01 October 2021

Wettstreit und Algorithmus

In den USA sind Wahlen (wie auch Gerichtsverfahren) in erster Linie Wettstreit: Es geht darum, wer gewinnt. Wie bei einem Rennen, einem Boxkampf oder einem Fußballspiel starten alle als Gleiche, und von dem Verfahren wird erwartet, dass es sie unterscheidet und in Sieger und Verlierer sortiert. Das ist das Entscheidende, und wenn es in der Hitze des Kampfes auch mal zu Fouls kommt, die der Schiedsrichter nicht gesehen hat, ist das ist nicht notwendig gleich ein Grund, gleich das Ergebnis anzuzweifeln.

In Deutschland sind Wahlen dagegen in erster Linie Algorithmus: Die individuellen Bürger_innenstimmen sind die Daten, und die demokratisch legitimierte Staatsgewalt als Objekt und das Staatsvolk als Subjekt des Wahlakts sind nach Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz der Output. Ermittelt wird kein Sieger, sondern eine Zusammensetzung des Bundestags. Und wenn es bei diesem Rechenvorgang nicht korrekt zugeht, dann kann das definitiv ein Grund sein, das Ergebnis anzuzweifeln.

Natürlich sind Wahlen, hüben wie drüben, immer beides zugleich. Auch in den USA generiert die Wahl aus Millionen einzelner Stimmen den Output einer bestimmten Machtallokation, und seit Jahren behauptet die eine Hälfte der Bevölkerung in gutem oder im bösen Glauben mit wachsender Begeisterung, die andere würden diesen Algorithmus zu ihren Gunsten manipulieren, um sogleich als angebliche Gegenreaktion auf die krasseste Weise ebendies selber zu tun. Auch in Deutschland ist es nunmal so, dass  der eine gewonnen und der andere verloren hat, weshalb es ein großer Teil der Öffentlichkeit vollkommen plausibel findet, dass der eine mit einem guten Viertel Stimmenanteil einen “Regierungsauftrag” besitzt und der andere mit einem knappen Viertel nicht, obwohl der eine wie der andere mit den gleichen Koalitionspartnern die einzig maßgebliche Hürde überspringen würde, die das Grundgesetz kennt, nämlich die der Kanzlermehrheit im Bundestag.

Eine Wahl als Wettstreit braucht eine Ziellinie. Das macht es so heikel, Verfahrensfehler nachträglich korrigieren oder auch nur die Forderung danach zu erheben. Wenn die Erwartung an die Wahl ist, dass sie Sieger von Verlierern scheidet, dann ist jeder Tag, den sie dies nicht leistet, ein Versagen. Dann schwächt es die Wahl und stärkt sie nicht, wenn man allzu penibel auf prozeduraler Korrektheit besteht. Mag sein, dass George W. Bush in Florida weniger Stimmen hatte als Al Gore, aber Präsident der Vereinigten Staaten war er am Ende hal<t trotzdem, und wem im Gegensatz zu Donald Trump am Funktionieren der Demokratie gelegen ist, hat irgendwann aufzuhören, das weiter in Zweifel zu ziehen.

Das schlägt sich auch im deutschen Wahlprüfungsrecht nieder. Das macht es allen, die sich bei einer Bundestagswahl ausgetrickst, ausgegrenzt und übervorteilt fühlen, notorisch schwer, sich Gerechtigkeit zu verschaffen. Das Grundgesetz schiebt die Prüfung von Einwänden erst mal dem Bundestag zu, der somit gewissermaßen über seine eigene Legitimation zu Gericht sitzt. Gegen dessen Entscheidung kann man hinterher noch vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Bis man dort schließlich (fast immer negativen) Bescheid bekommt, ist die Legislaturperiode nicht selten ohnehin schon durch. Damit der Einwand überhaupt als begründet gelten kann, muss der Wahlfehler sich auf die Zusammensetzung des gewählten Parlaments ausgewirkt haben, so dass sich insoweit die einzelne Grundrechtsträger_in ihr mit Füßen getretenes Wahlrecht aus Art. 38 Grundgesetz schlicht an den Hut stecken kann, sofern sie tatsächlich nur ein Einzelfall bleibt. Seit 2012 kann sie immerhin die Verletzung ihres individuellen Rechts verfassungsgerichtlich festgestellt bekommen, was ja auch schon mal was ist. Aber an der Wahl als solcher zu rütteln, bleibt im Normalfall eine allenfalls theoretische Option, und dafür gibt es gute Gründe.

