Welche Regeln, welches Recht?
Glawischnig-Piesczek und die Gefahren nationaler Jurisdiktionskonflikte im Internet
Es geht rund in Luxemburg! Kaum hatten sich die Gemüter um die Urteile in den Rechtssachen Google LLC. v CNIL (C-507/17) und GC and Others (Déréférencement de données sensibles) v CNIL (C-136/17) etwas beruhigt, goss der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Glawischnig-Piesczek v Facebook Ireland Limited (C-18/18) (engl./deutsch) vergangenen Donnerstag erneut Öl ins Feuer um die Diskussion zur normativen Gestaltung der Governance von Meinungsäußerungen im Internet.
Der EuGH macht in seinem Urteil deutlich, dass er im globalen Streit um die Moderation von Inhalten im Netz mitmischen wird. Das ist nicht zwingend eine gute Nachricht, denn das Urteil zeigt deutlich, dass das supranationale Gericht durchaus bad law setzen kann. Zumindest hier scheint der EuGH von der Komplexität der Folgen (und des Narrativs) seines Urteils („Globale Zensur“) überfordert. Im Endeffekt hat der Gerichtshof nur bestätigt, was er musste – nämlich, dass EU-Recht nationalen Gerichten nicht verbietet, ihren Urteilen extraterritoriale Wirkung zu verschaffen, soweit internationales Recht nicht entgegensteht, was aber die jeweiligen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen haben. Die Signalwirkung ist dennoch fatal, besonders weil sie der durchaus sinnvollen Selbstbeschränkung der Umsetzung des Rechts auf Vergessenwerden ein Fragezeichen anhängt. Der Fall führt damit ein weiteres Mal vor Augen, was fehlt: eine kohärente Theorie der Jurisdiktion und ihrer Grenzen im Cyberspace.
Alles Erdreich ist Österreich(s Jurisdiktion) untertan?
Wir erinnern uns: Die ehemalige Vorsitzende der österreichischen Grünen, Eva Glawischnig-Piesczek, war in einem öffentlichen Post auf Facebook unter anderem als „miese Volksverräterin“, „korrupter Trampel“ und Mitglied einer „Faschistenpartei“ beschimpft worden, nachdem sie aus der Politik zu einem Glücksspielkonzern gewechselt war. Das Handelsgericht Wien forderte Facebook im Rahmen einer einstweiligen Verfügung auf, es zu unterlassen ihre Lichtbilder zu veröffentlichen oder zu verbreiten, wenn im Begleittext die wörtlichen und/oder sinngleichen Behauptungen wie in den betreffenden Kommentaren verbreitet werden. Der Oberste Gerichtshof (OGH) sah die Auslegung von Europarecht – insbesondere von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 – als maßgeblich für seine Entscheidung an und legte dem EuGH drei Fragen zur Vorabendscheidung nach Art. 267 AEUV vor.
Der EuGH entschied nun am 3.10.2019, dass die Auslegung der Richtlinie 2000/31 Gerichten eines Mitgliedstaates nicht verbietet, Hosting-Anbietern weltweite Löschpflichten für wortgleiche und abgestuft auch für sinngleiche Inhalte aufzuerlegen (Rz. 53). Das bedeutet: Österreichisches Recht kann globale Geltung erlangen. Die Anordnung gilt laut dem EuGH auch für andere Nutzer*innen, wenn sie rechtswidrige Inhalte wortgleich weiterverbreiten (Rz. 37). Der EuGH urteilte auch, dass im Grundsatz nichts die österreichische Justiz daran hindere, ihre Verfügung auf sinngleiche Äußerungen auszuweiten (Rz. 41).
Wirklich überraschen dürfte das Urteil jedenfalls diejenigen nicht, die das Verfahren von Anfang an verfolgten. Denn bereits im Juni 2019 ließen die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar erahnen, in welche Richtung der EuGH sich in diesem Vorabentscheidungsverfahren bewegen würde. Was trotz dieser Ankündigung überrascht, ist die Oberflächlichkeit der Begründung, die apodiktischen Aussagen, die der EuGH trifft und sein offensichtlicher Unwille, die großen Fragen zur Verantwortungsteilung zwischen öffentlichen und privaten Content Governance Pflichten aufzugreifen, die ihm zugespielt wurden.
