältige Fördermaßnahmen

Es gibt viele Möglichkeiten, Fördermaßnahmen auszugestalten. Sie können als strikte Quotenregelung konzipiert werden, die etwa an ethnische Herkunft oder Rasse anknüpfen, und diese Merkmale für die bevorzugte Einstellung heranziehen, bis die vorgegebene Quote erreicht ist. Weiter sind Maßnahmen möglich, die auf den Grundsatz der Bestenauslese in Art. 33 II GG aufbauen und nur bei gleicher Qualifikation der Bewerber:innen eine Bevorzugung auf Grund der genannten Merkmale vorsehen. In dieser Variante sind sowohl Regelungen mit strikter als auch mit lockerer Bevorzugung möglich. Das heißt, neben dem relevanten personenbezogenen Merkmal (Rasse, Herkunft, Geschlecht) werden andere Gesichtspunkte berücksichtigt oder auch nicht. Zudem ist es möglich bestimmte Fähigkeiten und Erfahrungen – etwa die sogenannte interkulturelle Kompetenz oder Sprachkenntnisse – als (zusätzliches) Leistungskriterium zu berücksichtigen. Letzter Ansatz kann separat oder kumulativ mit einer der zuvor genannten Varianten kombiniert werden (ausführlich zu einzelnen Möglichkeiten siehe hier). Diese Regelungstypen bedürfen einer differenzierten rechtlichen Bewertung. Verkürzte und demagogische Diskussionen führen hier nicht weiter.

Der Berliner Vorschlag etwa hielt am Grundsatz in Art. 33 II GG fest und ordnete nur im Falle der gleichen Eignung eine bevorzugte Einstellung von „Menschen mit Migrationshintergrund“ an, zudem unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Damit fügt sich dieses Konzept nahtlos in die gängige und verfassungskonforme Praxis etwa der Förderung von Frauen.

Unterschiedliche Ziele

Die Fördermaßnahmen können schließlich unterschiedliche Ziele verfolgen: Herstellung tatsächlicher Gleichheit, erhöhte Legitimation des staatlichen Handelns durch angemessene Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen und Gewährleistung der Pluralität im öffentlichen Dienst als Spiegelbild der Gesellschaft. Die Bestimmung der Ziele ist zwar primär eine politische Frage, aber nicht allein ein Primat der Politik. Auch verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Vorgaben sind zu beachten. Daher wäre es kurz gegriffen, wenn man meint, es handle sich hier um politische Opportunität oder einen wohlwollenden Akt des Staates. Grundlegende normative Vorgaben und Verpflichtungen machen das politische Handeln notwendig. Insbesondere zwei Ziele sind aus rechtlicher Perspektive vital, die nicht zwingend zusammengehören, aber sich wechselseitig bedingen: die Bekämpfung struktureller Diskriminierung und die Gewährleistung der angemessenen Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen bei der Beteiligung an und Ausübung der Staatsgewalt.

Es existieren zwar kaum quantitative Studien, die eine strukturelle Diskriminierung bei der Einstellung im öffentlichen Dienst belegen, allerdings gibt es einige Studien, die anhand der Erfahrung von Betroffenen von einer starken entsprechenden Vermutung im allgemeinen ausgehen (vgl. etwa hier). Im Hochschulbereich gibt es Analysen, die etwa bei der Bewertung der juristischen Staatsexamina feststellen, dass „Personen mit Migrationshintergrund“ schlechtere Noten erzielen. Diskriminierung als Ursache für die schlechtere Benotung sei nicht auszuschließen (vgl. hier).

