27 February 2014

Wer hat Angst vor Franken und Rentnern? Wie Karlsruhe den europäischen Wähler stärkt

Die Vorstellung, dass Franken und Rentner – und, ja, wohl auch Rechtsextreme – bald für Deutschland eigene Vertreter ins Europäische Parlament entsenden könnten, muss etwas sehr Beunruhigendes in sich tragen. Anders sind die Reaktionen auf die Karlsruher Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der 3%-Klausel im Europawahlrecht kaum zu erklären.

Das Unbehagen hat verschiedene Gründe. Zum einen richtet es sich auf die Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber und seiner (konkret in Streit stehenden) Einschätzungsprärogative. Dies ist kein neues, auf diese Entscheidung beschränktes Argument, sondern gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der geradezu gebetsmühlenartigen Karlsruhe-Kritik.

Zum anderen wird angegriffen, wie das Gericht mit dem Europaparlament und der Gefahr seiner Zersplitterung umgeht, sei es strukturell, sei es in der Gewichtung. Dabei lassen sich die inhaltlich auf die Sperrklausel bezogenen Argumente nicht nur durch ein paar einfache Rechenbeispiele in weiten Teilen widerlegen. Auch den zugrundeliegenden grundsätzlichen Aspekten lässt sich doch im Ergebnis vor allen Dingen eine genauso banale wie wiederkehrende Erkenntnis entgegenhalten: Demokratie ist und bleibt eine anstrengende und manchmal eben eine unbequeme Sache – auch in Europa. Mit diesen Unbequemlichkeiten muss man gleichwohl zu leben lernen.

Im Kern geht es bei dem Streit um die 3%-Klausel im Europawahlrecht um eine einfache Frage: Wie schwerwiegend wird es sich auf die Zersplitterung des Europäischen Parlaments auswirken, wenn die deutsche Sperrklausel aufgehoben wird? Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seiner Bewertung nun zum zweiten Male dem Vorwurf ausgesetzt, es marginalisiere das Europäische Parlament, schwäche sogar die europäische Demokratie. Umso erstaunlicher ist es erneut, inwiefern die Kritiker dabei bestimmte quantitative Parameter ignorieren, welche der bisweilen emotional geführten Debatte zu einem notwendigen Maß an Nüchternheit verhelfen könnten. Abgesehen von der – sehr unterschiedlich beurteilten – Frage, wie sehr das Europaparlament unter den gegenwärtigen institutionellen Bedingungen auf stabile Mehrheitsverhältnisse angewiesen ist – ist seine Stabilität tatsächlich durch einen Wegfall der  Sperrklauseln bedroht?

Nach aktuellen Rechnungen des Bundeswahlleiters wären ohne Sperrklausel bei der letzten Europawahl acht Abgeordnete von sieben Kleinstparteien in das Europaparlament eingezogen. Dass der ödp mit ihrem Stimmenanteil von 0,5% dabei ein Mandat zugefallen wäre, liegt im Übrigen im gesetzlich festgeschriebenen Sitzzuteilungsverfahren  nach Sainte-Laguë/Schepers begründet, das bisher nur unter der Geltung von Sperrklauseln angewandt wurde und dabei tatsächlich zu mathematisch genaueren Ergebnissen kommt. Hier könnte man daran denken, das Verfahren nach Fortfall der Sperrklausel anzupassen. Darüber hinaus beziehen die Berechnungen sich noch auf die bisher geltende Zahl von 99 deutschen Abgeordneten. Durch die Absenkung auf 96 deutsche Abgeordnete ab der nächsten Wahl dürfte sich die Anzahl der entsprechend zu erringenden Splittermandate weiter verringern, so dass vielleicht noch mit sechs oder sieben solcher Parlamentssitze zu rechnen ist. Das entspricht weniger als einem Prozent der Mitglieder des Europaparlaments. Und das soll nun die Mehrheitsbildung des Organs gefährden?

Nun mag man zusätzlich noch auf die Parlamentarier der anderen Mitgliedstaaten schauen und einen vermeintlich deutschen Sonderweg monieren. Droht in diesem Sinne aber etwa ein europaweiter Fall gesetzlicher Sperrklauseln und damit im Ergebnis doch eine Zersplitterung des Europaparlaments? Mitnichten. Ganz abgesehen davon, dass sich derartige gesetzgeberische Änderungen im Moment in keiner Weise abzeichnen, wären ihre Wirkungen auch im Ergebnis ebenfalls nicht fundamental.

Aufgrund der geringen absoluten Zahlen an Mandaten, die den einzelnen Mitgliedstaaten zustehen, ist die faktische Sperrklausel in den meisten Mitgliedstaaten nämlich weit höher als die nun kassierten drei Prozent. In Ländern wie Malta, Luxemburg oder Litauen, die lediglich über 6 Abgeordnete verfügen, bedarf es insofern aus zwingenden mathematischen Gründen (ohne Berücksichtigung von Rundungsverlusten) etwa 16% der Stimmen, um ein Mandat erringen zu können.

