Wer darf entscheiden, wer als genesen gilt?
Kurzfristig ist im Januar 2022 der Genesenenstatus nach einer COVID-19-Infektion von sechs auf drei Monate verkürzt worden. Den Kanon der politischen Kritik ergänzt nun die dritte Kammer des Verwaltungsgerichtes Osnabrück um eine rechtliche: Mit Beschluss vom 4. Februar 2022 (Az. 3 B 4/22) hält es § 2 Nr. 5 der Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung in der Fassung vom 14. Januar 2022 für verfassungswidrig. Der unzureichend begründete Beschluss des Verwaltungsgerichtes wirft damit ein weiteres, schillerndes Licht auf die gesetzliche Konzeption der Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und die Verkürzung des Genesenenstatus im Januar.
Die Festlegung des Genesenenstatus in Rechtsverordnungen des Bundes
Im Kontext der Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zur Einführung der Bundesnotbremse im April 2021 war offensichtlich geworden, dass die zunehmende Durchimpfung der Bevölkerung Folgen für die infektionsschutzrechtliche Behandlung haben müsse. In § 28c S. 1 IfSG wurde die Bundesregierung eigens ermächtigt, „durch Rechtsverordnung für Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist, [….] Erleichterungen oder Ausnahmen“ von den Bekämpfungsmaßnahmen zu regeln. Eine solche Rechtsverordnung bedarf nach § 28c S. 3 IfSG der Zustimmung von Bundesrat und Bundestag.
Auf Druck des Bundesverfassungsgerichtes erließ die Bundesregierung erstmals Anfang Mai 2021 eine Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung (SchAusnahmV), in der Ausnahmen für geimpfte und genesene Personen von den Beschränkungen des IfSG und den Rechtsverordnungen der Länder festgelegt wurden. Darin enthalten waren unter anderem Festlegungen, welche Personen als „geimpft“ und „genesen“ galten. Als „genesen“ galten gemäß § 2 Nr. 5 SchAusnahmV Personen, deren Infektion (PCR-getestet) mit dem SARS-CoV-2 Virus mindestens 28 Tage und maximal sechs Monate zurückliegt. Die Feststellung der Dauer des Genesenenstatus erfolgte unmittelbar in der Rechtsverordnung.
Wie lange eine Person als geimpft gilt, wird hingegen nicht unmittelbar durch Rechtsverordnung bestimmt. Gemäß § 2 Nr. 2, 3 SchAusnahmV legt bis heute das Paul-Ehrlich-Institut (PAI) im Benehmen mit dem Robert Koch-Institut (RKI) „unter der Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft“ fest, welche und wie viele Impfungen benötigt sind, um den Status einer geimpften Person zu erlangen. Es veröffentlicht dies auf seiner Website.
Die Änderung der Rechtsverordnung im Januar 2022
Am 11. Januar 2022 legte die neue Bundesregierung dem Deutschen Bundestag eine Änderung dieser Rechtsverordnung vor, mit der auch die Definition der genesenen Person in Zukunft dynamisch angepasst wird, „damit auch künftigen Veränderungen stets Rechnung getragen werden kann“ (BT Drs. 20/390, S. 2): „[U]nter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft“ dürfe das RKI auf einer Website festlegen, wer als genesen gilt.
Nach Beratung im Gesundheitsausschuss stimmte der Bundestag am 13. Januar der geänderten Rechtsverordnung mit den Stimmen aller Fraktionen, mit Ausnahme der AfD-Fraktion, zu. In der Debatte kündigte die Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Dittmar (SPD) an, dass der Genesenenstatus in Zukunft auf drei Monate statt bisher sechs Monate begrenzt werde. Der Bundesrat stimmte am 14. Januar mit einstimmigem Beschluss zu. Die Rechtsverordnung wurde umgehend im Bundesanzeiger verkündet und trat am 15. Januar in Kraft.
Die Änderung der Dauer des Genesenenstatus stößt auf Kritik
Mit Wirkung zum 15. Januar veröffentlichte auch das RKI die neuen Vorgaben. Danach gilt der Genesenenstatus für Personen nur noch für einen Zeitraum von drei Monaten, also zwischen dem 28. Tag und dem 90. Tag nach Feststellung der Infektion.
Kritik aus der Politik folgte prompt, der designierte FDP-Generalsekretär stellte gar die Person von Lothar Wieler als Leiter des RKI in Frage. Die Verkürzung des Genesenenstatus ist vom RKI schlecht kommuniziert worden – sie wurde jedoch im Bundestag vorangekündigt, und zwar bevor das Parlament der Änderung der Rechtsverordnung mit breiter Mehrheit, inklusive der FDP, zustimmte.
