15 November 2019

Wenn Menschen­rechts­verletzungen nicht benannt werden

Deutschlands zögerliche Reaktion auf die Proteste im Irak

Seit über einem Monat finden im Irak massive Proteste und Demonstrationen statt, über die allerdings zunächst wenig berichtet wurde. Mit der zweiten Protestwelle seit dem 25. Oktober finden die Proteste und die mit ihnen verbundenen Gewalteskalationen zwar auch in Deutschland zunehmend Beachtung, etwa in dieser Woche in der ZEIT. Die gleichwohl eher geringe Aufmerksamkeit – man denke zum Vergleich etwa an die Berichterstattung aus Syrien, aber auch aus Hong Kong oder zuletzt Bolivien – erklärt sich vielleicht auch daraus, dass die Bundesregierung und andere westliche Staaten die massiven Menschenrechtsverletzungen erst spät, zögerlich und sporadisch benannt und öffentlich kritisiert haben. Das steht nicht nur im Gegensatz zu der anhaltenden Debatte zur Situation in Syrien, sondern auch im Widerspruch zu Deutschlands ausgerufenem Ziel, für eine regelbasierte internationale Ordnung einzustehen.

Die Demonstrationen begannen am 1. Oktober, als insbesondere schiitische Iraker und Irakerinnen im Süden und der Mitte des Landes gegen ihre Regierung protestierten. Hintergrund der Proteste ist die hohe Arbeitslosenrate und daraus resultierende Armut weiter Teile der irakischen Bevölkerung, und die sehr hohe Korruption. Obwohl der Irak der zweitgrößte Ölproduzent der OPEC ist, lebt einer von fünf Menschen im Irak in Armut. Hiervon sind insbesondere junge Menschen betroffen: 58% der irakischen Bevölkerung sind unter 25 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit wird auf 36% geschätzt. Es waren zunächst diese jungen Menschen, die auf die Straße zogen, um gegen Armut und für bessere Zukunftschancen zu demonstrieren. Die irakische Regierung versuchte, die Demonstrationen durch den Einsatz von physischem Zwang und Waffengewalt zu unterbinden. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UN Assistance Mission in Iraq, UNAMI) berichtete unter anderem, dass eine Demonstration auf dem Tahrirplatz in Bagdad mit etwa 3000 Personen unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst wurde, ohne dass zuvor Warnungen ausgesprochen worden wären. Unmittelbar nach dem Beginn der Demonstrationen wurde vom 2. bis zum 5. Oktober in vielen Landesteilen eine Ausgangssperre verhängt. 

In den folgenden Tagen richteten sich Demonstrationen – weit über Bagdad hinaus – nicht nur gegen die schlechten Lebensbedingungen, sondern auch gegen die gewaltvolle Auflösung vorheriger Demonstrationen. Hierauf wurde wieder mit Waffengewalt geantwortet; diesmal unter anderem mit scharfen Geschützen. Zahlreiche Todesfälle wurden durch gezielte Schüsse in den Kopf oder die Brust verursacht, teils auch durch für den Kampfeinsatz produzierte Tränengaskanister. Den unkonventionellen Einsatz dieser besonders großen und schweren Tränengasgeschosse hat Amnesty International untersucht und als besonders perfide eingestuft. Auch medizinisches Personal, das sich um Verletzte kümmert, ist vor den tödlichen Schüssen nicht sicher. UNAMI berichtet allein für den Zeitraum zwischen dem 1. und 9. Oktober von mindestens 157 Toten und über 5000 Verletzten. Insgesamt wurden bis zum 13. November 319 Todesfälle festgestellt; die Zahl der Verletzten übersteigt mittlerweile 15.000 und es wird von Entführungen, Verhaftungen und massiven Einschüchterungskampagnen berichtet.

Waren unter den Demonstrierenden zunächst primär junge Männer zwischen 15 und 35 sowie Menschenrechtsaktivist*innen, so sind mittlerweile so gut wie alle Bevölkerungsgruppen auf den Straßen, darunter viele Frauen, ältere Menschen, Schulkinder, Studierende, Lehrkräfte. Die Demonstrationen haben sich nicht konfessionell vereinnahmen lassen – die Generation der jungen Demonstrierenden wuchs nach dem Sturz Saddam Husseins auf und ist nicht von einer Erinnerung an die Verfolgung der Shia-Bevölkerung unter Husseins Herrschaft beeinflusst. Sie kritisieren den Einfluss Irans in ihrem Land, es geht ihnen aber vor allem um die Verbesserung basaler Lebensstandards, um das Recht auf Bildung und auf Arbeit und, nach der gewaltvollen Repression der Proteste, auch um eine Reihe politischer Rechte: das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Informations- und Pressefreiheit (die irakische Regierung schaltet wiederholt das Internet ab) und auf das Recht auf Leben sowie körperliche Unversehrtheit. 

