22 September 2020

Wer bekommt den knappen Covid-19-Impfstoff?

Iustitia Distributiva und die rechtlichen Fallstricke medizinischer Priorisierungsentscheidungen

Noch gibt es keinen Impfstoff gegen Covid-19. Auch wenn ein wirksames Mittel gefunden ist, werden längst nicht genug Impfdosen für alle bereitstehen, die sich vor der Krankheit schützen wollen. Jens Spahn hat angekündigt, die Frage, wer bei der Vergabe der Impfstoffe Vorrang haben soll, bis Ende Oktober zu regeln. Grund genug, ein erstes Schlaglicht auf die juristischen Probleme einer solchen Normierung zu werfen.

Einiges ist zu der geplanten Regelung schon durchgesickert. Was das Verfahren angeht, so ist eine Expertenkommission eingesetzt worden, die Verteilungsgrundsätze für die voraussichtlich knappen Impfdosen erarbeiten soll. Zu der Gruppe gehören Mitglieder der beim Robert-Koch-Institut angesiedelten Ständigen Impfkommission (vgl. § 20 Abs. 2 IfSG), des Deutschen Ethikrates und der Leopoldina Nationalen Akademie der Wissenschaften. Im Hinblick auf den Inhalt der Verteilungsbestimmung hat Spahn zudem durchblicken lassen, dass insbesondere Menschen mit Vorerkrankungen, ältere Menschen und Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Pflege priorisiert werden sollen.

Warum bedarf es einer verbindlichen Regelung?

Das Vorhaben, die Priorisierung verbindlich zu regeln, ist zunächst sehr zu begrüßen. Es ist absehbar, dass die neu entwickelten Impfstoffe nicht für alle ausreichen werden, die sich impfen lassen wollen. Würde man keine Regelung zur Verteilung der knappen Ressourcen schaffen, müssten letztlich Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer geimpft wird und wer nicht. Da die Ärzteschaft jedoch zuvörderst dem Wohl ihrer Patientinnen und Patienten verpflichtet ist und nicht die Aufgabe hat, gesamtgesellschaftliche Allokationsentscheidungen zu treffen, liefe das letztlich auf eine Verteilung nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ hinaus. Mit der vom Gesundheitsminister in Aussicht gestellten Normierung können hingegen Steuerungsziele wie die Reduktion von Gesamtsterblichkeit und ‑krankheitslast verfolgt werden, die auch aus grundrechtlicher Perspektive erstrebenswert sind.

Auch muss man Spahn für seinen Mut loben, das Thema so offen anzugehen; denn für gewöhnlich werden politisch brisante Allokationsfragen – wie etwa die katastrophenmedizinische Triage oder auch die Vergabe knapper Organe – zu ethisch „tragischen“, rechtlich unregelbaren Materien deklariert und sodann medizinischen Sachverständigen überlassen (hierfür ausdrücklich der Deutsche Ethikrat in seiner ersten ad-hoc-Empfehlung zur Corona-Krise im Hinblick auf die katastrophenmedizinische Triage). Nicht nur politisch birgt das Thema Risiken, auch juristisch sind bei Verteilungsfragen im Gesundheitsbereich allerlei Fallstricke zu beachten, die hier kursorisch in den Blick genommen werden sollen.

Gibt es eine wissenschaftlich richtige Verteilung von Impfstoffen?

Es ist zwar erfreulich, dass neben medizinischer Expertise auch andere Wissenschaftsbereiche wie etwa die Ethik und Sozialwissenschaften in die Expertenkommission einbezogen wurden. Allerdings kann keine Wissenschaftsdisziplin die Frage nach der richtigen Verteilung knapper, potenziell überlebenswichtiger Güter eindeutig beantworten (vgl. schon Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin, BT-Drs. 15/5980). So gibt es etwa in der Ethik konkurrierende Ansätze zur allokativen Gerechtigkeit, aus denen sich – angesichts ihrer Abstraktheit – auch keine konkreten Verteilungsmuster ableiten lassen (siehe dazu schon Klafki, in Pünder/Klafki, Risiko und Katastrophe als Herausforderung für die Verwaltung, 2016, 105 ff.).

Auch die Erkenntnismöglichkeiten der Lebenswissenschaften sind begrenzt. Zwar lassen sich mit fortschreitendem epidemiologischen Erkenntnisgewinn Aussagen dazu treffen, wie sich unterschiedliche Priorisierungsentscheidungen auf die Sterblichkeitsrate, die Gesamtkrankheitslast, die Ausbreitungsrate oder die Gesamtlebensdauer der Bevölkerung auswirken. Welcher Zielvorgabe jedoch der Vorzug zu geben ist, ist eine Wertungsfrage, die die Naturwissenschaft nicht beantworten kann. Schon in der Vergangenheit haben sich Gesundheitsexpertinnen und -experten im Zusammenhang mit Influenzapandemien Gedanken zur Verteilung knapper Impfstoffe gemacht. In einer Empfehlung des alten Influenza-Pandemieplans 2007 (S. 67) orientierte man sich beispielsweise an dem Ziel, die Ausbreitung der Krankheit zu begrenzen. So hieß es darin:

