25 May 2014

Wenn der Volkswille den Gesetzgeber zum Verfassungsbruch zwingt

Das Schweizervolk hat wieder eine umstrittene Initiative angenommen. Pädophile Straftäter sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen – lebenslänglich und ohne Einzelfallprüfung. Das Ergebnis war glasklar: 63.5 % sagten Ja, kein Kanton lehnte die Initiative ab. Sie ist somit eine der erfolgsreichsten Initiativen überhaupt. Doch statt ein Problem tatsächlich zu lösen, scheint sie noch mehr Probleme zu verursachen. Denn bei der Umsetzung lässt sie der Regierung nur die Wahl zwischen der Verfassungswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit. Die neue Verfassungsbestimmung widerspricht nämlich einem anderen Verfassungsartikel, dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Was wollte die Pädophilie-Initiative noch mal?

Die am 18. Mai angenommene Initiative fügt der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) einen neuen Art. 123c BV hinzu. Ziel dieser neuen Verfassungsvorschrift ist, den Schutz für potenzielle Opfer zu verbessern und die Bekämpfung von Sexualverbrechen an Kindern zu erleichtern. Konkret verlangt die Initiative, dass

Personen, die verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes oder einer abhängigen Person beeinträchtigt haben, […] endgültig das Recht [verlieren], eine berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit mit Minderjährigen oder Abhängigen auszuüben.

Mit ihrem Ja zur Initiative hat das Volk gleichzeitig das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in Frage gestellt. Die Initiative verlangt nämlich, dass das Tätigkeitsverbot automatisch, absolut und immer lebenslang gelten sollte. Ein lebenslanges Berufsverbot verstößt u.a. auch gegen die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV), die einen Automatismus ausschließt. Problematisch ist auch die sog. Jugendliebe, wenn nämlich eine Person über 20 Jahren im Rahmen einer Beziehung mit einer Person unter 16 Jahren Geschlechtsverkehr hatte. Die Initiative sieht außerdem für das Tätigkeitsverbot keine Ausnahmen, keine Abstufungen und keine richterliche Prüfung des Einzelfalls vor. Sie berücksichtigt weder die Schwere des Sexualdelikts noch das Alter und die Motive des Täters.

Die Forderung der Initiative nach einem automatischen lebenslänglichen Berufsverbot steht im direkten Widerspruch zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und verletzt somit die Rechtsstaatlichkeit. Die Verhältnismäßigkeit ist nämlich eine der Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns und in Art. 5 Abs. 2 BV sowie in Art. 36 BV geregelt.

Weil die Initiative nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, hatten Regierung und Parlament noch versucht, durch eine Verschärfung des aktuellen Gesetzes der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. Neuerdings können Richter ein zehnjähriges Berufsverbot für verurteilte Pädosexuelle verhängen und dieses bei Bedarf auf lebenslänglich ausdehnen. Doch diese Gegenmaßnahme der Regierung war den meisten Stimmberechtigten nicht genug – trug wahrscheinlich sogar zur Annahme der Initiative bei. Die Annahme der Initiative machte das Inkrafttreten des reformierten Gesetzes am 1. Januar 2015 obsolet.

Weil die Initiative eine neue Verfassungsbestimmung eingeführt hat, die mit einer anderen, nämlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar ist, stehen wir nun vor einem Dilemma: Was will/sollte man nun höher bewerten? Eine höchst komplizierte juristische Frage, die Bundesrat und Parlament nun bewerten müssen.

Wie die Regierung mit diesem Dilemma umgehen soll, weiß die Bundesrätin Simonetta Sommaruga zurzeit tatsächlich nicht. Deswegen sind in den parlamentarischen Debatten über die Frage der Umsetzung große Diskussionen und Probleme programmiert. Der Bundesrat will jedoch dem Parlament noch vor Ende des Jahres eine Gesetzesvorlage unterbreiten.

Ist hier eine verfassungskonforme Umsetzung überhaupt möglich?

Im vorliegenden Fall ist es schwierig, einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verfassungsprinzipien (sog. praktischen Konkordanz) herzustellen. Entweder wird das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt oder der Volkswille missachtet. Hier kann der allgemeine Grundsatz, dass ein späteres Gesetz einem früheren Gesetz derselben Rangordnung vorgeht (sog. „lex posterior derogat legi priori“), auch nicht ohne Bedenken Anwendung finden. Denn die wortgetreue Umsetzung der Initiative würde das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzen. Die Relativierung des neuen Artikels in der Umsetzung würde andererseits zur Missachtung des Volkswillens führen. Die Verfassung wäre also in jedem Fall verletzt.