In ihrer Form ist die von der Bundesregierung gewählte Technik des dynamischen Verweises auf das RKI und dessen Website auch rechtlich zweifelhaft – so sind zum Beispiel die Handlungsform der Veröffentlichung und infolgedessen Rechtsschutzfragen ungeklärt. Auch ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 28. Januar 2022 äußert Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Verkündungsgebot nach Art. 82 Abs. 1 GG, dem Verbot der Subdelegation ohne gesetzliche Grundlage in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG sowie dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot.
Ist das VG Osnabrück zuständig für die Änderung der Rechtsverordnung des Bundes?
Nun hält das VG Osnabrück mit Beschluss vom 4. Februar 2022 die Änderung der Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung im Januar 2022 und die Verkürzung des Status der genesenen Person für verfassungswidrig. Die Pressemitteilung wurde noch am gleichen Tag prominent von der Presse aufgegriffen. Eine öffentliche Bereitstellung der Entscheidung erfolgte dagegen erst am 8. Februar.
Wie gelangte der Sachverhalt vor das VG Osnabrück? Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gem. § 47 VwGO zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ist gegen Rechtsverordnungen des Bundes nicht eröffnet (dazu ausführlich hier, auch zu den Rechtsfolgen im April 2021). Auch unterliegen Rechtsverordnungen nicht dem Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG, das nur für Parlamentsgesetze gilt. Eine rechtswidrige Rechtsverordnung muss von einem Verwaltungsgericht unangewendet bleiben – es hat weder Pflicht noch Möglichkeit zur Vorlage an ein höheres Gericht.
Dem Beschluss des VG Osnabrück liegt der Antrag eines Bürgers aus dem Landkreis Osnabrück zugrunde. Der Antragssteller begehrte nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 im Januar, nach Änderung der Schutzmaßnahmenverordnung, die Ausstellung eines Genesenennachweises für einen Zeitraum von sechs Monaten, also bis Juli 2022. Das Gericht entschied im Einzelfall, das heißt der Beschluss hat keine Rechtsfolgen für die Geltung der Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung über diesen Fall hinaus.
Das VG Osnabrück ging davon aus, dass es sich bei der Ausstellung des Nachweises um einen Verwaltungsakt handle, die Klage sei also eine Verpflichtungsklage (Rn. 7–10). Aufgrund der Eilbedürftigkeit sei aber eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO geboten. Der Antrag hier sei erfolgreich, da er „ganz überwiegende Erfolgsaussichten“ in der Hauptsache habe (Rn. 13). Auf dieser Grundlage verpflichtete das Verwaltungsgericht den Landkreis, dem Antragssteller einen entsprechenden Nachweis mit Geltungsdauer bis Juli 2022 auszustellen.
Formelle Verfassungswidrigkeit in Stichpunkten – materielle Verfassungswidrigkeit in Andeutungen
Pauschal stellt das Gericht fest, dass „die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate durch das Robert-Koch-Institut auf der Grundlage der „Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19“ […] verfassungswidrig“ sei (Rn. 13). Es folge damit der Auffassung des Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (Rn. 16), das jedoch eine entsprechende Verfassungswidrigkeit gar nicht festgestellt hat, sondern lediglich fundierte Zweifel anbrachte.
Diese Zweifel führt das VG Osnabrück in Stichpunkten als Gründe für die formelle Verfassungswidrigkeit des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV an (Rn. 17–20):
- es verstoße gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz aus 20 Abs. 3 GG, da es keine Vorgaben enthalte, wann eine Immunisierung vorliege,
- der dynamische Verweis auf eine Website genüge den Anforderungen des 82 Abs. 1 GG nicht,
- es handle sich um eine verdeckte Subdelegation der Verordnungsbefugnis an das RKI, die 28c IfSG nicht zulasse, und
- der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz aus 20 Abs. 3 GG sei verletzt, „da der Inhalt dieser Internetseite – wie bereits ausgeführt – ohne großen Aufwand und viel schneller als ein Rechtsetzungsverfahren möglich ist“ – gemeint ist wohl die Änderung.
Mit immerhin 193 Wörtern ist dieser letzte Stichpunkt der ausführlichste. Eine Auseinandersetzung mit ober- und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu dynamischen Verweisen, dem Bestimmtheitsgebot und der Subdelegation fehlt jedoch vollständig. Die Regelung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV ist sicher unglücklich. In seinem Beschluss zur Bundesnotbremse hat das Bundesverfassungsgericht aber eine entsprechende gesetzliche Regelung zur Bekanntgabe der regionalen Inzidenzen durch das RKI auf dessen Website (§ 28b Abs. 1 S. 1 und S. 2 IfSG a. F.) für verfassungsmäßig erachtet.
