Weimar und das Paritätsgesetz
Das wiederkehrende Motiv der Perspektivität
Der Verfassungsgerichtshof Thüringen hat sein Urteil gefällt: Das Paritätsgesetz vom 30. Juli 2019 ist nichtig. Damit hat der Verfassungsgerichtshof dem Normenkontrollantrag der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag stattgegeben. Thüringen hatte als zweites Bundesland nach Brandenburg ein Paritätsgesetz eingeführt, legt nun aber das erste verfassungsgerichtliche Urteil im Sachbereich vor − und so umstritten die causa Parité in Rechtslehre und Politik ist, so ambivalent ist auch ihr verfassungsgerichtliches Debut: Die Mehrheitsentscheidung erging mit sechs zu drei Stimmen in Begleitung zweier umfangreicher Sondervoten.
Der Gerichtshof erkennt einen Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 46 I ThürVerf) und die Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 9 S. 2 ThürVerf, Art. 21 I GG) durch das Paritätsgesetz − insoweit sind sich die Richter*innen einig (lediglich nuancierte Abweichung im Sondervotum der Richterin Heßelmann) und insoweit enthält das Urteil auch wenig Neues, sondern rekapituliert nur die gängigen Argumente des juristischen Diskurses. Substanz verleihen ihm die Ausführungen zur Eingriffsrechtfertigung. Hier spiegelt sich auch der Dissens der Rechtslehre wider. Die Mehrheitsentscheidung misst den betroffenen Verfassungsgütern „herausragende Bedeutung für den demokratischen Prozess“ bei, sodass deren Beeinträchtigung weder durch das Demokratieprinzip (Art. 45 S. 1 ThürVerf, Art. 20 I, II GG) noch das Thüringer Gleichstellungsgebot (Art. 2 II 2 ThürVerf) gerechtfertigt sei. Repräsentative Demokratie, auf der einen Seite, bedeute die Integration politischer Kräfte mithilfe unitär-allgemeiner Abgeordnetenarbeit. Das Gleichberechtigungsgebot, auf der anderen Seite, könne die Verletzung der betroffenen Verfassungsgüter nicht rechtfertigen. Und das obwohl Art. 2 II 2 ThürVerf den Art. 3 II 2 GG inhaltlich sogar überschieße. Vor allem habe aber der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss, der mit der Ausarbeitung der Verfassung des Freistaates befasst war, von einer Quotenregelung Abstand nehmen wollen.
Die Richter legen damit ein unitär-abstraktes beziehungsweise prozessual-interessenpluralistisches Verständnis repräsentativer Demokratie zum einen und ein formelles Gleichheitsverständnis zum anderen zugrunde. Letzteres betont auch das Sondervotum seitens Licht/Petermann. Der Mehrheitsentscheidung bedeutet Volkssouveränität die Wahl von Abgeordneten, die das Volk dann in seiner Gesamtheit repräsentieren und die „politischen Kräfte“ integrieren. Das ist eine interessenbezogene Deutung von gesellschaftlichem Pluralismus, die in der deutschen Verfassungslehre Tradition hat und einen demokratischen Fortschritt gegenüber ideellen Repräsentationstheorien darstellte. Sie ist allerdings ungeeignet, gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen zu begreifen und transmittiert diese dementsprechend in die politische Sphäre. Sie ist historisch begründet, aber, oder gerade deswegen, retrospektiv. Sie ist zudem perspektivisch, was in der verfassungsrechtlichen Debatte dethematisiert bleibt. Alternative Vorschläge teilhabebezogener Repräsentationstheorie existieren und passen sich in die deutsche Verfassungsordnung ein. Art. 38 I 1 GG und seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht, die auch der Landesverfassungsgerichtshof zitiert, bezeichnet Abgeordnete als „Vertreter des ganzen Volkes“, das heißt, sie vertreten in ihrer Gesamtheit für die Gesamtheit mittels politisch-diskursiver Entscheidungsprozesse. Wenn dabei nur politische Kräfte, sprich: Interessen, in Bezug genommen werden, gerät materielle Teilhabegerechtigkeit aus dem Blick. Denn die Chancen, politische Gestaltungsmacht auszuüben, sind in Deutschland ungleich verteilt − insofern stellt sich Parité auch als Machtfrage.
Und damit als Frage materieller Gleichberechtigung. Licht/Petermann zeigen sehr deutlich die Dominanzstrukturen auf, die Frauen die politische Teilhabe erschweren. Sie weisen in diesem Zuge darauf hin, wie die Mehrheitsentscheidung durch ihre verkürzte Auslegung des Art. 2 II 2 ThürVerf den hier verbürgten Gesetzgebungsauftrag zur Herstellung faktischer Gleichberechtigung zu entkräften versucht. Doch die Auslegung der Gleichberechtigung als materielle Gleichheit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Nachtarbeitsentscheidung im Verfassungsrecht manifestiert; sie ist auch für das Land Thüringen anerkannt (S. Jutzi, in: J. Linck/S. Jutzi/J. Hopfe, Die Verfassung des Freistaates Thüringen: Kommentar, Art. 2 Rn. 38 ff.).