Die Verfassung sollte als Einheit gelten. Laut Botschaft des Bundesrates „sind Verfassungsnormen so zu interpretieren, dass Widersprüche innerhalb der Verfassung nach Möglichkeit vermieden werden“. Deswegen muss sich das Parlament bei der Umsetzung einer Initiative in ein Gesetz an der Verfassungsmäßigkeit orientieren. Sonst stünde ein – bei einer Verurteilung zwingend zu verhängendes – Tätigkeitsverbot oder die Tatsache, dass das Gericht über keinen Ermessensspielraum mehr verfügt, im Widerspruch zu dem in den Art. 5 und 36 BV verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“ Deswegen meint der emeritierte Staatsrechtler Rainer J. Schweizer, das „Parlament wird Abstriche machen müssen“. In den Fällen der sog. „Jugendliebe“ beispielsweise müssten präzisierende Ausnahmen zugelassen werden.

Was die gerichtliche Kontrolle solcher Initiativen angeht, müsste das schweizerische Bundesgericht zwar wegen des Anwendungsgebots von Art. 190 BV alle Gesetze – so auch den neuen Art. 123c BV – anwenden, darf ihn aber auf Verfassungsmäßigkeit hin kontrollieren. Bei der Einzelfallprüfung müsste das Gericht wegen der verfassungsmäßigen Auslegung der Gesetze eine wortgetreue Umsetzung der Pädophilie-Initiative korrigieren. Somit könnten die Schwächen eines mangelhaft umgesetzten Gesetzes von den Gerichten korrigiert werden. Das weiß der Gesetzgeber genau. Die Delegation der Verantwortung an die Gerichte wäre für diesen politisch sogar angenehmer. Das Parlament darf jedoch nicht die rechtsstaatlichen Probleme an die Gerichte delegieren und muss die Korrekturen am Volksentscheid selber vornehmen. Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird von der Bundesverfassung als Bestandteil des rechtstaatlichen Handelns selbst festgehalten. Daran sind nicht nur die Gerichte, sondern alle staatlichen Organe gebunden.

Kann die direkte Demokratie so auf die Länge funktionieren?

Laut Art. 139 Abs. 3 BV erklärt die Bundesversammlung eine Initiative für ganz oder teilweise ungültig, wenn sie „die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“ verletzt. Gestützt auf diese Norm unterzieht die Bundesversammlung die Initiativen einer Vorkontrolle. Sie übt diese Inhaltskontrolle jedoch sehr zurückhaltend aus und konzentriert sich meist auf formelle Gesichtspunkte. Solange das zwingende Völkerrecht nicht verletzt ist, lässt die Bundesversammlung die Initiativen regelmäßig zur Abstimmung zu. Deswegen ist in den letzten Jahren kaum eine Initiative ergangen, die verfassungs- oder völkerrechtlich unbedenklich war. Dies zeigt, dass das Parlament seine Aufgabe nicht ernst genug nimmt. Denn diese Initiativen verlangen etwas, dass nicht machbar ist, ohne dass rechtsstaatliche Errungenschaften in Frage gestellt werden. Das Parlament hätte die Pädophilie-Initiative für ungültig erklären müssen.

Diese Entwicklung zeigt die Grenzen des aktuellen Initiativerechts bzw. der halbdirekten Demokratie. In ihrer heutigen Konzeption führt das Initiativerecht zu unbefriedigenden Resultaten, mit denen die Schweiz lernen muss zu leben, ist sie nicht bereit, das Initiativerecht zu reformieren. Dabei soll nicht unbeachtet bleiben, dass diese unbefriedigende Situation zur Instrumentalisierung der halbdirekten Demokratie durch populistische Parteien führt. Deswegen müsste das Parlament seine Praxis bei der Ungültigkeitserklärung von Volksinitiativen ändern. Diesbezüglich verlangen Staatsrechtler wie Rainer J. Schweizer, dass langfristig eine verwaltungsunabhängige Stelle die Initianten bereits im Vorfeld der Lancierung beraten und ihnen zentrale rechtsstaatliche Werte in Erinnerung rufen sollte.

Demokratie versus Rechtsstaatlichkeit

Dass die Pädophilie-Initiative nur eingeschränkt umgesetzt werden kann, wurde von der Politik in Kauf genommen. In den letzten Jahren kam es nämlich zu mehreren ähnlichen Initiativen, die das Land immer mehr isolieren. Sie setzt nun diese restriktive Politik der letzten Jahre fort, die mit ernsthaften verfassungsrechtlichen Bedenken einhergeht.