Deutlich hingegen ist die Unterrepräsentation von Personen im öffentlichen Dienst, die auf Grund von Abstammung, Rasse, ethnischer Herkunft, Hautfarbe etc. strukturell benachteiligten Gruppen angehören. Im Jahr 2017 hatten insgesamt 10,7 % der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst einen „Migrationshintergrund“, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ca. 23 % betrug. 6,1 % davon waren Deutsche mit „Migrationshintergrund“ und 4,7 % „Ausländer_innen“ (vgl. hier S. 112). Noch deutlicher dürfte die Unterrepräsentation in der Justiz sein. Hierzu werden aber erst gar keine Daten erhoben, nicht nur in Berlin. Evident unterrepräsentiert sind die genannten Personen auch in der Wissenschaft und damit in der Wissensproduktion und -vermittlung. Das gilt auch für die Rechtswissenschaft. Zwar fehlen hier ebenfalls statistische Daten, aber ein Blick auf die Webseiten der juristischen Fakultäten und Fachbereiche oder auf die Mitgliederliste der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ zeigt das auch ohne entsprechende Studien deutlich. Es geht eben auch um Repräsentation und die Herstellung tatsächlicher Gleichheit in dieser wichtigen Domäne des öffentlichen Dienstes.

Rechtliche Zulässigkeit und Verpflichtung zum Erlass von Fördermaßnahmen

Aber ist es überhaupt rechtlich zulässig, die fraglichen Personen bei der Einstellung im öffentlichen Dienst bevorzugt zu berücksichtigen? Für die Antagonist:innen scheint die Rechtslage eindeutig zu sein. Mit Erwägungen wie Unbestimmtheit des Begriffs „Migrationshintergrund“, Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Unterrepräsentation, dass es keine diskriminierenden Einstellungspraxen im öffentlichen Dienst gebe oder Fördermaßnahmen für „Menschen mit Migrationshintergrund“ nicht geboten und folglich verfassungswidrig seien, lehnen sie undifferenziert die Zulässigkeit solcher Maßnahmen grundsätzlich ab (siehe etwa hier, hier und hier).

Verfassungsrecht

Verfassungsrechtlicher Maßstab ist zunächst Art. 33 II GG. Danach hat „jeder Deutsche“ „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern“. Es gilt also der Grundsatz der Bestenauslese bzw. der Leistungsgrundsatz, sodass bei der Einstellung im öffentlichen Dienst primär die in Art. 33 II GG normierten Beurteilungsgesichtspunkte herangezogen werden müssen. Das bedeutet aber keineswegs, dass andere Kriterien nicht berücksichtigt werden dürfen. Vielmehr können Belange, die Verfassungsrang haben, in die Entscheidung einbezogen werden, wenn aus dem Vergleich unmittelbar leistungsbezogener Gesichtspunkte kein Vorsprung einer Bewerberin oder eines Bewerbers vorliegt (ständige Rechtsprechung vgl. etwa hier, Rn. 11 mwN).

Diese unumstrittene Rechtsprechung ist weder revolutionär noch eine Besonderheit. Als vorbehaltlos gewährleistetes (grundrechtsgleiches) Recht kann Art. 33 II GG entsprechend der allgemeinen Grundrechtsdogmatik auf Grund des kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden. Deshalb ist es nicht nur möglich, die Gleichbehandlung bei gleicher Eignung einzuschränken, sondern der Leistungsgrundsatz in Art. 33 II GG kann selbst eingeschränkt und eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden. Exemplarisch können Personen, die strukturell diskriminiert und unterrepräsentiert sind, bereits dann bevorzugt werden, wenn sie generell für eine Stelle geeignet sind und sich für die Einschränkung des Grundsatzes in Art. 33 II GG Belange mit Verfassungsrang finden lassen.

Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt das Benachteiligungs- und Bevorzugungsverbot des Art. 3 III 1 GG in Betracht. Über den Wortlaut hinaus, entsprechend dem Sinn und Zweck sowie der historischen Formation des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 III 1 GG, ist nach umstrittener, aber zutreffender Ansicht, eine Bevorzugung dann zulässig – zumindest aber gerechtfertigt –, wenn sie strukturelle Diskriminierung und Benachteiligung ausgleichen soll (vgl. etwa Baer/Markard, Art. 3 III GG, Rn. 407 ff.; Uerpmann-Wittzack, HStR, § 128 Rn. 46 ff.). Art. 3 III 1 GG umfasst nicht jedwede Bevorzugung, sondern nur solche, die zu der Diskriminierung strukturell und historisch benachteiligter Personen führen. „Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen“, wie das BVerfG festgestellt hat (Rn. 59). Unzulässig ist deshalb die Begünstigung privilegierter Personengruppen (=Privilegierungsverbot).

