Welche Schulaufsicht durch den Staat? Ein Beitrag aus Straßburg zur Staatshaftung durch Unterlassen
Ein Staat, der dem systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern tatenlos zusieht, verletzt das Recht der Kinder, vor unmenschlicher Behandlung bewahrt zu werden – auch wenn ihr konkretes Einzelschicksal dem Staat zunächst gar nicht bekannt war. Dies hat heute der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der lang erwarteten Rechtssache O’Keeffe ./. Irland entschieden. Die Große Kammer verurteilte Irland mit elf gegen sechs Stimmen, der Klägerin insgesamt 115.000 Euro Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen.
Die Fakten, eine wohl leider allzu häufige Realität im Irland der 1970er Jahre, sind schnell erzählt: Die Beschwerdeführerin, Louise O’Keeffe, war in den frühen 70er Jahren durch einen Lehrer ihrer katholischen Grundschule sexuell missbraucht worden. Sie litt über Jahrzehnte an psychischen Problemen, die sie aber nicht mit dem Missbrauch in Verbindung brachte. Erst nachdem andere Opfer in den 90er Jahren den Lehrer verklagten und darüber prominent in der Presse berichtet wurde, stellte die Beschwerdeführerin eine Verbindung zwischen ihrer Krankheit und dem erlittenen Missbrauch her. Neben dem Lehrer verklagte die Beschwerdeführerin auch das irische Bildungsministerium, die irische Generalstaatsanwaltschaft und die Republik Irland und verlangte Schadensersatz, da der Staat sie nicht hinreichend vor der Vergewaltigung geschützt habe.
Der Staat finanzierte in Irland damals zwar das Grundschulwesen, die Grundschulen selbst betrieb aber fast ausschließlich die katholische Kirche, nicht der Staat. Deshalb blieben Frau O’Keefes Versuche, vor der irischen Justiz den Staat zu verklagen, erfolglos: Nicht dieser, sondern die Kirche sei verantwortlich für die Grundschulen, so der Supreme Court 2009. Der Staat könne nicht für etwas haftbar gemacht werden, wovon er gar nichts wisse.
Der EGMR sieht dies anders: Das Verbot der unmenschlichen Behandlung aus Artikel 3 der Konvention enthalte auch eine staatliche Pflicht, vor allem besonders schutzbedürftige Gruppen wie Kinder oder Minderheiten vor den Übergriffen Privater zu schützen. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern gesicherte Rechtsprechung des EGMR (Rz. 144).
Allerdings wies der Fall eine Besonderheit auf: die Parteien waren sich einig, dass der Staat jedenfalls vor 1995 von dem konkreten Missbrauchsfall der Klägerin gar nichts wusste. Und somit drehte sich die Hauptfrage um eine abstrakte Tatsachenfrage: Konnten die irischen Schulaufsichtsbehörden 1973 wissen, oder hätten sie jedenfalls wissen müssen, dass Grundschüler_innen dem Risiko sexuellen Missbrauchs an kirchlichen Grundschulen ausgesetzt waren, so dass sie eine entsprechende Aufsicht hätten einrichten müssen (Rz. 152, 168)?
Die Große Kammer bejahte beide Teilfragen und entschied, dass aufgrund einer nicht unerheblichen Zahl von Strafverfahren bereits in den frühen 1970er Jahren der irische Staat hätte wissen müssen, dass ein Risiko sexuellen Missbrauchs grundsätzlich bestand. Auf dieser Grundlage befand das Gericht die Schulaufsicht als unzureichend (Rz. 168, 169).
Es ist diese Tatsachenebene, die eine Reihe von Richterinnen und Richtern in einem gemeinsamen abweichenden Votum kritisierten. Der EGMR hatte sich hier vor allem auf eine Reihe von Berichten und Zahlen gestützt. Dagegen wird in dem abweichenden Votum argumentiert, die Faktenlage der frühen 1970er Jahre sei keineswegs so eindeutig gewesen, wie sie sich aus heutiger Sicht darstelle.