Ist die Schweiz ein Land der Überregulierung und der Verbote geworden? Den Grund dieser Entwicklung sieht Rainer J. Schweizer im sog. „demokratischen Absolutismus“, den die Schweiz derzeit erlebe. Dabei brauche der demokratische Staat auch Sicherungen für die rechtsstaatlichen Errungenschaften, wie die dauernde Verpflichtung auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Zusammengefasst heißt das, dass es in der Schweiz dem Demokratieprinzip im Vergleich zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – dem auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört – ein höherer Rang zugemessen wird.


6 Comments

  1. Kai Sun 25 May 2014 at 23:06 - Reply

    Die Verhältnismäßigkeit iim engeren Sinne ist kein eigenes Grundrecht mit Verfassungsrang, wie z.B. die Pressefreiheit oder die Versammlungsfreiheit. Sie wird nur hergeleitet und als Werkzeug bei der Anwendung der “echten” Grundrechte genutzt. Wenn der Souverän nun eine Regelung beschließt mit einem bestimmten Tatbestand und Rechtsfolge, dann kann dieser Eingriff nur anhand konkurrienderer Grundrechte wie der Berufsfreiheit gemessen werden. Da Berufsverbote grds. zulässig sind, kann ein Eingriff nicht allein deshalb unwirksam werden, weil er keinerlei mildernde Umstände ermöglicht. In dem Obigen Beitrag steht ja, dass ein solches absolutes lebenslanges Berufsverbot ja möglich ist. Es wird lediglich darauf abgesteltlt, dass man diese RF nicht in jedem Fall anwenden dürfe. Diese Schlussfolgerung halte ich für falsch. Es gibt ja durchaus andere zulässige Tatbestände, die nur eine Rechtsfolge kennen und keinerlei Abstiufungen. Insofern ist dieses Argument allein kaum ausreichend um eine Verfassungswidrigkeit anzunehmen.

  2. Aufmerksamer Leser Sun 25 May 2014 at 23:31 - Reply

    Es geht wohl eher um ein Problem des Gleichheitssatzes, wenn man die “automatisch, absolut, immer” Regelungen kritisch sieht. Nicht um Verhältnismäßigkeit. Aber wie @Kai schon sagte, das ist nunmal manchmal so und keineswegs immer verfassungswidrig.

  3. Martin Holterman Mon 26 May 2014 at 01:39 - Reply

    Lex specialis derogat legi generali.

  4. Aufmerksamer Leser Mon 26 May 2014 at 16:17 - Reply

    @Martin: ja. Deswegen sagte ich “Gleichheitssatz”. Der junge Mann aus der Schweiz hält die lex specialis allerdings für verfassungswidrig, deswegen sein Beitrag.

  5. Marc B. Wed 28 May 2014 at 12:27 - Reply

    Die Schweiz braucht einfach eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit. Es muss eine Instanz geben, die Normen für unvereinbar mit der Verfassung erklären kann. Das ist in der Schweiz nämlich nicht gegeben und der Kern des Problems.

    Zuletzt gab es das bei der Minarett-Initiative, die auch von der Bundesversammlung einfach durchgewunken wurde und die bei Annahmen klar die Religionsfreiheit und den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzte.

    Weil auf absehbare Zeit nicht anzunehmen ist, dass sich die Schweiz auf ein solches Prinzip einigen könnte, da die Politik sich vollkommen verfangen hat, sollte sich das Bundesgericht einfach diese Kompetenz selbst geben, wie es das US Supreme Court 1803 in Marbury v. Madison getan hat (die geschriebene US-Verfassung kennt ja auch keine Verfassungsgercihtsbarkeit). Manches dauert in der Schweiz einfach ein bisschen länger.

  6. Christian Schmidt Thu 29 May 2014 at 22:07 - Reply

    Gilt nicht der Grundsatz dass jede Verfassungsaenderung einer explizieten Aenderung des Worlautes bedarft? Wenn ja bedeutet dies doch impliziet dass bei Konflikten der aeltere Text den neueren sticht, denn wenn die Autoren der Initiative wirklich wollten dass der neue Text hoeher bewertet wird das die Verhaeltnismaessigkeit haetten sie es halt in die Initiative reinschreiben muessen. (D.h. Art. 5 Abs. 2 BV bzw. Art. 36 BV umschreiben bzw. mit Anhang versehen in dem steht dass Art. 123c BV diesen explizit vorgeht.)

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