Wenn das das Happy End ist, kann ich bitte noch mal das Unhappy End sehen?
Das ist es also, das große Dénouement, das Happy End, der finale Akt, an dem sich alles fügt und alle Widersprüche sich auflösen und Braut und Bräutigam sich endlich küssen dürfen: Der EU-Gipfel hat gekreißt und eine “interpretative Erklärung” zur Welt gebracht. Das Dokument hat vermocht, was vorher niemand vermochte, nämlich Ungarn und Polen ihr Veto im EU-Haushaltsstreit abzuringen. Unsere Bundesregierung, unsere Kanzlerin hat im Rahmen der laufenden deutschen Ratspräsidentschaft den Deal ausgehandelt und lässt sich jetzt dafür feiern: Der ungarische und polnische Widerstand sei gebrochen, der Rechtsstaatsmechanismus bleibe in Kraft und unangetastet, so der Spin, der jetzt der deutschen und europäischen Öffentlichkeit verkauft wird. Der Preis dafür sei, dass die Kommission ihn halt jetzt erst später aktivieren werde. Nämlich erst, wenn der EuGH irgendwann nächstes oder übernächstes Jahr entschieden hat, ob er überhaupt rechtmäßig ist. Sicher, in der Zwischenzeit kann Orbán in aller Ruhe 2022 seine Parlamentswahl gewinnen und Ziobro die Gleichschaltung der polnischen Justiz vollenden. Aber dafür können sie dann danach ja immer noch rückwirkend zur Verantwortung gezogen werden. Ist doch super. Riesenerfolg!
Die Wahrheit ist: Wenn diese “interpretative Erklärung” mehr ist als ein schlechter Witz, dann, so scheint mir, haben Ungarn und Polen in der Tat gewonnen. Und zwar nicht nur die Schlacht, sondern den Krieg.
Worum geht es in dem ganzen Streit? Um die Rechtsstaatlichkeit, die uns allen ja angeblich so fürchterlich wichtig ist. Da wird man vielleicht, pardon, in den ganzen Jubel hinein doch mal ein paar Rechtsfragen an diese “interpretative Erklärung” richten dürfen und müssen.
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Wissenschaftlicher Mitarbeiter (m/w/d) im Bereich Öffentliches Recht und Steuerrecht
An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist zum 01.03.2021 eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter (m/w/d) im Bereich Öffentliches Recht und Steuerrecht zu besetzen. Die Einstellung erfolgt zunächst befristet, längstens für die Dauer von 3 Jahren. Es handelt sich um eine Teilzeitstelle im Umfang von 0,75 % (30 Wochenstunden).
Schriftliche Bewerbung, unter Angabe der Registrier-Nummer 361/2020 bis zum 04.01.2021 an: Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger, a.leisner@uni-jena.de.
Weitere Informationen finden Sie hier.
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Zunächst: Was wird hier überhaupt “interpretiert” und “erklärt” und von wem und mit welchem Recht? Der Mechanismus ist in einer Verordnung geregelt. Das ist ein Gesetz, das mit seinem Inkrafttreten bestimmte Rechtswirkungen entfaltet. Wo steht da etwas davon, dass diese Rechtswirkungen durch irgendwelche Richtlinien der Kommission konkretisiert, geschweige denn bis zu deren Erlass suspendiert werden können?
Dann: Wie kommt der Rat darauf, dass eine Nichtigkeitsklage Ungarns und Polens gegen so eine Verordnung vor dem EuGH jetzt plötzlich aufschiebende Wirkung entfaltet? Wo steht das in den Verträgen? Oder pflückt sich das der Rat aus dem blauen Himmel?
Ferner: Wie kommt die EU-Kommission in diese Erklärung hinein? Die Kommission ist ein unabhängiges Organ der EU, betraut mit der Aufgabe zu kontrollieren, dass die Mitgliedstaaten die Verträge einhalten. Und jetzt wird sie hier von den Mitgliedstaaten zum Komplizen, wenn nicht gar zum Täter eines Vertragsbruchs gemacht? Dem hat Ursula von der Leyen zugestimmt? Mit dem Segen ihres juristischen Dienstes? Wozu brauchen wir dann überhaupt noch eine Kommission? Warum schaffen wir sie nicht einfach ab und übertragen ihren Job dem Sekretariat des Rats?
Das sind nur einige der Fragen, die sich mir aufdrängen, und ich verstehe nicht besonders viel von der Sache. Anders als ALBERTO ALEMANNO und MERIJN CHAMON zum Beispiel, die noch eine ganze Reihe weiterer Fragen haben, und obendrein auch noch ein paar geharnischte Antworten.