Irland hatte vorgetragen, die Klage sei schon gar nicht zulässig: Frau O’Keefe hatte ihre Klage gegen den Staat nur insoweit bis zur letzten Instanz getrieben, als es um dessen Haftung für die Verbrechen des Lehrers ging. Den Klagegrund, der Staat habe seine Aufsichtspflichten über die katholischen Grundschulen versäumt, hatte sie fallen gelassen, nachdem sie in der ersten Instanz an Beweisproblemen gescheitert war. Daher, so Irland, habe sie den Rechtsweg nicht ausgeschöpft.
Auch das lehnte die Große Kammer ab: wenn verschiedene Rechtsmittel mit dem gleichen Ziel (in diesem Fall: Schadensersatz vom Staat) zur Verfügung stehen, steht des dem Einzelnen frei, sich für ein Rechtsmittel zu entscheiden. Die Beschwerdeführerin war nicht verpflichtet, sich in ihrer Klage vor dem EGMR auf die gleiche rechtliche Argumentation zu stützen wie vor den nationalen Gerichten (Rz. 110).
Dass die irische Justiz die Frage, ob der Staat insoweit für sein Unterlassen haftet, nicht letztinstanzlich prüfen konnte, ist freilich der Grund dafür, dass die Große Kammer sich intern über Tatsachenfragen streiten musste: Die nationalen Gerichte hatten sich überhaupt nicht substantiell mit der Faktenlage der frühen 1970er Jahre auseinandergesetzt, weil Frau O’Keefe diese Anspruchsgrundlage nicht weiterverfolgt hatte. So sehr die heutige Entscheidung im Ergebnis uneingeschränkt zu begrüßen ist, so sehr wirft sie doch die Frage auf, inwieweit der EGMR ein geeignetes Forum ist, um Tatsachenfeststellung zu betreiben.
Dieser Blogpost ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.
Selbstverständlich hat der EGMR nicht Tatsachenaufklärung zu betreiben. Er kann aber feststellen, dass durch mitgliedstaatliche Gerichte unterlassene Tatsachenaufklärung gegen die Konvention verstößt.
Ob ein Gericht selbst Tatsachen feststellen muss oder die Tatsachenfeststellung des Ausgangsgerichts zu überprüfen hat, hängt vom Streitgegenstand ab. Was war der Streitgegenstand des EGMR?
@Rensen: Mitgliedstaatliches Verhalten. Wie immer beim EGMR.
@Aufmerksamer Leser: Sie müssen sich schon ein wenig mehr Mühe mit der Bestimmung des Streitgegenstandes geben, wenn Sie begründen wollen, dass der EGMR nicht selbst Tatsachen feststellen darf. Den Hintergrund habe ich bereits erwähnt. Es ist ja nicht so, dass ich Ihnen nicht zustimme. Man sollte nur die eigene Ansicht einer eingehenden Überprüfung unterziehen und sich nicht auf Thesen beschränken. Ich wiederhole deshalb: Gibt es eine Streitgegenstandslehre für die Verfahren vor dem EGMR? Wie sieht die aus und welche Konsequenzen hat sie für den vorliegenden Fall?
Gegenstand der Individualbeschwerde sind Handlungen, die den Mitgliedstaaten zugerechnet werden können. Hierzu muss der EGMR überzeugt werden, dass die nämliche Handlung geschehen ist (normalerweise kein Problem: die Handlung ist ein Urteil eines mitgliedstaatlichen Gerichts). Man überzeugt den Gerichtshof durch Vorlage von Dokumenten.
Unsichere Tatsachen sind dadurch nur mittelbar “Thema”. ZB Verschwinden von Personen, die zuletzt von der türkischen Polizei abgeholt wurden. Der Gerichtshof klärt dann nicht auf, was aus den Personen geworden ist, sondern der Konventionsverstoß liegt darin, dass der Mitgliedstaat nicht sagen kann, was aus seinen U-Häftlingen geworden ist.