Dieses Verständnis des Art. 3 III 1 GG ist auch unter Berücksichtigung des Unionsrechts, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) geboten. Nach diesen Regelwerken stellen Fördermaßnahmen keine rechtlich relevante Ungleichbehandlung dar. Art. 1 IV ICERD normiert dies explizit. Danach sind besondere Maßnahmen (special measures) keine Diskriminierung, wenn sie dazu dienen gleichberechtigte Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten zu gewährleisten.

Darüber hinaus ergibt sich aus der Gewährleistungsdimension des Art. 3 GG unter Berücksichtigung des internationalen Rechts ein Gebot zur Vornahme von Fördermaßnahmen. Über die Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus garantiert er auch die tatsächliche Durchsetzung der Gleichstellung unter Beseitigung bestehender Nachteile (ähnlich, jedoch nur begrenzt auf die Schutzdimension, Uerpmann-Wittzack, HStR, § 128 Rn. 29 f.). Diese Lesart des Art. 3 III 1 GG mag verfassungsrechtlich disputabel sein, sie ist jedoch unter Berücksichtigung der Schutzpflichtdimension des Art. 14 EMRK und des Art. 2 II ICERD notwendig. Nach diesen Vorgaben sind die Vertragsstaaten verpflichtet, Fördermaßnahmen in Bezug auf Personen vorzunehmen, die strukturell etwa auf Grund von Rasse, Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert werden.

Konkret geht es darum, nicht nur Rechtsnormen zu beseitigen, die Nachteile an Merkmale wie Abstammung, Rasse oder Herkunft knüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung durchzusetzen; Art. 3 III 1 GG zielt darauf, die Lebensverhältnisse tatsächlich anzugleichen. Faktische Nachteile, die typischerweise die genannten Gruppen treffen, dürfen durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden (zu Art. 3 II GG vgl. BVerfG Nachtarbeitsverbot; zu der Zulässigkeit von Fördermaßnahmen bereits vor der Einführung des Art. 3 II 2 GG vgl. BVerfG Hinterbliebenenrente I).

Festzuhalten ist, dass jedenfalls bei gleicher Eignung Merkmale in Art. 3 III 1 GG als ein Gesichtspunkt herangezogen werden können, um eine begünstigte Einstellung zu rechtfertigen. Grenze und Maßstab für eine Ungleichbehandlung nach Art. 33 II GG ist natürlich die Verhältnismäßigkeit der konkreten Maßnahme.

Unionsrecht

Fördermaßnahmen spielen im europarechtlichen Antidiskriminierungsrecht eine nicht zu unterschätzende Rolle und bestimmte Fördermaßnahmen sind im Unionsrecht schon immer zulässig gewesen. Die Rechtsgrundlage ist gegenwärtig Art. 19 AEUV. In persönlicher Hinsicht beschränkt sich die Norm nicht auf Unionsbürger:innen. In sachlicher Hinsicht kann die EU gesetzgeberisch tätig werden und geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen etwa aus Gründen der Rasse, der ethischen Herkunft und der Religion zu bekämpfen. Umfasst ist auch die Vornahme von Fördermaßnahmen, um die tatsächliche Gleichstellung zu gewährleisten. Diesem Auftrag ist die Union unter anderem mit der Richtlinie 2000/43/EG nachgekommen. Nach Art. 5 können die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung in der Praxis spezifische Maßnahmen beschließen, mit denen Benachteiligungen auf Grund der Rasse und der ethnischen Herkunft verhindert und ausgeglichen werden. Auch hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung konstatiert, dass Fördermaßnahmen im Unionsrecht zulässig sind, wenn sie an die Kriterien in Art. 19 AEUV anknüpfen, um die Benachteiligung auszugleichen. Entscheidend ist, dass die Fördermaßnahmen verhältnismäßig sind. Unzulässig sind Vorrangregelungen dann, wenn sie absolut und unbedingt sind (vgl. etwa hier und hier).

