29 October 2014

Welches Verhalten darf der Staat kriminalisieren? – Eine Antwort auf Tatjana Hörnle und Thomas Fischer

Welches Verhalten darf der Staat kriminalisieren? Mit dieser grundlegenden Frage jeder liberalen und rationalen Kriminalpolitik ringt die moderne Strafrechtswissenschaft seit ihrer Formierungsphase vor rund zweihundert Jahren. Sie bildet auch den Hintergrund der Kontroverse zwischen Tatjana Hörnle und Thomas Fischer. Der Ahnherr der deutschen Strafrechtswissenschaft, der an Kant und Hobbes geschulte Paul Johann Anselm von Feuerbach, beantwortete sie Anfang des 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise wie Hörnle heute: Gegenstand strafrechtlicher Verbote könne nicht jedes grob anstößige, von sittlichen oder religiösen Normen missbilligte Verhalten sein. Vielmehr dürfe das Strafrecht nur solche subjektiven Rechte des Einzelnen schützen, die seine äußere Freiheitssphäre konturieren, sowie die Rechte des Staates, dessen Institutionen die Freiheit der Einzelnen garantieren.

Dieses Modell hat zwei seit langem bekannte Schwächen: Es erklärt einerseits zu wenig und andererseits zu viel. So ist, darauf hat Fischer mit Recht hingewiesen, die Verletzung eines Rechtes einer Person allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für eine Kriminalisierung. Nicht jede Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht ist eine Untreue im Sinne des § 266 StGB so wie nicht jede Verletzung einer familienrechtlichen Pflicht, etwa die eheliche Untreue, Strafe nach sich zieht. Entscheidend ist nicht die Verletzung eines subjektiven Rechts, entscheidend ist, ob mit diesem subjektiven Recht zugleich „das Recht als Recht“ bzw. – in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts – ein „Gemeinschaftsbelang“ oder „Gemeinschaftswert“ verletzt wird. Daher erledigt der Hinweis auf das fehlende Einverständnis gegenüber einem Grabscher oder Tatscher nicht die Einwände gegen eine Kriminalisierung solcher Verhaltensweisen.

Was aber ist ein vom Strafrecht schützenswerter Gemeinschaftsbelang? Die Strafrechtswissenschaft hat darauf bis heute keine auch nur annähernd überzeugende Antwort gefunden. Den Begriff des Rechtsguts, den sie seit rund vier Jahrzehnten als gesetzgebungskritisches Kriterium verwendet, weiß sie nicht zu konturieren, seine Geltung nicht zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht konnte in seiner Inzest-Entscheidung gar nicht anders, als ihn zurückzuweisen. Seinerseits hat sich das Gerichts jedoch bislang keine größere Mühe gemacht, die verwendeten Begriffe mit Inhalt zu füllen, sondern auf das Ermessen des Gesetzgebers verwiesen.

Mehr, scheint mir, ist auch nicht möglich. Denn die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs und seiner heutigen Rezipienten ist nicht nur zu weit, sondern auch zu eng. Freiheit ist mehr als die Abwesenheit fremden Zwangs; real und wirkmächtig ist die Freiheit der Person erst dann, wenn ihm gesellschaftliche und staatliche Institutionen die Entfaltung seiner Freiheit ermöglichen. Zu dieser Infrastruktur der Freiheit gehört auch ein Kern gemeinsamer Werte, ein overlapping consensus (Rawls), ohne den die Gesellschaft ihre innere Stabilität verliert. Im 19. Jahrhundert war dieser overlapping consensus vor allem religiös fundiert. Daher scheiterte Feuerbachs Versuch, sein reduktionistisches Strafrechtsmodell in die Wirklichkeit zu überführen, schnell und kläglich: Das von ihm maßgeblich verfasste Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 liberalisierte die Sittlichkeits- und Religionsdelikte derart radikal, dass es seiner Zeit weit voraus eilte und nie die Akzeptanz der Rechtsanwender und Bürger fand: Buchstäblich am Tag seines Inkrafttretens begann die Diskussion um eine restaurative Reform. Erst Mitte der 1970er Jahre war das Strafgesetz auf der Höhe seiner Zeit. Ehebruch, Homosexualität, Kuppelei: all dies wurde entkriminalisiert. Feuerbachs Vorstellungen hatten die Mitte der Gesellschaft und damit auch den Gesetzgeber erreicht. Weil diese in einem Ehebruch keinen Angriff mehr auf ihre Normen sah, konnte die Verletzung der subjektiven Rechte des betrogenen Ehepartners zu einer alleinigen Angelegenheit des Familienrechts werden. Das Strafrecht zog sich zurück.