Die Kammer äußert darüber hinaus „durchgreifende Zweifel“ an der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Verkürzung: „Weder der Begründung zur Änderung der SchAusnahmV (BT-Drs. 20/390, S. 10) noch der entsprechenden Seite des RKI ist eine wissenschaftlich überzeugende Begründung für die Dauer der Verkürzung des Genesenenstatus auf 90 Tage zu entnehmen“ (Rn. 21). Den beiden in der Begründung des RKI angeführten Studien stünden „eine Vielzahl von namhaften Stimmen aus Wissenschaft und Praxis“ gegenüber, die eine Verkürzung für überflüssig hielten. „Exemplarisch“ werden Zeitungsinterviews und -berichte angeführt. Diese enthalten zumindest teilweise das Gegenteil des vom Gericht behaupteten: so hält der Präsident der Bundesärztekammer die Kürzung „aus medizinischer Sicht für sinnvoll“, wie in der zitierten Ärztezeitung zu lesen ist.
Das Verwaltungsgericht Osnabrück meint hier, auf Grundlage von Zeitungsberichten die wissenschaftliche Einschätzung des RKI widerlegen zu können. Trotz dessen Einschätzungsprärogative könne die aufgezeigte wissenschaftliche Unsicherheit die Regelung nicht rechtfertigen (Rn. 30). Das ist – vorsichtig gesagt – verfassungsrechtlich zweifelhaft. Die anekdotische Berufung auf wissenschaftliche Unsicherheiten kann keine exekutiven Einschätzungsprärogativen widerlegen. Vielmehr begründet eine unsichere Situation gerade eine Einschätzungsprärogative der Exekutive. Im Gegensatz zur Rechtsprechung hat sie die notwendigen Ressourcen, Fachwissen auszuwerten und in Entscheidungsprozesse einzubinden. Es ist ihre Aufgabe, in unsicheren Situationen Gefahren abzuwehren.((ausführlich Mangold, VVDStRL 80, S. 22–25.))
Das Verwaltungsgericht Osnabrück und das Europarecht
Ergänzend meint das VG Osnabrück, darüber hinaus auch den Vorrang des Unionsrechts anführen zu müssen. Mit Verweis auf den Business Insider führt es aus: „Ebenfalls zu beachten ist, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union kurz nach Inkrafttreten der Änderung der SchAusnahmV auch mit Zustimmung der deutschen Delegation auf eine Anerkennung des Genesenenstatus bei der Einreise innerhalb der Union für sechs Monate geeinigt haben“. Diese Regelung stünde mit § 2 Nr. 5 der geänderten SchAusnahmV im Widerspruch (Rn. 31).
Tatsächlich hat sich der Rat der Europäischen Union am 25. Januar 2022 auf Empfehlungen geeinigt, die einen Genesenenstatus für die Dauer von sechs Monaten beinhalten. Empfehlungen sind aber nach Art. 288 AEUV nicht verbindlich, entfalten also gerade keine Rechtswirkung. Hätte die Kammer nicht nur den Business Insider befragt, sondern sich ins Unionsrecht vorgewagt, wäre ihr dies auch aufgefallen.
Viele unklare Fragen – aber so geht es nicht
Schon ein Blick in das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zeigt, dass die zugrunde liegenden Rechtsfragen der Verfassung wesentlich komplizierter sind als vom Verwaltungsgericht dargestellt. Sie können daher auch in diesem Beitrag nicht beantwortet werden. Festzuhalten bleibt aber, dass auch im einstweiligen Rechtsschutz ein Verwaltungsgericht eine Rechtsverordnung des Bundes nicht pauschal, unter entstellendem Rekurs und ohne weitergehende Begründung als verfassungswidrig verwerfen kann. Dieser Schnellschuss der dritten Kammer des Verwaltungsgerichts Osnabrück unter Mitwirkung ihres Vizepräsidenten, immerhin Honorarprofessor des Rechts an der Leibniz Universität Hannover, ist rechtlich nicht nachvollziehbar.
Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig und der Landkreis wäre gut beraten, Rechtsmittel dagegen einzulegen: Nicht einmal die Anspruchsgrundlage für die Ausstellung des Genesenennachweises vermag die Kammer zu benennen. Die SchAusnahmV enthält zumindest keine. Der Anspruchssteller hat hingegen nach Art. 7 der Verordnung über das digitale COVID-Zertifikat der EU einen Anspruch auf Ausstellung eines digitalen Genesenennachweises bis Mitte Mai, selbst wenn die Änderung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV rechtswidrig wäre. Also eigentlich genug Zeit für das Verwaltungsgericht, die Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung in Ruhe zu überprüfen.
Die Änderung der SchAusnahmV durch die Bundesregierung führt, wie sich gezeigt hat, zu einer großen Rechtsunsicherheit: Die Rechts- und Verfassungsmäßigkeit des dynamischen Verweises in § 2 Nr. 5 SchAusnahmV auf die Website des RKI ist alles andere als eindeutig. Dasselbe gilt für die Festlegung der Voraussetzungen des Impfstatus in § 2 Nr. 2, 3 SchAusnahmV. Zur Klärung bedarf es einer ausführlichen Diskussion in Wissenschaft und Praxis.
Der Fehler liegt aber nicht beim RKI. Er ist schon im IfSG angelegt: Gemäß § 28c S. 3 IfSG ist zum Erlass und zur Änderung der SchAusnahmV durch die Bundesregierung eine Zustimmung von Bundesrat und Bundestag notwendig. Die Rechtsverordnung ist als flexible Rechtsetzungsform konzipiert, die auf eine Veränderung der zugrunde liegenden Bedingungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse schnell reagieren kann. Knüpft man die Erlassermächtigung aber an die Zustimmung des Bundestags und Bundesrats, verliert man ihren Flexibilitätsvorteil. Der dynamische Verweis, den die Bundesregierung in § 2 Nr. 5 SchAusnahmV eingeführt hat, versucht dies zu umgehen. Zur Beseitigung des Problems wäre eine Änderung des § 28c IfSG und eine Streichung der Zustimmungserfordernisse sinnvoll. Dann könnte die Bundesregierung die Verordnung der dynamischen Entwicklung entsprechend rechtssicher anpassen.
Lieber Herr Gallon,
Sie schreiben, dass “die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gem. § 47 VwGO zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit […] gegen Rechtsverordnungen des Bundes nicht eröffnet” sei. So frage ich mich allerdings, ob es nicht tatsächlich möglich wäre, an das zuständige Oberverwaltungsgericht dennoch einen Normenkontrollantrag zu richten, da schließlich die Länder durch die Verweisungen in den jeweiligen CoronaVerordnungen die Regelungen für anwendbar erklären. Insofern wäre doch ein Normenkontrollantrag beim zuständigen Oberverwaltungsgericht wegen Außerkraftsetzen der jeweiligen Verweisungsnorm in der CoronaVerordnung des Landes möglich?
Sehr geehrter Herr Gallon,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Hinsichtlich der materiell-rechtlichen Bewertung finde ich es einigermaßen befremdlich, wenn sich nun Teile der Rechtswissenschaft nun dazu genötigt sehen, staatliche Maßnahmen zu verteidigen und nicht kritisch zu hinterfragen. Die Begründung des VG Osnabrück mag kritikwürdig sein – ja. Die wichtigere Frage ist jedoch, ob sie im Ergebnis falsch ist.
Herr Lauterbach begründet die Herabsetzung auf 3 Monate insbesondere damit, weil der Schutz vor Infektionen nicht länger halte…
Ein kleiner Gegencheck mit der Wirklichkeit und den verfügbaren Daten zeigt jedoch, dass eine (symptomatische) Infektion mit Omicron selbst z.B. einen Monat nach dem Booster möglich ist. Abgesehen davon ist es ein völlig unbrauchbares Kriterium auf die bloße Infektion abzustellen, da lediglich die schwere Erkankung relevant ist. Da läuft der Schutz mitnichten nach drei Monaten ab.
Und abschließend: Das neue Zauberwort “Einschätzungsprärogative” kann weder der Sargnagel einer jeden Grundrechtsprüfung, noch eine konsistente Entscheidung des Verordnungs-Gesetzgebers ersetzen. Einem Genesenenstatus von sechs Monaten auf EU-Ebene zuzustimmen um dann trotzdem drei Monate als Maßstab heranzuziehen ist schlicht absurd.
Ich bin jedenfalls mal gespannt, was künftig in den Universitäten unterrichtet wird. Bei Verordnungen wird man wohl künftig auf eine Ermessensprüfung verzichten, wenn man die jetzigen Maßstäbe beibehalten möchte.