Internationales Recht

Der EGMR geht auf Grund von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ebenfalls davon aus, dass die Bevorzugung strukturell benachteiligter Gruppen nicht gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Mit anderen Worten liegt bei der Begünstigung einer Personengruppe in Anknüpfung an eines der Merkmale in Art. 14 EMRK keine rechtlich relevante Benachteiligung anderer Personen und damit keine Diskriminierung vor. Darüber hinaus entnimmt der EGMR der Schutzpflichtdimension des Art. 14 EMRK eine positive Verpflichtung von Vertragsstaaten, um historisch und strukturell erwachsene Benachteiligungen auszugleichen. So konstatierte der Gerichtshof beispielsweise: positive obligations of the State to undo a history of racial segregation” (EGMRHorváth and Kiss vs. Ungarn, Rn. 127; vgl. auch hier). Die Schutzpflichtdimension des Art. 14 EMRK entspricht im Ergebnis der Gewährleistungsdimension des Art. 3 III 1 GG. Auch aus der EMRK ergibt sich also nicht nur die Zulässigkeit von Fördermaßnahmen, sondern es besteht eine Verpflichtung hierzu (siehe dazu Barskanmaz, S. 331 f., 345 f.)

Weitergehender ist ICERD. Dem Übereinkommen ist Deutschland beigetreten, sodass es als unmittelbar geltendes Recht nach Art. 20 III GG bindend ist. Formal hat es zwar wie die EMRK den Rang eines Bundesgesetzes, faktisch hat es aber aufgrund der umfassenden verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigungspflicht in Anlehnung an die Görgülü-Entscheidung Verfassungsrang (Quasi-Verfassungsrang). Auch Verfassungsnormen sind daher im Lichte des Übereinkommens so auszulegen und anzuwenden, dass Konflikte mit völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entstehen.

Wie bereits ausgeführt stellt eine Fördermaßnahme zur Beseitigung struktureller und historisch bedingter Benachteiligung nach Art. 1 IV ICERD keine Diskriminierung dar. Entsprechend dem Sinn und Zweck des Diskriminierungsverbots wird eine Tatbestandsreduktion vorgenommen. Fördermaßnahmen sind rechtlich keine relevante Ungleichbehandlung, wenn sie dazu dienen, bestehende Ungleichheiten auszugleichen (vgl. CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 32 sowie Gragl, in: Angst/Lantscher, Art. 1 Rn. 33 ff.).

Darüber hinaus verpflichtet Art. 2 II ICERD die Vertragsstaaten zu besonderen Maßnahmen (special and concrete measures), also Fördermaßnahmen, um zu gewährleisten, dass Personen, die u.a. aufgrund der Rasse, Hautfarbe, ethnischen und nationalen Herkunft benachteiligt werden, in vollem Umfang und gleichberechtigt in den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen. Das Konzept der besonderen Maßnahmen zielt darauf ab, Diskriminierungen und Benachteiligungen, die strukturell und historisch bedingt sind, auszugleichen (vgl. CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 32 sowie Kanalan, in: Angst/Lantscher, Art. 2 II Rn. 5 ff.). Fördermaßnahmen sind zwingend, wenn sie erforderlich sind. Sie sind erforderlich, wenn eine anhaltende bzw. strukturelle Ungleichheit bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten vorliegt. Dieses materielle Gleichheitsverständnis umfasst Maßnahmen in Bezug auf Beschäftigung im öffentlichen Dienst und Vertretung sowie Beteiligung an den staatlichen Gewalten (vgl. etwa CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 34 sowie Kanalan, in: Angst/Lantscher, Art. 2 II Rn. 20 f.). Grundlegende Bedeutung erlangt hier die Notwendigkeit von Datenerhebung über Diskriminierung. In diesem Sinne enthält Art. 2 II (und I: „mit allen geeigneten Mitteln“) sogar eine Pflicht zur Datenerhebung.