@Aufmerksamer Leser: Wenn Sie ausführen, Gegenstand des Verfahrens sei allgemein eine dem Mitgliedstaat zurechenbare Handlung, eröffnen Sie dem EGMR die Möglichkeit einer eigenen Tatsachenaufklärung. Beschränken Sie den Gegenstand hingegen auf ein dem Mitgliedstaat zurechenbares Urteil, ist nur das entsprechende Verfahren aufzulären und ferner die Tatsachenaufklärung des nationalen Gerichts zu prüfen. Ich weiß zwar, dass der nationale Rechtsweg inkl. Vb vor einer EMRK-Beschwerde zu erschöpfen ist (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Auch mag eine Beschränkung des EGMR auf eine Überprüfung von Urteilen und den diesen zugrunde liegenden Aufklärungsmaßnahmen wünschenswert sein. Jedoch kann ich eine solche Eingrenzung des Streitgegenstandes den maßgebenden Regeln nicht entnehmen. Das mag bei Beschwerden gegen Urteile in Zivilsachen nicht von Bedeutung sein, weil deren Hintergrund in privaten Handlungen liegt. Anderes gilt aber, wenn Urteile Gegenstand sind, die staatliches Handeln betreffen, wie z.B. in den Fällen staatlicher Haftung. Hier kann man den Streitgegenstand des EGMR-Verfahrens auf das dem nationalen Verfahren zugrundeliegende staatliche Handeln oder Unterlassen erstrecken. Der Streitgegenstand umfasste dann nicht nur die Urteile, sondern auch deren Streitgegenstand, und der EGMR könnte seine Tatsachenaufklärung an die Stelle derjenigen des nationalen Gerichts setzen. Zwar gilt das nur in den besonderen Fällen eines staatlichen Verhaltens als Grundlage sowohl der nationalen Urteile im Rechtsweg als auch des EGMR-Verfahrens. Jedoch könnte das gerade hier relevant sein.
@Rensen: Es sind tatsächlich alle zurechenbaren Handlungen (sogar bspw. Streitkräfteeinsätze im Ausland bei effektiver Kontrolle).
Sie haben im vorliegenden Fall aber ein schönes Beispiel dafür, das rechtliche Maßstäbe mit Tatsachenaufklärung verwechselt werden: Dass die Schulaufsicht nicht existierte, ist eine Tatsache (die aber nicht umstritten war und deswegen nicht näher aufzuklären war). Welche Anforderungen die EMRK in den 70er Jahren für staatliche Aufsicht enthielt, ist indes eine Rechtsfrage (die umstritten war und im vorliegenden Fall von einigen Beteiligten irrtümlich für eine Tasachenfrage gehalten wird).
Sie werden es aus der zivilgerichtlichen Praxis kennen, dass es immer Leute gibt, die etwa den Umfang von Verkehrssicherungspflichten irrtümlich für eine Tatsachenfrage halten.
@Aufmerksamer Leser: Dann sind wir uns einig, dass der EGMR u.U. sehr wohl zur Tatsachenaufklärung veranlasst sein kann, wenn nämlich der Streitgegenstand dies zulässt und erfordert.
Ich stimme Ihnen auch zu, dass es hier nicht darum ging, sondern darum, ob die damals unstreitig vorliegenden Tatsachen die Republik Irland schon hätten veranlassen müssen, eine Schulaufsicht einzurichten. Einige Richter werfen den anderen in diesem Zusammenhang weder eine fehlerhafte Tatsachenaufklärung, noch eine Verkennung der rechtlichen Maßstäbe der EMRK vor, sondern eine unvollständige Berücksichtigung der bekannten und zu beachtenden Tatsachen.
@Rensen: Wir sind uns einig. Aber mir fehlt im Augenblick die Phantasie, wie Umstände aussehen könnten, unter denen man “Tatsachenaufklärung” betreiben müsste, die über das Lesen von Dokumenten hinausgeht? Haben Sie eine konkrete Konstellation im Auge?
@Aufmerksamer Leser: Nein, keine konkrete Konstellation, und ich stimme auch zu, dass eigene Tatsachenaufklärung kaum einmal vorkommen wird. Ich glaube aber, dass das den rein faktischen Grund hat, dass es dem eigenen Aufwand nach einfacher ist, den nationalen Gerichten eine vor dem Hintergrund der EMRK mangelnde Aufklärung vorzuwerfen. Nur ist das argumentativ eben dann schwierig, wenn den nationalen Gerichten weitere Aufklärungsmaßnahmen aufgrund eines für sich betrachtet bedenkenfreien Streitgegenstandsbegriffs des nationalen Rechts und der Disposition des Bf. verwehrt waren. Und da kommen wir dann auch wieder bei der Rechtswegerschöpfung an. Sollte der EGMR da nicht doch vorsichtiger sein?