„Die Bundesländer haben sich 2006 darauf verständigt, dass zuerst das medizinische Personal und der zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendige Personenkreis geimpft werden soll. Dies sind bundesweit ca. 6 % der Bevölkerung. Anschließend soll anhand epidemiologischer Kriterien die Bevölkerung nach Jahrgängen geimpft werden.“

Während der sog. Schweinegrippepandemie 2009 wurde hingegen in der Influenzaschutzimpfung-GKV-Leistungspflichtverordnung (BAnz. Nr. 124, S. 2889) folgende Priorisierung vorgenommen: 1. Vorerkrankte, 2. Schwangere, 3. Medizinisches Personal, 4. Personal der Vollzugspolizeien und Feuerwehren. Hier ging es also vorrangig darum, Gesamtsterblichkeit und -krankheitslast zu reduzieren. In eine ähnliche Richtung gehen wohl auch die aktuellen Überlegungen im Bundesministerium für Gesundheit (BMG).

Auch die Rechtswissenschaft kann bei Verteilungsfragen allenfalls äußere Grenzen vorzeichnen. So steht Art. 3 Abs. 1 GG sowohl einer willkürlichen als auch einer Regelung entgegen, die nach den Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG differenziert. Es besteht allerdings schon Uneinigkeit bei der Frage, inwieweit Höchstaltersgrenzen bei medizinischen Allokationsentscheidungen berücksichtigungsfähig sind (für die Zulässigkeit etwa Breyer/Schultheiss, in: Gutmann/Schmidt, Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, 121, 147). Obwohl man intuitiv natürlich auf die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG hinweisen würde, die einer Berücksichtigung der Restlebenserwartung entgegensteht (dazu Hörnle, VerfBlog 4.4.2020), spielen solche Erwägungen in gegenwärtigen medizinischen Knappheitssituationen schon längst eine Rolle, ohne dass Gerichte dies beanstanden – etwa bei der Vergabe menschlicher Organe (siehe etwa die Vergaberichtlinien für die Nierentransplantation), im Rahmen der Triage (siehe dazu Fateh-Moghadam/Gutmann, VerfBlog 30.4.2020) und der Zuteilung knapper Beatmungsgeräte (dazu Hong, VerfBlog 29.3.2020).

Wer darf über die Impfverteilungsfrage entscheiden?

Wenn es also keine allgemeingültige Verteilungsformel für knappe Impfstoffe gibt, kommt es letztlich darauf an, wer über die Frage entscheidet. Die Aussage von Spahn, dass noch bis Ende Oktober eine Regelung geschaffen wird, deutet nicht darauf hin, dass ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren geplant ist. Vielmehr scheint es, als wolle das BMG unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Expertenkommission im Wege einer Rechtsverordnung über die Verteilung bestimmen. Während der Schweinegrippepandemie hatte man die erwähnte Priorisierungsregelung verfassungswidriger Weise auf eine Rechtsverordnungsermächtigung gestützt, die das BMG lediglich ermächtigte, festzulegen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für bestimmte Schutzimpfungen zu tragen haben (§ 20 Abs. 4 a.F. 2006, die Vorschrift findet sich heute in § 20i Abs. 3 SGB V). Angesichts der damaligen Impfverdrossenheit der Bevölkerung kam es jedoch nicht zu der befürchteten Knappheit, so dass alle Interessierten eine Impfung erhielten.

Dies wird bei den Corona-Impfstoffen voraussichtlich anders sein (vgl. Umfrage zur Corona-Impfbereitschaft). Nötig ist daher eine tragfähige Rechtsgrundlage, um Impfwilligen die begehrte, möglicherweise lebensrettende Impfung zu verweigern. Das BMG kann jetzt immerhin auf § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. c IfSG zurückgreifen, der das Ministerium im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite dazu ermächtigt, per Rechtsverordnung und ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Verteilung von Impfstoffen zu treffen. An der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung bestehen jedoch erhebliche Zweifel. Anders als die sonstigen Maßnahmen des § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG ist die mit der Impfstoffverteilung verbundene Rationierung in höchstem Maße grundrechtsrelevant, da sie das Leben und die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betrifft (vgl. Nikolausbeschluss des BVerfG). An die von Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG geforderte Bestimmtheit des Gesetzes, das zum Erlass der Rechtsverordnung ermächtigt, sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Zumindest müssen die zulässigen Ziele der Verteilungsentscheidung und mögliche Kriterien gesetzlich grob umrissen werden (siehe zu dem Erfordernis der gesetzlichen Festlegung von grundrechtsrelevanten Verteilungskriterien auch das 2. NC-Urteil des BVerfG). Hiervon wegen der Unvorhersehbarkeit der Pandemie eine Ausnahme machen zu wollen (zu dieser Erwägung etwa noch OVG Münster v. 6.4.2020, 13 B 398/20.NE, Rn. 59), erscheint ein halbes Jahr, nachdem die WHO den Corona-Ausbruch zur Pandemie erklärt hat, nicht mehr angemessen. Das Parlament ist vielmehr dazu berufen, das IfSG um eine spezifischere gesetzliche Verordnungsermächtigung zur Verteilung von Arzneimitteln zu ergänzen. Darin könnte es etwa – in Anlehnung an Art. 61 der Epidemienverordnung der Schweiz – heißen:

(1) 1Bei einer besonderen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und einer beschränkten Verfügbarkeit von Arzneimitteln i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG kann das Bundesministerium für Gesundheit deren Zuteilung durch Rechtsverordnung rationieren und im Wege einer Prioritätenliste regeln. 2 Die Prioritätenliste wird aufgrund von anerkannten medizinischen und ethischen Kriterien erstellt. Gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Anliegen sind angemessen zu berücksichtigen. 3Zulässige Verteilungsziele sind insbesondere die Reduktion der Gesamtsterblichkeit, der Gesamtkrankheitslast und der Reproduktionszahl.

(2) Insbesondere folgende Personen können prioritär berücksichtigt werden:

a. Medizinisches Personal; dazu gehören insbesondere Personen, die in Krankenhäusern, Arzt- und Zahnarztpraxen, Einrichtungen der stationären und ambulanten Pflege, Einrichtungen der stationären Rehabilitation, Apotheken, im Rettungsdienst, im Krankentransport und in Gesundheitsämtern tätig sind;

b. Personen, für die eine Erkrankung mit der Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufs oder einem erhöhten Komplikationsrisiko verbunden ist;

c. Personen, die im Bereich der inneren oder äußeren Sicherheit oder kritischer Infrastrukturen tätig sind. Dazu gehört insbesondere die Bereitstellung grundlegender öffentlicher Güter, der Gesundheit, des Transports, der Kommunikation sowie die Versorgung mit Energie, Trinkwasser oder Nahrungsmitteln.

Wer bekommt welchen Impfstoff?

Selbst wenn man die Verteilung der Impfstoffe im obigen Sinne geregelt hat, bleiben weitere Fragen offen. Nach derzeitigem Stand wird es nicht nur einen, sondern mehrere Impfstoffe mit unterschiedlichen Wirkmechanismen und Inhaltsbestandteilen geben. Im Rahmen der Schweinegrippepandemie 2009 gab es auch unterschiedliche Impfstoffe, die verschiedene Wirkverstärker (sog. Adjuvantien) enthielten. Während die Impfstoffe, die der Bund damals beschafft hatte, den Ruf genossen, sicherer zu sein, gab es großes Misstrauen gegen die Impfstoffe, die die Bundesländer gekauft hatten. Im Ergebnis mussten schließlich viele teuer beschaffte Medikamente von den Ländern für weiteres Steuergeld entsorgt werden. Um keine erneute Impfverdrossenheit in der Bevölkerung zu provozieren, bedarf es einer sorgsamen gemeinsamen Einkaufs- und Kommunikationsstrategie von Bund und Ländern, die besser zu früh als zu spät beraten werden sollte (näher dazu Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 251 ff.; 368 ff.).


One Comment

  1. Anna Leisner-Egensperger Sat 26 Sep 2020 at 13:10 - Reply

    Liebe Frau Klafki,
    aus verfassungsrechtlicher Sicht ist Ihrem Plädoyer für eine gesetzliche Grundlage zur Impfstoffverteilung nachdrücklich zuzustimmen. Rechtspolitisch fragt sich jedoch: Droht eine breite, medienwirksam geführte gesellschaftliche Debatte zu Priorisierungsregelungen, wie sie eine parlamentarische Entscheidung üblicherweise begleitet, das zarte Pflänzchen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, an das sich auch die Impfbereitschaft rankt, nicht im Keime zu ersticken? Gefährdet nicht jede Verteilungsdebatte jene generationenübergreifende Solidarität, ohne die wir der Pandemie schutzlos ausgeliefert sind? Dass eine solche nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, haben die zahlreichen Partys der letzten Wochen gezeigt. Zwar wird man sich bei der Impfstoffverteilung generationenübergreifend auf den Schutz systemrelevanter Berufe wohl noch einigen können. Doch ist das Tabu einer Berücksichtigung der Restlebenserwartung nicht im Grunde kontraintuitiv? Nachvollziehbar ist es daher, dass die Politik derart sensible Fragen lieber virtuellen Räumen von Expertenkommissionen und dem unauffälligen Verfahren des Verordnungserlasses überlassen will. So dürfte uns die Pandemie unter dem Damoklesschwert explodierender Neuinfektionen eine weitere Entmachtung des Parlaments bescheren, neben dem schon lange beklagten “Bundesverfassungsgerichtspositivismus”: einen exekutivischen Expertenpositivismus.
    herzliche Grüße
    Ihre
    Anna Leisner-Egensperger

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