Über die unmittelbare Verpflichtung aus Art. 2 II ICERD hinaus hat ICERD unter zwei Gesichtspunkten eine fundamentale Bedeutung für die Auslegung des Art. 3 III 1 GG. Erstens führt Art. 1 IV ICERD dazu, dass Fördermaßnahmen keine Diskriminierung nach Art. 3 III 1 GG darstellen. Wie bereits ausgeführt, muss Art. 3 III 1 GG vertragskonform ausgelegt werden, sodass Begünstigungen, die keine Privilegierung darstellen, nicht unter dem Anwendungsbereich des Art. 3 III 1 GG fallen. Zumindest ist eine Bevorzugung gerechtfertigt. Zweitens hat Art. 2 II ICERD zur Folge, dass die Gewährleistung des Art. 3 III 1 GG in ein Förderungsgebot bzw. in eine Verpflichtung zur Vornahme von Fördermaßnahmen transformiert wird. Fördermaßnahmen nach Art. 3 III 1 GG sind also nicht nur zulässig, sondern auch verpflichtend.

Verteilungs- und Machtkämpfe

So wie Frauenfördermaßnahmen sind Fördermaßnahmen auch für Personen, die etwa aufgrund der Merkmale wie Abstammung, Rasse, nationaler und ethnischer Herkunft, Hautfarbe diskriminiert werden, nicht nur zulässig, sondern auch geboten. Wer also über die Gleichstellung von Frauen spricht, kann nicht schweigen, wenn es um Personen geht, die auf Grund anderer Merkmale, die dem Geschlecht gleichstehen, struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind.

Daher ist die politische Forderung nach Fördermaßnahmen notwendig und konsequent. Dass ihre Umsetzung nicht leicht sein wird, zeigen die Abwehrmechanismen und Reflexe der Antagonist:innen. Der Grund hierfür dürfte mehr als die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit sein. Es geht um Verteilungs- und Machtkämpfe. Und die werden auch an Universitäten und insbesondere rechtswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereichen geführt.


5 Comments

  1. Philipp Wed 24 Feb 2021 at 11:58 - Reply

    Danke für den Beitrag! Die wirklichen Knackpunkte des Themas, die andere Beiträge derselben Stoßrichtung leider oft einfach übergehen oder als Taktik/Abwehrhaltung privilegierter Gruppen beschimpfen, sind immerhin angesprochen:

    – Migrationshintergrund ist (zu Recht) keine antidiskriminierungsrechtliche Kategorie, ist “unzureichend” und “überschüssig” zugleich. Fördermaßnahmen müssten an andere Merkmale anknüpfen.

    – Die Anknüpfung etwa an Herkunft oder an (vermeintliche) “Rasse” bräuchte zunächst entsprechende Daten. Beim “ob” der Erhebung ist der Beitrag mit wenigen Worten schnell festgelegt (andere Stimmen gerade aus betroffen Minderheiten werden das anders sehen, jedenfalls vor den Gefahren warnen). Zum “wie” der Erhebung schweigt er, dabei ist das gar nicht trivial: Behördliches (Fremd-)Labeling kann niemand wollen, aber was wäre umgekehrt zB anzufangen mit freiwilligen Eintragungen in Freifeldern?