Soll es nun wieder ausgedehnt werden, weil die Gesellschaft, wie Fischer richtig beobachtet hat, Sexualisierung und Prüderie widerspruchsvoll mischt? Meines Erachtens lohnt ein rechtsvergleichender Blick. In den USA hat die „Overcriminalization“ (Huzak) nicht den angestrebten kriminalpolitischen Ziele erreicht, im Gegenteil: Der übermäßige Gebrauch hat das Schwert Strafrecht nicht nur stumpf gemacht, sondern auch diskreditiert. Dieses Beispiel sollten den Gesetzgeber von seiner Strategie der Rekriminalisierung Abstand nehmen lassen.


8 Comments

  1. Marte Wed 29 Oct 2014 at 19:28 - Reply

    “Erst Mitte der 1970er Jahre war das Strafgesetz auf der Höhe seiner Zeit. Ehebruch, Homosexualität, Kuppelei: all dies wurde entkriminalisiert.”
    Da es in der Gesamtdiskussion ja um den Vergewaltigungstatbestand des § 177 StGB geht, wäre neben dieser Aufzählung zur Entkriminalisierung vielleicht auch eine recht späte Kriminalisierung zu nennen gewesen: die Vergewaltigung in der Ehe im Jahre 1997 (!). Was veranschaulicht, dass es im Bereich des Sexualstrafrechts durchaus Konstellationen geben kann, die wegen geänderter gesellschaftlicher Auffassungen kriminalisiert werden.

    Ich verstehe in der Debatte auch nicht, wessen Freiheit eigentlich geschützt werden soll. Die Freiheit von Grabschern auf Grabschen? Die begrabschte Person wird in ihrem Recht auf körperliche und sexuelle Selbststimmung beeinträchtigt, vielleicht auch in ihrer Würde/Ehre… Und dem steht welche grundrechtlich geschützte Freiheit auf Grabschen gegenüber? Und: ich kann jemanden strafrechtlich belangen, der in meinen Garten eindringt, aber nicht jemanden, der in meine Intimssphäre eindringt? Komische Wertung.

  2. Scribe Thu 30 Oct 2014 at 10:34 - Reply

    @Marte
    Mir scheint, Sie verstehen nicht nur etwas “in der Debatte”, sondern schon deren Ansatz nicht.
    Vielleicht lesen Sie einfach die Beiträge von Frau Prof. Hörnle und Herrn Fischer und auch Herrn Prof. Kubiciel – ggf. nochmals – nach …
    Um es für den Fall, dass Ihnen auch das nicht weiterhilft, auf einen einfachen Nenner zu bringen:
    Auf der rechtsphilosophischen bzw. rechtspolitischen Ebene geht es darum, ob bzw. wann eine festgestellte tatsächliche “Schutzlücke” ein Strafbedürfnis nach sich zieht oder nicht.
    (Nur) vor diesem Hintergrund wird hier (materiellrechtlich) über Grabschen, aufgedrängte Zungenküsse u.ä., diskutiert – wobei Fischer, wie ich meine, zu Recht darauf hingewiesen hat, dass diese sexuellen Handlungen ja schon de lege lata durchaus strafbar sein können (auch dann, wenn sie ohne Gewalt, Drohung mit Gefahr für Leib- oder Leben, oder Ausnutzen einer zwanglosen Lage) erfolgen, und zwar bei Drohungen unterhalb dieser Schwelle als Nötigung (sogar in einem besonders schweren Fall); eine (jedenfalls diskutable) Lücke gibt es dagegen bei den von Frau Prof. Hörnle ins Feld geführten “überrumpelnden” sexuellen Übergriffen wie etwa Grabschen in der U-Bahn oder einem völlig überraschenden Zungenkuss (die allerdings, je nach den weiteren Umständen, auch als Beleidigung strafbar sein könnten).
    Ob man nun solche Lücken schließen will oder nicht, ist aber – wie Prof. Kubiciel hier dargelegt hat – eine rein (gesellschafts-)politische Frage.