Ist das kleinlicher Juristenkram? Im Gegenteil. Das könnte politischer nicht sein.
Es ging in diesem Streit ja nie allein um richterliche Unabhängigkeit. Die ungarische und die polnische Regierung haben von Beginn an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihn als Teil einer größeren Auseinandersetzung betrachten darum, was die EU sein und wie sie aussehen soll. Ihre Idee von Europa läuft darauf hinaus, dass es sich im Kern um eine Schutz- und Versicherungsgemeinschaft nationaler Regierungen auf Wechselseitigkeit handelt, auf dass sie möglichst ungehindert von demokratischer und rechtlicher Kontrolle ihre Macht und – im Fall jedenfalls Ungarns – auch ihren Reichtum maximieren können. Was unterscheidet den Spirit der “interpretativen Erklärung” und die Nonchalance, mit der diese die Rechtsstaatlichkeit auf EU-Ebene vom Spielfeld schnipst, überhaupt noch groß von dieser Idee? Haben Orbán und Morawiecki, wenn sie zu Hause in Budapest und Warschau mit ihrem großen Sieg prahlen, vielleicht schlicht und einfach Recht?
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Was also tun? Ich habe heute morgen mit Sophie in’t Veld telefoniert, der liberalen niederländischen EP-Abgeordneten, und eine wütendere Politiker_in on the record hatte ich, glaube ich, noch nie in der Leitung. Die Kommission habe akzeptiert, dass der Rat ihr Anweisungen erteilt. Sei “vorbildlos” und ein “flagranter Bruch der Verträge”, und das, welche Ironie, als Tat der Hüterin derselben. Sie würde gern sehen, wie Kommissionspräsidentin von der Leyen, die ihre Rolle als Dienerin der Regierungen zu verstehen und nicht der Bürger_innen zu verstehen scheine, ihr Tun den Richter_innen erklärt, die unter massivem persönlichem Druck in Polen die Herrschaft des Rechts aufrecht zu erhalten versuchen. Das Mindeste sei jetzt, dass die Kommissionspräsidentin sich vor dem Europaparlament erklärt. “Wenn sie dazu nicht bereit ist, sollten wir vielleicht unsere Unterstützung für sie überdenken.”
Natürlich könnte die Kommissionspräsidentin sich jetzt vor das EP stellen und völlig richtig behaupten, diese “Erklärung” sei, anders als die Verordnung zum Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus, kein Rechtsakt und daher unverbindlich und unbeachtlich, weshalb die Verordnung vom Moment ihres Inkrafttretens als genau das geltende Recht behandelt werde, das es ja auch ist. Das wäre nicht völlig fernliegend, sollte man meinen.
Aber wer wäre denn so naiv, das zu glauben.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Eine deutlich freundlichere Lesart des Kompromisses dieser Woche schlagen PETER LINDSETH und CRISTINA FASONE vor: als Weichenstellung für eine wirklich “verfasste” Union im Sinne von legitimierter Macht, Ressourcen auch durch Zwang zu mobilisieren.
Um so entsetzter sind, wie bereits erwähnt, ALBERTO ALEMANNO und MERIJN CHAMON: Nicht nur sei die “interpretative Erklärung”, anders als viele behaupten, mitnichten ein bloß politischer Akt ohne rechtliche Auswirkungen, sondern im Gegenteil ein juristisches Desaster, ultra vires seitens des Europäischen Rats, unbegreiflich seitens der EU-Kommission, und nur das Europaparlament könne jetzt die Situation noch einigermaßen retten, notfalls per Untätigkeits- oder gar Nichtigkeitsklage zum EuGH.
Was wir jetzt nie erfahren werden: Wäre “Next Generation Europe” auch ohne Beteiligung Ungarns und Polens möglich gewesen? JOHANNES GRAF VON LUCKNER erkundet, ob das im Wege einer verstärkten Zusammenarbeit möglich wäre, und wie.
Warum der Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus Ungarn und Polen nicht mehr abverlangt, als man von Mitgliedstaaten der Europäischen Union erwarten kann und muss, erläutert die Grande Dame des polnischen Verfassungsrechts EWA ŁETOWSKA.
Die neuen Länderberichte der EU-Kommission zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten könnten ein Instrument für Autokraten werden. RADOSVETA VASSILEVA beleuchtet die Pläne der bulgarischen Regierung von Boyko Borissov, den Bericht als Grundlage für Reformen zu benutzen, die den Stand der Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien weiter verschlechtern.