  2. Michael Schneider Wed 24 Feb 2021 at 13:37 - Reply

    Der Beitrag kann in vielfacher Hinsicht nicht überzeugen.
    Bemerkenswert ist vor allem, dass der Verfasser hinsichtlich Art 3 III 1 GG auf eine systematische Auslegung völlig verzichtet. Schon ein Blick auf Art 3 III 2 GG wäre hilfreich: Verboten ist ausdrücklich nur eine Benachteiligung wegen der Behinderung, sodass unzweifelhaft Fördermaßnahmen zulässig sind. Demgegenüber verbietet Art 3 III 1 GG sowohl Benachteiligung als auch Bevorzugung, was konsequenterweise auch Fördermaßnahmen mit umfasst. Dafür spricht auch Art 3 II 2 GG, der bekanntlich zur Rechtfertigung von Frauenfördermaßnahmen herangezogen wird. Eine vergleichbare Bestimmung für Migranten fehlt vollends. Nichts anderes lässt sich aus der Entscheidung des BVerfG zum Nachtarbeitsverbot ableiten, da auch damals die Gleichberechtigung von Mann und Frau bereits in Art 2 II GG eine Sonderstellung einnahm und gerade nicht Teil von Art 3 III GG war. Verfehlt ist auch der Hinweis auf den angeblichen Zweck der Norm, (nur) Angehörige von diskriminierungsgefährdeten Gruppen zu schützen. Sollte dies tatsächlich zutreffen, so hat ein solcher Zweck im Wortlaut jedenfalls keinerlei Niederschlag gefunden und sollte schon deshalb nicht berücksichtigt werden. Dies muss umso mehr gelten, als der Verfassungsgeber durch die Einführung von Art 3 III 2 GG klar zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Möglichkeit von Fördermaßnahmen durchaus vor Augen hatte. Die Formulierung von Art 3 III 1 GG zeigt jedoch klar, dass eine solche Vorzugsbehandlung für bestimmte Gruppen gerade nicht gewollt war. Ohnehin erscheint es verfehlt, den Zweck von Diskriminierungsverboten auf den Schutz bestimmter (durch wen sollen sie eigentlich bestimmt werden?) Gruppen zu beschränken. So schützt Art 3 II 1 GG auch Männer vor einer Benachteiligung (vgl BVerfGE 92, 91), obwohl diese nach herrschender Lesart wohl eher nicht strukturell benachteiligt sind.
    Nach alldem ist klar, dass eine Migrantenquote mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist.
    Daran kann – bei aller Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes – auch das internationale Recht, welches im Rang des einfachen (!) Gesetzes steht, nichts ändern. Hier gilt es, entgegen der mitunter zweifelhaften Rechtsprechung des BVerfG, das System wieder „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen und einer Aushöhlung der Grundrechte unter Instrumentalisierung des Völkerrechts entgegenzuwirken.
    Gleichwohl ließe sich auch zum internationalen Recht noch einiges sagen: Zunächst ist auffällig, dass auch der Verfasser davon ausgeht, dass Unionsrecht, EMRK und CERD nur Maßnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen zuließen. Tatsächlich sind diese jedoch nicht nachweisbar, sodass die gesamte Argumentation in sich zusammenbricht. Soweit der Verfasser versucht, statt von Benachteiligung von Unterrepräsentanz zu sprechen, übersieht er, dass es sich hierbei um zwei völlig unterschiedliche Kategorien handelt. Unterrepräsentation kann viele Ursachen haben, etwa unterschiedliche Interessen. Auch bei der Müllabfuhr sind Frauen unterrepräsentiert, ohne dass dies bislang zu einem feministischen Aufschrei geführt hätte. Ohnehin verlangen die vom Autor genannten Normen keine spezifischen Maßnahmen wie etwa Quoten, sodass die Verpflichtungen (soweit sie denn überhaupt bestehen) in vielfältiger Weise erfüllt werden können.
    Abschließend noch eine Bemerkung: Der Verfasser unterstellt am Ende des Beitrages, Kritikern ginge es nicht nur um verfassungsrechtliche Fragen, sondern auch um Verteilungs- und Machtkämpfe. Da könnte man den Ball zurückspielen und dem Verfasser unterstellen, er propagiere die Quotenregelung gerade deshalb, weil der davon selbst zu profitieren hofft. Auf dieses Niveau möchte ich mich jedoch nicht herabbegeben.

  3. Lukas Küppers Wed 24 Feb 2021 at 15:30 - Reply

    Das Zentrale Argument des Autors, für die Auslegung des Art. 3 III 1 GG dahingehend, dass er Fördermaßnahmen erlaubt ist die völker- und unionsrechtskonforme Auslegung. Für diese gibt es allerdings Grenzen. Das BVerfG hat es in Recht auf Vergessen I (http://www.bverfg.de/e/rs20191106_1bvr001613.html) prägnant formuliert: “Eine europa- und völkerrechtsfreundliche Auslegung, […] bedeutet nicht, dass unter Nutzung des offenen Wortlauts der Grundrechte jede Interpretation internationaler oder europäischer Entscheidungsinstanzen und Gerichte zu übernehmen ist” (Rn. 62). Insbesondere eine schmetatische Parallelisierung ist nicht geboten. Ob die Grenzen überschritten sind, thematisiert der vorliegende Beitrag nicht.