Das Problem gesetzlicher Sperrklauseln, die in ihren Anforderungen über faktische  Sperrklauseln hinausgehen, stellt sich insofern ohnehin nur in den großen Mitgliedstaaten. Tatsächlich sind es überhaupt nur sechs Mitglieder (neben Deutschland Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien und Polen), die aufgrund der Anzahl der ihnen zugeordneten Sitze über eine faktische Hürde von unter drei Prozent verfügen. In Spanien gibt es bereits jetzt keine gesetzliche Sperrklausel. Bei der letzten Europawahl hat dies dazu geführt, dass vier Kandidaten von Parteien, die weniger als drei Prozent der Stimmen erhielten, für Spanien in das Europaparlament einzogen, zwei weitere rückten 2011 durch die Erhöhung der Sitzzahl nach. Selbst wenn somit nach Deutschland auch alle anderen betroffenen Ländern die Sperrklauseln abschaffen würden, entstünde unter den jetzigen politischen Bedingungen ein Potential an Splittermandaten in einer Höhe von vielleicht 35 Abgeordneten – also weniger als fünf Prozent der Mitgliederzahl. Dem stehen aber – jedenfalls in Deutschland – etwa zehn Prozent der Wählerstimmen gegenüber, die nach der alten Rechtslage nicht bei der Mandatszuteilung berücksichtigt wurden.

Das Bundesverfassungsgericht macht derartige Rechnungen nicht auf. Das muss es auch nicht. Es zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass Gefährdungen für die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments nicht erkennbar sind. Den etwas schablonenhaften Rekurs auf das hergebrachte Regierungs-Oppositions-Schema ohne grundlegende Auseinandersetzung mit Fragen von Funktionsweise und Bedeutung des Europäischen Parlaments mag man dabei als altbacken und wenig überzeugend kritisieren. Zurecht führt das Gericht aber an, dass „es sich bei Parteien, die auf nationaler Ebene eine kleine Splitterpartei sein mögen, um solche handeln kann, die einer im Europäischen Parlament gut vertretenen Parteienfamilie angehören oder ihr zumindest nahestehen und deren Abgeordnete daher zu einer Zersplitterung, wie sie mit Sperrklauseln abgewehrt werden soll, gar nicht beitragen.“

Vielleicht gibt es in Europa ja noch mehr Tierschützer und Rentner, denen sich die Vertreter deutscher Partikularinteressen näher fühlen als den etablierten deutschen Parteien. Das muss für die Stabilität des Europaparlaments kein Nachteil sein. Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit ist eben die Zersplitterung des Europaparlaments, nicht die Zersplitterung der Gruppe deutscher Europaparlamentarier.

Mit diesen einfachen Rechnungen relativiert sich auf ein Mal die geäußerte Kritik beträchtlich. Die Marginalisierung des Europaparlaments, die dem Bundesverfassungsgericht hier zugeschrieben wird, löst sich bei genauer Betrachtung in Luft auf. Marginalisiert wird nicht die Bedeutung des Europaparlaments, sondern das destabilisierende Potential deutscher Splitterstimmen, die sich in Abgeordnetenmandate verwandeln. Demgegenüber scheint der allgemeine Diskurs schon derart im Zeitalter der großen Koalition verankert zu sein, dass die Vorstellung, Partikularinteressen könnten woanders als innerhalb der etablierten Volksparteien vertreten werden, unerträglich wird. Das Misstrauen gegenüber dem Wähler wirkt in diesem Sinne geradezu selbsterklärend. Dabei ist es gerade dieses Misstrauen, das weit größere destabilisierende Wirkungen für die europäische Demokratie zu entfalten vermag als dies dem Karlsruher Urteil je möglich ist. Durch die Abschaffung der Sperrklausel wird die  Demokratie nicht geschwächt – sie offenbart nur stärker ihre Schwächen und Grenzen.

Somit verbleibt ein letztes Argument, das selten so deutlich ausgesprochen wird wie hier von Franz Mayer: die Bündelung deutscher Interessen im Europaparlament, die tatsächlich schwieriger wird, je diversifizierter der parteipolitische Hintergrund der entsprechenden Mandate ist. Unter diesem Aspekt müsste die Bezugsgröße für die Funktionsstörung tatsächlich nicht mehr das Parlament als solches, sondern die Gruppe der in Zukunft 96 deutschen Mandatsträger sein. Sechs oder sieben Mandate fallen hier gleich deutlich mehr ins Gewicht.

Diese Bündelung und Vertretung deutscher Interessen mag insofern europapolitisch von einigem Gewicht sein. Ist sie aber auch ein Belang von Verfassungsrang, der einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen vermag? Wo diese Belange im Grundgesetz verankert sein sollen, ist nicht ohne Weiteres zu erkennen. Konsequenterweise hat das Bundesverfassungsgericht daher die Repräsentation diversifizierter deutscher Interessen über die Repräsentation gebündelter deutscher Interessen gestellt. Damit erkennt es die Rolle und Bedeutung des Europaparlaments, das eben nicht mehr als Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten, sondern als solche der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger konzipiert ist, ausdrücklich an.

Jenseits dieser auf das Europaparlament selbst bezogenen Einwände mag die Karlsruher Entscheidung auch deswegen für Unbehagen sorgen, weil sie die Frage aufwirft, inwiefern sich vor diesem Hintergrund die so liebgewonnene 5%-Klausel im Bundestagswahlrecht noch wird halten lassen. Auch wenn das Gericht diese Frage ausdrücklich offen lässt, finden sich doch einige Sätze in der aktuellen Entscheidung, die in dieser Hinsicht aufhorchen lassen. Man wird abwarten müssen, wie sich Karlsruhe hier unter den Eindrücken der letzten Bundestagswahl positionieren wird. Bis dahin heißt es: Ruhe bewahren. Und die Angst vor dem Wähler nicht überhand nehmen lassen.


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  1. AX Fri 28 Feb 2014 at 12:57 - Reply

    Vielen Dank für diesen fundierten und unaufgeregten Beitrag!

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