Vielen Dank für die kluge Kommentierung. Den Landkreis zu verurteilen, Zertifikate zu erteilen geht gar nicht; er ist für Erstellung und Ausgabe nicht zuständig. Das VG Osnabrück unterscheidet nicht nicht zwischen dem Status “Geimpft” oder “Genesen” und dem Nachweis dieses Status mit einem Zertifikat. Wenn es um die Zertifikatausstellung ginge, müßte derjenige in Anspruch genommen werden, gegen den sich der Anspruch richtet. Das ist gem. §§ 22 Abs. 5, 6 IfSG das RKI. Vielleicht könnte man in einem Rechtstreit mit diesem klären, welche die Gültigkeitsdauer des Genesenenzertifikats ausgewiesen werden soll. Für den EU-Reisverkehr sind das ohnehin 18 tage, die 90 Tage betreffen nur das Inland.
Als eigentlich stiller Mitleser und Unterstützer des Verfassungsblogs kann ich mir ausnahmsweise ein paar Anmerkungen nicht verkneifen. Zunächst: Der Blogbeitrag spricht viele richtige Punkte an, u.a. wenn er auf die Komplexität der zu beantwortenden Rechtsfragen verweist. Vielen Dank dafür! Wer aber einen “nicht nachvollziehbaren Schnellschuss” zu erkennen meint, sollte den Staub, den solche apodiktischen Formulierungen aufwirbeln, auch einigermaßen wieder zu bändigen wissen.
Hier bleibt der Beitrag m.E. ziemlich dünn:
Anders als – vielleicht unbeabsichtigt – suggeriert, ist das BVerfG in seinem Beschluss zur Bundesnotbremse überhaupt nicht auf dynamische Verweisungen eingegangen. Dass diese aber rechtsstaatlich problematisch sind, ist kein abwegiger Gedanke (vgl. BayVGH Beschl. v. 28.7.2020 – 20 NE 20.1609: “Die Verweisung […] auf die ‘Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts (RKI)’ ist mit dem Publizitätsgebot aus Art. 20 Abs. GG nicht vereinbar”).
Auf die weiteren vom VG für die formelle Rechtswidrigkeit der VO angeführten Gründe (z.B. verdeckte Subdelegation der Verordnungsbefugnis) geht der Autor überhaupt nicht ein. Argumente, die die Auffassung des VG entkräften könnten, sucht man leider vergeblich.
Der Satz “Festzuhalten bleibt aber, dass auch im einstweiligen Rechtsschutz ein Verwaltungsgericht eine Rechtsverordnung des Bundes nicht […] als verfassungswidrig verwerfen kann.” lässt die Leser:innen ratlos zurück. Erstens ist das VG nicht etwa im Tenor, sondern lediglich in den Entscheidungsgründen im Rahmen einer Inzidenzprüfung zu dem Schluss gekommen, dass die VO verfassungswidrig ist. Zweitens ist das VG zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des anzuwendenden Rechts verpflichtet. Drittens hat der Autor in einem früheren Beitrag, soweit ich mich recht erinnere, selbst zutreffend festgestellt, dass Rechtsschutz gegen eine VO des Bundes im Wege der inzidenten Überprüfung vor den Verwaltungsgerichten erfolgt. Wieso sollte dieser Fall hier anders gelagert sein?
Soweit der Autor dem Landkreis rät, “Rechtsmittel dagegen einzulegen”, kann man nur hoffen, dass der Landkreis gute Prozessvertreter:innen hat. Im obigen Beitrag habe ich nichts gelesen, was einer Beschwerde gemäß § 146 VwGO zum Erfolg verhelfen würde. Bei – wie im vorliegenden Beschluss – mehreren selbständig tragenden Begründungen kann die Beschwerde nur dann Erfolg haben, wenn sie jeden dieser Gründe in Frage stellt (st. Rspr., vgl. OVG NW NVwZ-RR 2004, 706). Auch wenn man einige Punkte im Beschluss – zu Recht (!) – kritisieren mag, änderte sich der Ausgang des Verfahrens auch dann nicht, wenn das VG etwa auf seine zweifelhaften Ausführungen zum Unionsrecht verzichtet hätte.
Für gänzlich unangebracht halte ich den schrägen Hinweis ad hominem auf die Mitwirkung des VPräsVG, der “immerhin Honorarprofessor des Rechts an der Leibniz Universität Hannover” sei. Mit einer Replik, die zum Inhalt hat, dass der Autor diesen Blogbeitrags ja “immerhin über das erste Staatsexamen verfügt”, wäre der Verfasser sicher auch nicht sehr glücklich.