    Wortlaut und Systematik sprechen dagegen, in Art. 3 III 1 GG ein Fördergebot hineinzulesen. In Art. 3 II 2 GG ist ein solches Fördergebot ausdrücklich im Hinblick auf die Gleichheit von Mann und Frau statuiert. Für andere Merkmale des Art. 3 III 1 GG ist fehlt ein solches. In Art. 3 III 2 GG wird bezüglich einer Behinderung nur die Benachteiligung verboten, nicht hingegen die Bevorzugung. Satz 1 verbietet hingegen auch die Bevorzugung. Fördermaßnahmen sind Bevorzugung. Wird bei gleicher Qualifikation etwa ein Schwarzer eingestellt, so liegt darin eine Bevorzgung gerade aufgrund der Hautfarbe (und damit wegen der Rasse i. S. v. Art. 3 III 1 GG). Zugleich würden Nichtschwarze wegen ihrer Rasse benachteiligt. Dieses Problem sieht der vorliegende Beitrag nicht. Die historische und strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen ändert nichts daran, dass Fördermaßnahmen sie in der Gegenwart i. S. v. Art. 3 III 1 GG bevorzugen und andere, die nicht in den Genuss der Förderung kommen, benachteiligen.

    Art. 3 III 1 GG so auszulegen, dass er verlangt, dass jede Gruppe entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung in der Verwaltung repräsentiert ist, widerspricht dessen Wortlaut. Dieser verlangt, das kein einziger Mensch (“Niemand”) wegen eines der dort genannten Merkmale diskriminiert wird. Im liegt also ein auf das Individuum bezogenes Gleichheitskonzept zugrunde. Ein Gruppenbezogenes Gleichheitskonzept (dieses wird mit dem Hinweis auf die Unterrepräsentation bestimmter Gruppen angedeutet) ist mit dem individualbezogenen nicht vereinbar. Ist eine bestimmte Gruppe – etwa Schwarze – in einer Behörde überrepräsentiert, so dürfen diese – nicht mehr von der Behörde eingestellt werden, da damit das gleichheitswidrige Ergebnis zementiert wird; und dies, weil sie schwarz sind.

  4. CJ Sun 28 Feb 2021 at 16:57 - Reply

    Wie meine Vorredner bereits zutreffend dargelegt haben, sprechen Wortlaut und Systematik von Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG klar dagegen, dass aufgrund der dort genannten Merkmale Personen privilegiert werden könnten oder gar müssten. Ergänzen möchte ich, dass es auch in teleologischer Hinsicht keinen einsichtigen Grund gibt, über die Förderpflicht von Frauen und Menschen mit Behinderungen hinaus Personengruppen privilegiert zu behandeln.

    Die Förderungspflicht wird bisher besonders im Arbeitsrecht und im Recht des öD als Grundlage besonderer Hilfestellungen und Bevorzugungen verstanden. Dies liegt darin begründet, dass der Arbeitgeber bei diesen Personengruppen teilweise auf deren Arbeitskraft verzichten muss (Schwangerschaft, Elternzeit) bzw. Maßnahmen ergreifen muss, um die Arbeitskraft nutzen zu können (Barrierefreiheit, bEM). Darum kann ein Arbeitgeber schnell geneigt sein, Frauen oder Menschen mit Behinderungen gar nicht erst einzustellen oder nicht zu befördern. Gleiche Erwägungen kann man für die anderen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG nicht anstellen. Deshalb muss es über das Verbot von Diskriminierungen hinaus keine Förderung geben.