  3. Sebastian Sat 1 Nov 2014 at 11:37 - Reply

    Die gleiche Frage stellt sich im Übrigen auch, wenn der Besitz von (kleinen Mengen) Drogen unter Strafe gestellt wird. Mit welcher Begründung erlaubt sich hierbei der Gesetzgeber, in die persönliche Freiheit eines Jeden einzugreifen?

    Die Willkür des Gesetzgebers zeigt sich dann beim Vergleich mit Koffein, Alkohol, Nikotin usw.

  4. […] Polanski-Festnahme schei­tert, dies­mal in Po­len Die Schlach­ten der Schlich­ten Wel­ches Ver­hal­ten darf der Staat kri­mi­na­li­sie­ren? – Ant­wort auf Hörnle und Fi­… Recht­spre­chungs­über­blick in Straf­sa­chen: Ok­to­ber 2014 Ka­chel­mann darf […]

  5. Peter Blickensdörfer Mon 3 Nov 2014 at 11:39 - Reply

    Das süße Gift des Wortes „Freiheit“

    Süß, weil es jeder mit seinem Bedürfnis nach Zwanglosigkeit verstehen kann und darf!

    Gift, wenn jeder sein Verständnis von „Freiheit“ „real mächtig wirken“ lassen will, weil er das auch dürfe.

    Verständlich also, dass auch @Michael Kubiciel sich daran vergeblich versucht, das Wort „Freiheit“ verständlich zu erklären.

    Denn auch mit seiner Beschränkung auf „die Freiheit der Person“, also nicht auf die des oder der Menschen, kann „Freiheit“ beliebig verstanden werden.

    Daran ändert sich ebenso nichts, wenn „Freiheit“ als Subjekt erklärt wird. Unter bestimmten (von fremden bestimmten) Bedingungen sei es möglich, dass dieses Subjekt sich „real und (?) wirkmächtig“ entfalten (was immer das sein mag) könne. „Wirkmächtig“, was andere Personen auf sich auch als „fremden Zwang“ empfinden können?

    Mit „Freiheit“ abschließender Erklärung, diese Bedingungen gehörten zur „Infrastruktur der Freiheit“, bestätigt er eher beliebiges Verstehen-Dürfen von „Freiheit“. Also das Wort „Freiheit“ ist von auch von ihm als Begriff nicht verständlich erklärt.

    Denn das bedingte das erklären, warum, in welchem Zusammenhang was mit einem besonderen Wort (hier „Freiheit“) bezeichnet wird.

    „Freiheit an sich“ gibt es nicht!

  6. Micka Mon 3 Nov 2014 at 19:52 - Reply

    Wie von Prof. Kubiciel treffend ausgeführt, ist der Rechtsgutsbegriff nicht in der Lage bei der Frage der Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung Orientierung zu geben. Denn letztlich geht es bei dieser Debatte um eine nicht abschließend rational zu beantwortende Wertungsentscheidung zwischen unterschiedlichen Konzeptionen des guten Lebens.

    Ehrlich kann die Diskussion über eine mögliche Reform des Vergewaltigungsparagraphen daher nur geführt werden, wenn die unterschiedlichen praktischen Konsequenzen möglicher Reformvorschläge klar gemacht werden, damit diese Wertungsentscheidung vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber nach Durchführung eines offenen und kontroversen Meinungsaustausches verantwortungsvoll getroffen werden kann.