@Rensen: Ja, sehe ich auch so. Hatte Irland ja wohl auch sinngemäß versucht so vorzutragen. Aber die NGO-Fraktion im EGMR tickt nun einmal nicht so juristisch.
@Aufmerksamer Leser: Altes Richtermotto: Alles dürfen, nix müssen. Hält die Prüfung knapp und erleichtert das Leben ungemein.
@Rensen: makes easy jobs easy and hard jobs possible
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“Natürlich ist der Schutz der Bürger erste Staatspflicht.”
Als zu schützende Personen / Subjekte eines europäischen Staates oder als Ansässige oder Gäste und Besucher ( oder auch ‘Gefangene’ / ‘Insassen’ ) in einem solchen Staat, d.h. als Kinder und Jugendliche in den damaligen ‘Heimen’ und ‘Anstalten’ in einem solchen Staat – ob in Deutschland, ob in Österreich oder ob in der Schweiz; oder ob in England und Wales, ob in Irland oder ob in Schottland – und, als solche Personen / Subjekte in unserer rechtmäßigen Einforderung des Schutzes des Staates, stützen wir uns einzig und allein vollumfänglich IM EINZELNEN UND IN IHRER GESAMTHEIT AUF DIE ARTIKEL DER EUROPÄISCHEN MENSCHENRECHTSKONVENTION ( ratifiziert in Deutschland in 1952 und ratifiziert in Österreich in 1958 ). Nichts anderes, und nichts weniger.
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Nebenbei mache ich Martin MITCHELL – nicht ein irisches Grundschulopfer, sondern ein westdeutsches Heimopfer der 1960er Jahre (Jg.1946) – dann einfach auch mal diesen gesamten Thread in meinem Forum EHEMALIGE-HEIMKINDER-TATSACHEN.COM aufmerksam
»EuGMR – Hoffnung auf betroffenenfreundlichere Rechtsprechung«
@ http://www.ehemalige-heimkinder-tatsachen.com/viewtopic.php?f=22&t=73
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With compliments from a mature-age law student in Adelaide, South Australia.
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an important 129-page Judgement
PARALLEL DECISION
to Louise O’Keeffe v Ireland ECHR 027 (2014) decided 28.01.2014 in Strasbourg
decided in the United Kingdom
Approved Judgement (of 28.02.2014) @
http://www.judiciary.gov.uk/Resources/JCO/Documents/Judgments/dsd-and-nbv-v-met-police.pdf
IN THE HIGH COURT OF JUSTICE –
QUEEN’S BENCH DIVISION
Neutral Citation Number: [2014] EWHC 436 (QB) –
Case No: HQ10X03508 & HQ12X00388
Royal Courts of Justice Strand, London, WC2A 2LL
Date: 28/02/2014
before MR. JUSTICE GREEN
1) DSD; 2) NBV Claimants – and – The Commissioner of Police for the Metropolis Defendant
known as: – DSD & NBV v Commissioner of Police for Metropolis
[ LAW: Human Rights Act (UK) equivalent to the European Convention on Human Rights (applicable in the entire European Union) ]
C. THE LAW
commencing at p. 70, paragraph 138 of the judgement
and then at pp. 102, 103, paragraph 229 of the judgement
(i) Strasbourg case law is consistent and settled
229. First, the authorities from the Strasbourg Court set out in extenso above demonstrate that the duty on the State to investigate under Article 3 the conduct of private parties which amount to torture or degrading or inhuman treatment is established in a long line of consistent case law stretching back well over a decade. The principle is not a stray or maverick line of thought which having briefly emerged has been (and should be) forgotten. On the contrary, it represents clear, consistent and established principle which has evolved and solidified over many years and which has received approval from a very large cohort of Strasbourg Judges, including qua President, Sir Nicholas Bratza. I would be disregarding my duty under Section 2 Human Rights Act to “take account” of this case law if I was to attach no weight to it.
and then at p. 103, paragraph 230 of the judgement
230. Secondly, the above conclusion is not heretical to the common law. The duty on the police to investigate effectively is a bare minimum safeguard in any civilised State. In the course of argument I asked Mr Johnson QC [counsel for the defendant in this case] whether he accepted, on behalf of the Commissioner, that there was in domestic law a duty to investigate. He accepted that there was and, most helpfully, provided me with authority to support the proposition. He cited by way of authority a number of sources for this wholly unsurprising proposition.