    Über das Unions- oder Völkerrecht diese Wertung zu umgehen, hieße, den individualrechtlich ausgestalteten Diskriminierungsschutz des GG gegen ein gruppenbezogenes Verständnis von Gleichheit einzutauschen. Ich persönlich meine, dass dies zu einem regelrechten Systemwandel führen und deshalb die Verfassungsidentität der BRD tangieren würde. Damit besteht gerade kein Anwendungsvorrang bzw. keine Berücksichtigungspflicht.

    Beste Grüße

  5. Ibrahim Kanalan Mon 1 Mar 2021 at 09:55 - Reply

    Vielen Dank für die Anmerkungen.
    Die Ausführungen in Bezug auf systematische Auslegung, insb. der Verweis auf Art. 3 II GG, überzeugt nicht wirklich.
    Das Verhältnis zw. Art. 3 III und II GG ist keineswegs so klar, wie hier angenommen wird, vgl. nur Heun, in: Dreier, Art. 3 Rn. 100 ff.
    Die erwähnte Systematik lässt sich aus der Norm tatsächlich nicht entnehmen. Verfassungsgeber:in ging bei der Verabschiedung des Art. 3 GG nicht von einem Spezialitätsverhältnis zw. Art. 3 III und II GG aus. Viel weniger sollte Art. 3 II GG Fördermaßnahmen für Frauen legitimieren. Aus der Begründung und Diskussionen zu Art 3 GG (vgl. Parlamentarischer Rat, Band 5, Ausschuss für Grundsatzfragen: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/9783486702347/html) lässt sich weder das behauptete Verhältnis zw. Art. 3 II und III GG entnehmen noch, dass Art. 3 II GG die Grundlage für Fördermaßnahmen darstellen und im Ergebnis das „Bevorzugungsverbot“ in Art. 3 III GG durchbrechen sollte, wie hier vertreten oder angedeutet wird.
    Folglich ging das BVerfG bis in den 70`er Jahre auch im Falle von Art. 3 II GG von einem Differenzierungsverbot aus. Erst später ändert es seine Rechtsprechung schrittweise und stellte in der in dem Beitrag zitierten Entscheidung fest, dass auch Fördermaßnahmen unter Art. 3 II GG fallen. Der Verweis auf Art. 3 II 2 kann auch wenig überzeugen, da dieser nur eine Klarstellung darstellt (vgl. BT Drs. 12/6000). Wie in dem Beitrag angerissen, hatte das BVerfG bereits vor der Einfügung des Art. 3 II 2 GG Fördermaßnahmen aus Art. 3 II GG entnommen (vgl. ausführlich dazu Sacksofsky ( Das Grundrecht auf Gleichberechtigung): Das Grundrecht auf Gleichberechtigung eBook (1996) / 978-3-7890-4318-5 – Jahrgang (1996) – Heft | Nomos eLibrary (nomos-elibrary.de).
    Der Verweis auf Art. 3 III 2 GG überzeugt nur auf den ersten Blick. Erst nach den Entscheidungen des BVerfG wurde davon ausgegangen, dass Art. 3 II GG einer Bevorzugung nicht entgegensteht und mithin Fördermaßnahmen umfasst, mit anderen Worten, den Grundsatz in Art. 3 III 1 GG durchbricht. Aufbauend auf diese Annahme, wurde in Art. 3 III 2 GG nur die Benachteiligung verboten und vermeintlich eine zweite Ausnahme zu Art. 3 III 1 GG vorgenommen. Die Grundlage für dieses Verständnis ergibt sich aber nicht zwingend aus Art. 3 GG. Wie ausgeführt ist die Vorstellung, dass Art. 3 III 1 sowohl die Benachteiligung als auch Bevorzugung verbietet und Art. 3 II GG als Ausnahme die Bevorzugung von Frauen zulässt, kaum die Intention der Verfassung gewesen. Art. 3 II GG und die auf dies aufbauende Regelung des Art. 3 III 2 GG steht im Ergebnis der Interpretation im Beitrag nicht zwingend entgegen.
    Insbesondere nicht, wenn Art. 3 III 1 GG im Lichte des supranationalen und unternationalen Rechts ausgelegt wird. Die zutreffend erwähnte Grenze (Verfassungsidentität) liegt meines Erachtens nicht vor.

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