Bei der Begründung lässt der EuGH Interessen wie Daten- und Persönlichkeitsrechtsschutz der Nutzer*innen vollständig außer Acht (Rz. 44 – 46), obwohl er in Google LLC. v CNIL noch darauf einging, in welchen Dimensionen deren Rechte beeinträchtigt sein können (Rz. 60 und 63 (C-507/17)). Auch in GC and Others (Déréférencement de données sensibles) v CNIL betonte er, die Rechte aller Betroffenen abzuwägen (Rz. 76 ff. (C-136/17)).
Wo bleiben die Rechte der Nutzer*innen?
In C-18/18 berücksichtigt der EuGH außerdem nicht, dass das Verständnis von Ehrverletzung durch Äußerungen in den Rechtsordnungen und Traditionen der Mitgliedstaaten stark variiert und die gerichtlichen Anordnungen entsprechend uneinheitliche Maßstäbe zu Grunde legen. Erstaunlich ist dies insbesondere deshalb, weil der EuGH noch vor zwei Wochen in Google LLC. v CNIL feststellte, dass „zahlreiche Drittstaaten kein Recht auf Auslistung kennen oder bei diesem Recht einen anderen Ansatz verfolgen“ (Rz. 59 ff. (C-507/17)) und, „dass das Ergebnis der Abwägung […] nicht unbedingt für alle Mitgliedstaaten gleich ist (…)“ (Rz. 67 (C-507/17)).
Das Urteil ist auch insofern widersprüchlich, als der EuGH selbst keine klaren Leitlinien dazu festlegt, unter welchen Umständen Filter oder globale Löschungen von Äußerungen von nationalen Gerichten angeordnet werden können. Deutlich wird auch, dass die Richter*innen am EuGH offenbar davon ausgehen, dass automatisierte Systeme und Filter darauf trainiert werden können, Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu erkennen. Einerseits erteilt der EuGH dem Providerprivileg eine partielle Absage und legt den Plattformen umfangreiche Pflichten auf, auch „sinngleiche Äußerungen“ aufzuspüren und zu löschen. Er begründet dies damit, dass es sich nicht um eine „allgemeine Verpflichtung [….] zu überwachen“ handle (die Plattformen nicht auferlegt werden dürften), sondern vielmehr um „spezifische Fälle“ (Rz. 34). Andererseits stellt er fest, dem Plattformbetreiber würde trotzdem keine übermäßige Verpflichtung zugemutet, da „Unterschiede in der Formulierung [des] sinngleichen Inhalts im Vergleich zu dem für rechtswidrig erklärten Inhalt […] jedenfalls nicht so geartet sein [dürfen], dass sie den Hosting-Anbieter zwingen, eine autonome Beurteilung dieses Inhalts vorzunehmen“ (Rz. 45), weshalb dieser daher dann auch „auf automatisierte Techniken und Mittel zur Nachforschung zurückgreifen kann“ (Rz. 46).
Technisch mittellos
So klar hat das der EuGH nicht gefasst: „[L]eicht unterschiedlich formuliert […] aber im Wesentlichen die gleiche Aussage vermittel[nde]“ Äußerungen dürfen verboten werden; die Formulierung darf aber nicht so unterschiedlich sein, dass „automatisierte Techniken und Mittel“ diese nicht erkennen können. Wir vermuten, hier überschätzt der EuGH die Fähigkeiten automatisierter semantischer Filter. Welche Mittel sich der EuGH vorstellt oder welche Mindeststandards sie erfüllen müssen führt er auch nicht aus. Dass es unterschiedlichste technische Möglichkeiten gibt (hier, S. 19-23), scheint dem EuGH nicht zu konkret bewusst gewesen zu sein. Spätestens an dieser Stelle des Urteils gewinnt man den Eindruck, dass der EuGH es zumindest in diesem Fall bevorzugt, die Augen vor den komplexen technischen Problemen und den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsprechungstraditionen zu verschließen.
Indem der EuGH festlegt, dass auch „sinngleiche Äußerungen“ aufgespürt und gelöscht werden sollen, jedoch gleichzeitig keine weiteren Kriterien für die notwendigen Abwägung festgelegt, hat er einen Blankettatbestand geschaffen. Dessen Ausgestaltung bleibt den Mitgliedsstaaten und letztlich den Plattformen und ihren automatisierten Entscheidungssystem bzw. der menschlichen Moderation vorbehalten. Ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen, wie er noch in Google LLC. v CNIL gefordert hatte (Rz. 60 (507/17)), hielt der EuGH im vorliegenden Fall scheinbar für verzichtbar.