[and the Mr. Justice Green refers to a number of well known domestic (UK) cases establishing that proposition, that had in fact been furnished to the court by counsel for the defendant, ie. The Commissioner of Police for the Metropolis]
…and then study carefully the remainder of the judgment, especially pp. 102-108
This entire judgement concludes at p. 129 (original pagination, as well as digital pagination).
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Louise O’Keeffe gegen Ireland EuGMR 027 (2014), entschieden am 28.01.2014.
DAS EIGENTLICHE URTEIL (28.01.2014) @ http://s.conjur.com.br/dl/europa-irlanda-abuso-escola.pdf (von den Richtern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte selbst verfasst und gesprochen – ingesamt 82 Seiten in Englisch)
Alles andere im Internet – sonstige Hinweise/Links zu diesem Fall – sind nur kurze Zusammenfassungen des Falls.
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Louise O’Keeffe versus Ireland ECHR 027 (2014), decided on am 28.01.2014.
THE ACTUAL JUDGEMENT (28.01.2014) @ http://s.conjur.com.br/dl/europa-irlanda-abuso-escola.pdf (writen and spoken by the judges of the the Europaen Cort of Human Rights themselves – 82 pages in toto in English)
Everything else on the internet – all other references/links to the case – are only short summaries of the case.
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Eines der wichtigsten EuGMR-Urteile überhaupt – EuGMR 027 (2014)
Eines der wichtigsten EuGMR-Urteile überhaupt ! — jetzt in Deutsch !
EuGMR – Hoffnung auf betroffenenfreundlichere Rechtsprechung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Louise O’Keeffe gegen Irland EuGMR 027 (2014), entschieden am 28.01.2014. — Das Urteil in Deutsch.
Das Urteil in Deutsch ist jetzt hier zu finden @ http://www.ehemalige-heimkinder-tatsachen.com/viewtopic.php?p=867#p867 ( sehr langer Beitrag, der einschließlich dem im Hintergrund laufenden HTML-Quelltext insgesamt 32558 Zeichen umfaßt, einschließlich Leerzeichen ).
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Louise O’Keeffe gegen Irland EuGMR 027 (2014), entschieden am 28.01.2014.
Übersetzung des Urteils vom Englischen ins Deutsche.
Der irische Fall Luise O´Keeffe
vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache O’Keeffe gg. Irland, Urteil vom 28.1.2014, Bsw. 35810/09
Das ORIGINAL in deutscher Sprache (d.h. diese Übersetzung) ist in dieser österreichischen Datenbank zu finden @ http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20140128_AUSL000_000BSW35810_0900000_000/JJT_20140128_AUSL000_000BSW35810_0900000_000.html
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Ergibt sich aus dem EGMR – Urteil 35810/09 nicht auch, dass der deutsche Staat durch die eigene Schulaufsicht, GEWÄHRLEISTEN muss, dass von privaten Ersatzschulen (Schulen in freier Trägerschaft) keine rechtswidrigen* Schulgeldforderungen verlangt werden. (*weil sie z.B. gegen das deutsche Grundgesetz Art. 7 IV 3 (Sonderungsverbot) oder den § 138 BGB (Sittenwidrige Rechtsgeschäfte, Wucher) verstoßen?)
Lt. GG 7 IV 3 ist den Ersatzschulen die staatliche Genehmigung zu erteilen, WENN u.a. “eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.”
Lt. Artikel im Juraforum v. 30.1.2014 zum Urteil 35810/09 * darf der Staat die Schulaufsicht NICHT an Privatpersonen oder private Körperschaften delegieren. Danach ist der Staat für Rechtsverstöße, die durch das Fehlen seiner ausreichenden Schulaufsicht ermöglicht oder gar gefördert werden, zu finanzieller Entschädigung verpflichtet. (Quelle: http://www.juraforum.de/recht-gesetz/egmr-staat-muss-auch-privatschulen-bei-sexuellem-missbrauch-wirksam-kontrollieren-467220).
Der Antwort der Hessischen Landesregierung Drucksache 19/1632 vom 23.2.2015 auf die Große Anfrage der SPD Drs. 19/1126 v. 19.11.2014 ist zu entnehmen, dass die Behörden durch “Rückmeldungen von Eltern” veranlasst werden, die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen zu überprüfen. Ist das nicht zu spät?