In der Ukraine gibt es seit jeher ein massives Problem mit Korruption, deren Bekämpfung eine der zentralen Forderungen des Euromaidan war. Seit 2014 gab es deshalb rechtliche und institutionelle Reformen, die das Verfassungsgericht einem Urteil nun in Frage stellt – unter anderem, weil es sich selbst zu sehr gegängelt fühlt. Der Backlash in der ukrainischen Bevölkerung als auch seitens des Präsidenten war enorm und bringt den Rechtssaat in Gefahr. ANDRII NEKOLIAK über das Urteil und die Verfassungskrise, die das Gericht heraufbeschworen hat.
In Nordirland wurde vor drei Jahrzehnten der Anwalt Pat Finucane von protestantischen Terroristen erschossen. Der Verdacht, dass dabei auch britische offizielle Stellen die Finger im Spiel hatten, steht immer noch im Raum, aber die Regierung hat die Untersuchungen jetzt einstellen lassen. ALAN GREENE beleuchtet die Hintergründe und Folgen dieser Entscheidung.
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Im September hat die EU-Kommission ihren “New Pact on Migration and Asylum” vorgestellt. Noch haben sich die Mitgliedsstaaten nicht auf das Gesetzespaket geeinigt, nächsten Montag wollen die europäischen Innenminister erneut verhandeln. Mit Blick auf die Entwürfe einerseits und die aktuelle Praxis der Mitgliedstaaten andererseits ist es jedoch wahrscheinlich, dass die Umsetzung der Vorschläge zu pauschaler Inhaftierung einer Vielzahl von schutzsuchenden Menschen an den EU-Außengrenzen führen wird, befürchten INGA MATTHES, WIEBKE JUDITH und JOHANNA DU MAIRE.
Das Spanische Verfassungsgericht hat vergangene Woche ein Urteil zu „push-backs“ von Geflüchteten an den Grenzen der Spanischen Enklaven in Marokko veröffentlicht. Durch push-backs werden Geflüchtete – teils gewaltsam – nach Marokko zurückgeführt. CARLOS OVIEDO MORENO ordnet ein, warum das Gericht sich widerspricht: Es hat einerseits die Menschenrechte der Geflüchteten betont, die durch die aktuelle Durchführung von push-backs nicht gewahrt werden können. Es hat den zugrundeliegenden Artikel, der push-backs genehmigt, allerdings für verfassungskonform erklärt.
In Deutschland jährt sich die letzte Asylrechtsreform. Sowohl diese als auch sämtliche Reformen in den letzten Jahren waren primär auf Verschärfung ausgerichtet. STEPHAN GERBIG und GONZÁLEZ MÉNDEZ DE VIGO erklären, wie Kinder besonders unter diesem System leiden. Strukturell bedingte menschenrechtliche Gefährdungslagen stehen effektivem Schutz im Weg. Ein kinderrechtsbasierter Ansatz muss vorrangig die Aufenthaltszeiten in den Aufnahmeeinrichtungen angehen.
In Bayern ist eine erneute Reform des Polizeirechts geplant. Wie FELIX SCHMITT beschreibt, sind aber insbesondere die Nachbesserungen bei der Kategorie der „drohenden Gefahr“ im aktuell diskutierten Gesetzesentwurf nur marginal, weshalb erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel am Polizeiaufgabengesetz bleiben.
Ist in der Corona-Pandemie ein Gesetz nötig, das die Kriterien in der so genannten Triage-Situation festlegt und regelt, wer bei einer Überlastung des Gesundheitswesens noch behandelt wird und wer nicht? Oder sind die bisherigen Leitlinien ausreichend? ANN-KRISTIN KNOLL und CHRISTIAN RAUSCH sind der letzteren Ansicht.
Die Verfassungsgerichte von Thüringen und Brandenburg haben vor einigen Monaten die dortigen Paritätsgesetze für nichtig erklärt. Die Urteile zeugen von einem überholten Demokratieverständnis. Es ist an der Zeit zu reklamieren, dass das Gleichberechtigungsgebot in Art. 3 Abs. 2 GG auch dort ernst genommen wird, wo über die Geschicke des Staates und das Gemeinwohl entschieden wird, findet CHRISTINE HOHMANN-DENNHARDT.
Das war’s für diese Woche. Ihnen alles Gute, und bitte versäumen Sie nicht, uns auf Steady, per Paypal (paypal@verfassungsblog.de) oder per Banküberweisung (IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF) zu unterstützen. Vielen Dank und bis nächste Woche,
Ihr
Max Steinbeis
Bravo, Herr Steinbeis. Endlich Klartext! Mit all dem Jubel über den angeblichen „Kompromiss“ hatten wir angefangen zu bezweifeln, ob wir tatsächlich richtig lesen und verstehen können.