Die (nationalen) Gerichte werden’s schon richten
Frei von nötigen Komplizierungen ist auch das Vertrauen des EuGH auf nationale Gerichte. Besonders mäßig internet(rechts)affine erstinstanzliche Gerichte (man denke nur an die Fälle Künast und Maurer) schießen gerne mal daneben und fördern dabei das Narrativ, dass im Internet 1. alle sagen können, was sie wollen und/oder 2. kein Recht gilt (was natürlich nicht stimmt). Die überdurchschnittlich hohe Verurteilungsquote Österreichs bei Meinungsäußerungsfällen vor dem EGMR zeigt auch, dass die Rechtsprechungslinien zumal österreichischer Gerichte im Bereich Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit nicht (immer) mit dem europäischen Menschenrechtsschutz übereinstimmen. Von 2000 bis 2010 wurde nur die Türkei öfter wegen Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit verurteilt; im Zeitraum seit 1959 liegt Österreich an 4. Stelle unter den Europaratsmitgliedern mit einer (bevölkerungsbereinigt) 40 mal so hohen Verurteilungsrate im Bereich Meinungs(äußerungs)schutz wie Deutschland (Gahleitner, juridikum 2019/1). Man denke nur an zentrale Fälle wie Lingens, Oberschlick I und Oberschlick II.
Das Problem ignoriert
Der EuGH hört leider dort auf, wo es interessant wird. Ohne sich detailliert mit der Problematik der Jurisdiktion auseinanderzusetzen weist er lediglich darauf hin, dass die Richtlinie keine räumliche Begrenzung für Maßnahmen vorsieht und begnügt sich mit apodiktischen Äußerungen zur Extraterritorialität (Rz. 48-52). Wohl wissend (hofft man), dass diese Regeln weit davon entfernt sind, eine taugliche Bewertungsgrundlage und fachrichter*innenliche Anleitung darzustellen. Hier hätte man weiterdenken sollen, wie etwa die Analysen von Dan Svantesson und Geert Van Calster zu den Schlussanträgen von Generalanwalts Szpunar zeigen.
Fassen wir zusammen: Dort, wo der EuGH richtig liegt – nämlich, dass europäisches Recht nationalen Gerichten nicht verbietet, extraterritorial wirkende Lösch- und Filteraufträge anzuordnen – bleibt das Urteil unterkomplex; dort, wo es komplexer wurde, nämlich in den Bereichen der Semantik (sinngleich/identisch) und des technischen Zusammenspiels automatisierter und menschlicher Moderation bei Plattformen, urteilte der EuGH bemerkenswert unbelastet von Maß und Problembewusstsein. So gibt sich der EuGH zufrieden mit Verweisen auf den nötigen „Einklang“ mit „internationalen Regeln“ (Rz. 51) und der Vornahme von Löschaufträgen „im Rahmen des einschlägigen internationalen Rechts“. Welche Regeln, welches Recht?
Genau hier liegt das Problem: Wir benötigen dringend eine kohärente Theorie der Jurisdiktion im Internet und eines entsprechenden Kollisionsrechts. Vorarbeiten dazu bestehen schon und deren Berücksichtigung hätte in einem Fall wie dem vorliegenden durchaus zu einem besseren Ergebnis geführt. Die existierenden Ansätze beinhalten Forderungen nach einem klaren Rechtsrahmen, Verhältnismäßigkeit und Abwägung von Rechten, gegenseitige richterliche Rücksichtnahme, Verfahrensgarantien und vor allem die Berücksichtigung des Zusammenspiels von menschlichen und automatisierten Filterfunktionalitäten. All dies lässt das Urteil vermissen.
Es wäre zu wünschen, dass sich Luxemburg in Zukunft – und diese Fälle werden kommen – informierter und weitsichtiger mit den Herausforderungen multiakteurieller Meinungsäußerungs-Governance befasst. Außerdem sollte auch der europäische Gesetzgeber auf regulatorischer Ebene aktiv werden. Dazu gehört, dass nicht erst Leaks die notwendigen Diskussionbefeuern dürfen. Angesichts der Bedeutung der Thematik muss gerade die EU mit offenem Visier das normative Feld beschreiten.