Insbesondere und – abgesehen von dieser – `stillschweigenden!´ – “Aufgabenverschiebung” , fehlen ALLEN (Bürgern, Behörden, Schulträgern) nachvollziehbare und transparente Informationen, WANN sich die Eltern veranlasst sehen sollten, entsprechende Rückmeldungen zu geben, UND WIE, d.h. auf welcher Grundlage die Behörden dann entscheiden, ob die von Privatschulen verlangten Schulgeldforderungen verfassungskonform oder rechtswidrig sind.
Die Ansichten der staatlichen Behörden welche DURCHSCHNITTLICHEN Schulgeldforderungen sich mit dem GG Art. 7 (und GG Art. 3 ?) und den Rechtsprechungen (z.B. Urteil BVerfGE 75, 40 v. 8.4.87, BVerfGE 90, 107 v. 9.3.1994 u. a***) vereinbaren lassen, unterscheiden und widersprechen sich zudem.
Eine gerichtliche Überprüfung/Feststellung, wann und wofür – welches Schulgeld höchstens zulässig ist, fehlt.
Obwohl mit Urteil v. 14.2.2008 – 10 K 7404/01 Rn. 47 das FG Köln auch feststellte, dass “…auch andere anerkannte Privatschulen zeigen, dass die Bundesländer das Verbot einer Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen nicht ernst nehmen. …” Zitat-Ende.
Den Urteilen (VGH Ba-Wü. 9 S 233/12 – 11.4.2013; Staatsgerichtshof Baden-Württemberg Az. 130/13 – 06.07.2015, ist nicht zu entnehmen, WIE die Besitzverhältnisse mindestens zu berücksichtigen sind, um nicht gegen das Sonderungsverbot zu verstoßen. Wie kann/wird Baden-Württemberg dann der gerichtlichen Verpflichtung nachkommen, zum 1.8.2017 zu entscheiden, welches Schulgeld höchstens zulässig ist?
Aber, ist diesen und anderen Urteilen*** nicht zumindest zu entnehmen, dass sich die DURCHSCHNITTLICHE Höhe des Schulgeldes durch die Höhe der finanziellen Deckungslücke für den gleichwertigen Pflichtschulbetrieb begrenzt, die nach den staatlichen Finanzhilfen und Zuschüssen und dem Schulträger zuzumutenden Eigenleistungen verbleiben?
D.h. sind Schulgeldforderungen erlaubt, die gar nicht notwendig sind, um die finanziellen Lücken für einen gleichWERTIGEN Pflichtschulbetrieb zu schließen?
Eine finanzielle Besserstellung oder ein besseres und zusätzliches Angebot ist von privaten und staatlichen Schulen doch durch Spenden etc. zu ermöglichen, oder? Welchen Sinn hat es sonst, dass die Steuerzahler den privaten Ersatzschulen immer höhere Finanzhilfen zahlen, die oft schon 85 % oder sogar bis zu 100 % der Schülerkosten staatlicher Schulen entsprechen? (siehe z.B. Hamburgisches Gesetz über Schulen in freier Trägerschaft §§ … 15, 16, …, 21.)
Und dies, obwohl der Gründervater des GG, Dr. Theodor Heuss davor warnte, dass sich der Staat damit von seiner “verdammten Pflicht für das Bildungswesen der Deutschen nach bestem Gewissen zu sorgen, alszusehr entlasten”* würde/könnte. (*Zitat siehe Urteil BVerfGE 75, 40 Rn. 79 – 08.April 1987.)
Mit den letzten Verfahren zur abstrakten Normenkontrolle setzten sich die Politiker hauptsächlich für die Interessen der privaten Schulträger nach höheren staatlichen Finanzhilfen ein. Eine gerichtliche Entscheidung, WIE ein zulässiges Schulgeld zu bestimmen ist oder lautet, wurde weder gefällt noch beantragt! (Siehe Urteile in Thüringen 13/11 – 21.5.14, Sachsen Vf. 25-II-12 v. 15.11.2013; Brandenburg VfGBbg: 31/12 v. 12.12.2014). Lt. Landtag T. gab es in Thüringen bislang „keine Verpflichtung der Schulträger, dem für das Schulwesen zuständigen Ministerium die Höhe der Schulgelder mitzuteilen“. Wie über die Gesetzentwürfe der Landesregierung (1.7.2015 – 6/829 – z.B. § 5 Abs. 15) oder der Parteien entschieden wird, bleibt abzuwarten.