Die Vereinten Nationen stellten bereits am 22. Oktober massive Menschenrechtsverletzungen fest: Verletzungen des Rechts auf persönliche Freiheit und Sicherheit (Artikel 9 IPBürgR), der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit (Artikel 19 und 21 IPBürgR), sowie des Rechts auf Leben und des Folterverbots (Artikel 6 und 7 IPBürgR). Irak ist Vertragspartei des Internationalen Pakts über zivile und bürgerliche Rechte und hat die Antifolterkonvention ratifiziert. Die irakische Verfassung von 2005 verbürgt ebenfalls die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit (Artikel 38) sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und ein Folterverbot (Artikel 15 und 37). Demgegenüber hat sich die Bundesregierung mit offiziellen Stellungnahmen während des Monats Oktober enorm zurückgehalten. Die deutsche Botschaft twitterte noch am 24. Oktober, zwei Tage, nachdem die VN-Unterstützungsmission von massiven Menschenrechtsverletzungen und über 100 Todesfällen berichtete, von einem Besuch des deutschen Botschafters in Bagdads Nationalmuseum und davon, dass kulturelle Verbindungen zwischen beiden Ländern gestärkt werden müssten – ein beinah zynisches Schweigen angesichts der Gewalteskalation in den Tagen und Wochen zuvor. Mittlerweile wurden die Gewaltexzesse zwar einmalig benannt und mehr Pressefreiheit gefordert – allerdings eben nur ein einziges Mal und nach über einem Monat andauernder Gewalt. Auch auf europäischer Ebene wurde erst zum Ende des Monats Oktober eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der zu „verantwortungsvollem Handeln“ aller Seiten aufgerufen wurde. Erst in den letzten Tagen fand ein Treffen zwischen EU-Botschaftern und irakischer Regierung zu den Gewaltexzessen statt. Der lange Zeit einzige Tweet des EU-Botschafters Martin Huth: “Right to demonstrate & freedom of expression are essential for functioning democracy. At the same time, we call for protests to remain non-violent, and for utmost restraint by security forces on 25 October. Iraqis can do it!“, ist in seinem Duktus herablassend, als ob die demonstrierenden Iraker sich hätten aussuchen können, ob die Proteste friedlich verlaufen oder mit Waffengewalt erwidert würden. 

Die mangelnde Benennung schwerer Menschenrechtsverletzungen steht in einem krassen Gegensatz zu der andauernden Debatte und den intensiven diplomatischen und militärischen Bemühungen im Nachbarstaat Syrien. Sie ist auch unverständlich, wenn man bedenkt, dass Deutschland nach eigenen Angaben seit 2014 über 1,7 Milliarden Euro für Unterstützungsmaßnahmen im Irak bereitgestellt hat. Vor allem aber steht die zögerliche Benennung schwerer und andauernder Menschenrechtsverletzungen im Widerspruch zum eigenen Anspruch Deutschlands, auf internationaler Ebene für eine regelbasierte internationale Ordnung einzustehen. Deutschland hat sich in diesem Jahr besonders im Rahmen der Vereinten Nationen einen Namen gemacht, indem es gar eine Allianz für den Multilateralismus ausgerufen hat, in deren Rahmen nun für die regelbasierte internationale Ordnung geworben werden soll. Wie an anderer Stelle und von verschiedenen Stimmen ausgeführt, lebt das Völkerrecht als dezentrale Ordnung davon, dass Rechtsverstöße von einer möglichst großen Zahl internationaler Akteure klar als solche benannt werden. Die Vereinten Nationen haben im Irak keine besonders starke Präsenz. Wie bekannt ist, wurde im Irak 2003 nicht auf der Grundlage eines UN-Mandats eingegriffen; die Vereinten Nationen haben kein Mandat für militärische Maßnahmen. Die Unterstützungsmission im Irak ist eben dies: eine unterstützende, politische Mission, die zwar über die Vorfälle berichten, nicht aber Maßnahmen zu ihrer Eindämmung unternehmen kann. Sie ist nichtsdestotrotz im Augenblick die einzige laute Stimme, die für Menschenrechte wirbt und einen Reformplan entworfen hat, der die berechtigten Forderungen der Demonstranten und Demonstrantinnen aufnimmt. Ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wird der Plan aber kaum umzusetzen sein. Wenn der deutsche Einsatz für die regelbasierte internationale Ordnung glaubwürdig sein soll, dann muss Deutschland schneller, lauter und deutlicher auftreten und Menschenrechtsverletzungen auch öffentlich klar benennen – nicht nur in Syrien, sondern auch, und gerade, im Irak.

Dieser Beitrag beruht u.a. auf Vor-Ort-Berichten von Personal einer Entwicklungsorganisation im Irak.


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