Auch die Vorrangstellung, die der Gerichtshof der historischen Auslegung, genauer: der subjektiv-teleologischen Auslegung, beimisst, ist keineswegs zwingend (eine gute Aufarbeitung der Diskussion in der Literatur gibt es hier). Die Genese der Gesetzgebungsmaterialen ist jedenfalls nur ein Kriterium, um den maßgeblichen objektivierten Willen des Gesetzes festzustellen (BVerfGE 11, 126 [Rn. 19 f.]). Zudem ist die Berufung auf die Vorgänge im Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss auch noch mehr als wacklig: In der Ablehnung verschiedener Änderungsanträge im Zuge der Verfassungsgebung will die Mehrheitsmeinung zugleich eine Absage an quotierte Wahllisten erkennen, ohne die damaligen Diskussionen und Vorgänge inhaltlich präzise auszuwerten (so auch das Sondervotum Licht/Petermann). Wenn aber der historische Normzweck angesichts gesellschaftlicher Entwicklung veraltet scheint, kommt der teleologischen Auslegungsmethode besonderes Gewicht zu − das gilt für die Verfassungsinterpretation umso mehr: Damit eine Verfassung ihren Aufgaben dauerhaft gerecht werden kann, muss sie zwar im Kern stabil, aber auch zukunftsoffen sein und die Dynamik gesellschaftlicher und politischer Prozesse aufnehmen und angemessen verarbeiten können (siehe hier). Wie in den Sondervoten ausgeführt (ausführlicher als bei Heßelmann bei Licht/Petermann) ist unsere Gesellschaft eine ungleiche. Die formelle wie materielle Gleichberechtigung von Frauen ist ein andauernder Prozess, dem sich eine zukunftsfähige Verfassung nicht verschließen darf. Gleiches gilt, spätestens seit BVerfGE 147, 1 auch für die Anerkennung von nicht-binären Geschlechtsidentitäten. Diese kommen, wie immer in der Paritédebatte, auch im besprochenen Urteil zu kurz. Indem die Mehrheitsmeinung vor allem subjektiv-historisch auslegt, konserviert sie traditionell-formale Gleichheitsvorstellungen und negiert gesellschaftliche und rechtliche Wandlungsfähigkeit. Einem modernen, europäischen Demokratieverständnis entspricht das nicht (vgl. auch international den Atlas of Electoral Gender Quotas). Wie von Cara Röhner dargelegt, sind die deutschen Verfassungen aber offen für ein materielles Verständnis von Gleichheit, Demokratie und Repräsentation. So kommen auch die beiden Sondervoten zu dem Ergebnis, dass die mit dem Paritätsgesetz verbundenen Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Rechte der Parteien durch Art. 2 II 2 ThürVerf gerechtfertigt sind.
Die Entscheidung wirft auch die Frage nach der Verfassungsautonomie der Länder auf. Die Mehrheitsentscheidung versteht Art. 2 II 2 ThürVerf als Staatszielbestimmung und nimmt sie dementsprechend aus dem Anwendungsbereich des Art. 142 GG heraus (vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 3. Aufl., Art. 142 Rn. 35). Licht/Petermann weisen darauf hin, dass die Mehrheitsmeinung eine notwendige Prüfung des Art. 3 II 2 GG als „Auffanggrundrecht“ versäumt. Die Gemengelage um die Art. 142, 31 und 28 GG ist hochgradig umstritten; jedenfalls kommt man so oder so nicht um einen Abgleich mit dem Grundgesetz herum. Als Staatszielbestimmung müsste Art. 2 II 2 ThürVerf zwar nicht an Art. 3 II GG, aber an Art. 28 I GG gemessen werden.
Die Zukunft von Parité ist daher, auch wenn das Thüringer Gesetz nun erst einmal gekippt ist, unentschieden. Das gilt umso mehr im Bund. Der Weg zum Bundesverfassungsgericht gegen die Entscheidung aus Weimar steht grundsätzlich offen. Ähnlich gelagerte Fälle hat es − mit unterschiedlichem Ausgang − schon gegeben (BVerfGE 96, 231; BVerfGE 82, 286). Ob Karlsruhe eine potentielle Verfassungsbeschwerde annimmt, dürfte davon abhängen, ob das Gericht das Thema grundrechtlich oder staatsorganisationsrechtlich auffasst. Unabhängig davon wird es sich bald zum Thema Parité äußern, liegen dort doch auch eine entsprechende Verfassungsbeschwerde aus Bayern und eine Wahlprüfungsbeschwerde bezüglich der letzten Bundestagswahl vor. Auch in Brandenburg wird ein Urteil absehbar, der Termin für die mündliche Verhandlung ist für den 20. August anberaumt. Das Thüringer Paritégesetz galt gegenüber der Regelung aus Brandenburg zumindest in Bezug auf im Personenstand als „divers“ registrierte Personen als Verbesserung. Das Brandenburgische Landeswahlgesetz verweist diese auf die Wahl zwischen der Männer- und der Frauenliste − die Klage der Piratenpartei in Brandenburg kritisiert dies mit Verweis auf die Bundesverfassungsrechtsprechung. Der Erste Senat hat klargestellt, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I, 1 I GG) und das besondere Diskriminierungsverbot des Art. 3 III 1 GG die Geschlechtsidentität schützen, insbesondere auch vor Falschzuordnungen. Die Teilhabe von Personen, die sich nicht in der Binarität Frau/Mann wiederfinden, ist ein wichtiger, stark vernachlässigter Aspekt der Paritédebatte. Er verweist in Richtung eines intersektionaleren Verständnisses von Parité, das sich von der Fokussierung auf die Ungleichheitsdimension Frau/Mann lösen kann und Volkssouveränität, demokratische Teilhabe und Repräsentation umfassend hierarchiesensibel betrachtet. Dass Ungleichheitsverhältnisse − nicht nur, aber auch in der Politik − auch abseits von Vergeschlechtlichung ein hochrelevantes Thema sind, unterstreicht die längst überfällige und jüngst wieder aufgeflammte Debatte über Rassismus in Deutschland. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verteilung von Macht stellt sich nicht nur im Geschlechterverhältnis. Dominierte Perspektiven mit ins Parlament zu holen, sie zu befragen, zuzuhören, an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft teilhaben zu lassen, beherbergt das Potential sozialer Transformation und weist den Weg zu materieller Gleichheit.