Ich bin kein Jurist, aber nach meiner Rechtsauffassung kommt der Staat seiner Schulaufsicht – lt. GG 7 I – nicht ausreichend nach. Es sollte daher genügend Politiker geben, die sich – z.B. mit dem GG 37 – für eine Beendigung der Missstände und mit transparenten Informationen für mehr Verbraucherschutz einsetzen.
Es ist nicht einzusehen, wenn Bürger von Behörden sogar Informationen einklagen müssten, und diese dann auch noch auf Verfassungskonformität hin überprüfen lassen müssten, weil die politischen Entscheidungsträger und/oder andere Interessen- / Volksvertreter in Landesparlamente u.a. weiterhin schweigen!!
Abgehen von der fehlenden Überprüfung der durchschnittlich erlaubten/verlangten Schulgeldhöhe fehlt es auch an Informationen, von welchen einkommensabhängigen Schulgeldforderungen ein Zugang zur Schule ggf. abhängt. Zurzeit erfährt man die Ermäßigungsregelungen erst, wenn sich die finanziellen Verhältnisse geändert haben und Eltern diese z.B. dem Schulträger oder den Behörden offenbaren, damit diese dann im Einzelfall –willkürlich – entscheiden? Eine Nachvollziehbarkeit und Gelichbehandlung ist so sicher nicht gegeben.
Schließlich haben die Entscheidungen weitreichende Folgen für das deutsche Bildungswesen. Noch besuchen ca. 90 % der Schüler staatliche Schulen. Da überhöhte Schulgeldforderungen bei privaten Ersatzschulen zu entsprechenden Mehreinnahmen und Wettbewerbsvorteilen führen, ist die Mehrheit dadurch benachteiligt. (Auch die Benutzer privater Schulen, deren Besitzverhältnisse durch die Zahlung überhöhter Schulgelder nur wenig berührt werden, darf man nicht deswegen zur Zahlung zwingen, oder? Schließlich könnten sie die überhöhten Schulgeldzahlungen stattdessen als Spende zahlen und so zu 100 % steuerlich absetzen.)
Vielen staatlichen Schulen fehlt es sicher nicht an Ideen für guten Unterricht, sondern am notwendigen Geld, diese umzusetzen und dabei auch den höheren Herausforderungen durch die andere Schülerstruktur (Sozialindex, Schüleranteil mit Förderbedarf durch Inklusion, Kinder mit Migrationshintergrund) zu begegnen. Vielen ist daher ein gleichwertiger Unterricht unmöglich. (Die privaten Ersatzschulen können dagegen ihre Herausforderungen durch das Recht auf “freie Schülerwahl” beeinflussen und verfügen über erhebliche Mehreinnahmen (ohne Spenden). Auch die Unterschiede der Schülerstrukturen werden bei der Berechnung der Finanzhilfen meist nicht berücksichtigt und bedeuten zusätzliche Mehreinnahmen.) .
(***Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschied, dass höchstens ein Schulgeld von 70 Euro verfassungskonform wäre. VGH Baden-Württemberg – 14.07.2010 – AZ: VGH 9 S 2207/09. Nach Rechtsmitteln entschied der VGH Baden-Württemberg mit Urteil 9 S 233/12 – am 11.4.2013, dass ein nach Einkommen gestaffeltes Schulgeld von mtl. 90 Euro – 95 Euro , zur Deckung entsprechender Finanzierungslücken!! nicht gegen das Sonderungsverbot verstoße. (S.a. Urteil BVerwG 6 C 18.10 – Rn. 32 v. 21.12.2011; VGH Ba-Wü 9 S 233/12 Rn. .. 114, 115 …).
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Öffentlichkeit über die jahrelangen sexuellen Missbräuche an Schulen informiert wurde.
Wie lange wird es dauern, bis der Bürger, Steuerzahler …. erfährt, zu welchen einkommensabhängigen und durchschnittlichen Schulgeldforderungen er ggf. verpflichtet ist und ob sich diese Forderungen mit der Rechtsprechung und dem GG vereinbaren lassen?