    Gefordert wird zT ein Tatbestand, der sich streng am Wortlaut von Art. 36 der Istanbul-Konvention ausrichtet, und schlicht die Strafbarkeit jeder nicht gewollten sexuellen Handlung anordnet. Ein solcher Straftatbestand würde in der Tat die von Prof. Hörnle genannten Schutzlücken schließen, insbesondere wäre ungewolltes Berühren, sog. “Angrapschen”, strafbar. Jedoch würde ein solcher Tatbestand – wie von Prof. Fischer dargestellt – aufgrund der Weite des Begriffs “sexuelle Handlung” und aufgrund der Abhängigkeit der Strafbarkeit vom nicht notwendigerweise geäußerten Willen des Adressaten zu gravierenden Konflikten mit dem Bestimmtheitsgebot führen. Im Extremfall könnte das Ansprechen im öffentlichen Raum unter Strafe fallen, in jedem Fall würden anders als von Prof. Hörnle behauptet “Verführen, Überreden und Versuche des Umstimmens” im Angesicht auch nur ambivalenter potentieller Sexualpartner kriminalisiert werden.

    Vermutlich wird diese rechtspolitische Folge von einem im medialen Diskurs sehr präsenten Teil der Bevölkerung befürwortet – was selbstverständlich legitim ist. Legitim ist aber auch, diese Folgen klar und unmissverständlich zu benennen. Nicht abwegig ist nämlich, dass ein großer Teil derjenigen Abgeordneten, die beispielsweise das “In-den-Schritt-Greifen” pönalisiert sehen wollen, vor diesen oben genannten Konsequenzen zurückschrecken.

    Daher ist die Lösung mE wohl in einer sehr behutsamen Reform zu sehen, die einerseits sexuelle Handlungen, welche entgegen einem klar und wiederholt geäußerten Willen durchgeführt werden und andererseits unaufgefordertes Berühren fremder Genitalien (uU auch noch sekundärer Geschlechtsmerkmale) unter Strafe stellt.

    Dies kann man – wie schon gesagt – auch anders sehen und eine noch weitergehende Verschärfung fordern (wie Hörnle) oder jede weitere Verschärfung ablehnen (wie Fischer). Entscheidend ist, dass die Diskussion bei diesem Thema mit enormem Aufmerksamkeitspotential in einer Weise geführt wird, die demokratischer Kultur entspricht.

  7. Muri Tue 4 Nov 2014 at 18:47 - Reply

    @Micka
    “…. nicht abschließend rational zu beantwortende Wertungsentscheidung zwischen unterschiedlichen Konzeptionen des guten Lebens” Sexuelle Übergriffe haben leider nichts mit einem guten Leben zu tun, in keiner Konzeption. (Außer natürlich aus der Sicht eines Täters, der es als seine sexuelle Freiheit und Ausdruck seines lustvollen Lebenswandels begreift, anderen ihre sexuelle Selbstbestimmung zu nehmen.)

    “Vermutlich wird diese rechtspolitische Folge von einem im medialen Diskurs sehr präsenten Teil der Bevölkerung befürwortet” – Bezieht sich das vielleicht auf Frauen? Also diejenigen, die ganz überwiegend unter solchen Übergriffen zu leiden haben? Und mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen? Die sollten vielleicht eher berücksichtigt werden als die vielen “Also-ich-mach’-sowas-nicht”- und “Man-wird-ja-wohl-noch-flirten-dürfen”-Männer. Zum Glück wurde die rechtspolitische Debatte von der Istanbul-Konvention entschieden. Das Völkerrecht war beim Schutz von Frauen vor Gewalt schon immer weiter als das nationale Recht.

  8. […] Vorschrift § 177 StGB (sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) zu reformieren, stoßen auf heftigen Widerstand. Insbesondere geht es um die Frage, ob für die Erfüllung des Tatbestandes ein fehlendes […]

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