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Was am letzten Wahlsonntag in der Bundeshauptstadt Berlin passiert ist, betraf offenbar vor allem die Wahl zum Abgeordnetenhaus des Landes Berlin, nicht die Bundestagswahl. Mit einigen Tagen Verspätung ist im Verlauf der letzten Woche die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs in ganz Deutschland mit aller Wucht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. (Wir haben dabei eine gewisse Rolle gespielt, dazu unten mehr.) In Berlin ist die Lage insofern etwas anders als im Bund, als das Wahlprüfungsverfahren nur eine Stufe hat und nicht zwei: Wahlfehler rügt man direkt beim Berliner Verfassungsgerichtshof, was das Verfahren schon mal beschleunigt.

Ob und in welchen Bezirken diese Wahlfehler sich in der Zusammensetzung des Berliner Landesparlaments niedergeschlagen haben, wird sich jetzt zeigen müssen. Im Moment wird dort, wo die Erststimmenergebnisse nah beieinander liegen, neu ausgezählt; in einem Bezirk hat das schon dazu geführt, dass der Bezirk doch an die Grünen geht statt an die SPD. Aber das ist vergleichsweise normales Geschäft – und vor allem hat das noch nichts mit dem eigentlichen Skandal dieser Wahl zu tun, nämlich dass Bürger_innen in nicht geringer Zahl aufgrund des Versagens der Berliner Stadtverwaltung von vornherein an der Ausübung ihres Wahlrechts gehindert worden sind. Stimmen, die nie abgegeben worden sind, weil Wähler_innen im Wahllokal vor verschlossenen Türen standen, tauchen auch bei noch so gründlicher Neuauszählung nicht mehr auf. Stimmen, die ungültig sind, weil Wähler_innen der Stimmzettel eines anderen Bezirks ausgehändigt wurde, bleiben ungültig, egal wie oft man sie zählt.

Diese um ihre Stimmen gebrachten Wähler_innen können aber vermutlich gar nichts machen. In § 40 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof Berlin ist geregelt, wer in welchen Fällen die Wahl anfechten kann. Hätten sie keinen Wahlschein erhalten oder wären sie zu Unrecht aus dem Wählerverzeichnis gestrichen worden, dann könnten sie das (Abs. 2 Nr. 7). Aber sie hatten einen Wahlschein und konnten nur keinen Gebrauch davon machen. Wenn es aber ganz generell um Verletzungen von Verfassungs- und Gesetzesrecht geht, dann sind nach § 40 Abs. 3 Nr. 3 BerlVerfGHG neben den beteiligten Parteien nur die Senatsverwaltung für Inneres, Landes- und Bezirkswahlleiter und die Präsident_innen von Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen zum Einspruch befugt.

Ich würde es für richtig halten, wenn der Innensenator den Vorgang an sich zieht und nach einer gründlichen Sammlung und Dokumentation aller Vorkommnisse und Fälle selbst beim Verfassungsgerichtshof beantragt, dass die Wahl in den betroffenen Bezirken wiederholt wird, auf dass kein Zweifel mehr daran besteht, dass man in Berlin als Bürger_in dieses Staates im Rahmen freier, gleicher und allgemeiner Wahlen seine fundamentalsten politischen Partizipationsrechte ausüben kann. Hier steht nicht nur das Stimmergebnis für diese oder jene Partei oder Kandidat_in in Frage, sondern die Tauglichkeit des Algorithmus, mit dem der Wille des Berliner Staatsvolks ermittelt wird. Hier droht die Verfassung Schaden zu nehmen. Diese Gefahr abzuwehren, fällt doch wohl zweifelsfrei in den Aufgabenbereich des Innensenators, wenn ich mich nicht irre. Auch in Berlin.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Dass das Staatsversagen bei der Wahl am Sonntag in Berlin so nicht stehen bleiben kann, habe ich bereits am Montag aufgeschrieben.

Am Dienstag schickte mir CHRISTIAN WALDHOFF seinen Erlebnisbericht als Wahlhelfer im Wahllokal 110 in der Papageno-Grundschule in Berlin-Mitte, aus der Perspektive sowohl des Verfassungsgerichtsprofessors an der Humboldt-Universität als auch des Bürgers dieses demokratischen Gemeinwesens und in beiderlei Hinsicht gleichermaßen fassungslos. Sein Bericht und seine Forderung, die Berliner Landeswahlleiterin müsse ihren Posten räumen, haben für enormes Aufsehen gesorgt und wurden überall in der regionalen und überregionalen Presse zitiert. Und siehe da, am nächsten Tag war die Landeswahlleiterin zurückgetreten. Verfassungsblog wirkt nicht immer, aber manchmal halt schon.

Die verfassunggebende Versammlung in Chile hat am 28. und 29. September 2021 die grundsätzlichen Verfahrensregeln ihrer Arbeit verabschiedet. SVENJA BONNECKE zeigt auf, dass der politische und sozialökonomische Kontext einen erheblichen Einfluss auf die Arbeit ihrer Mitglieder seit Mai 2021 hat. Gleichzeitig erhebt die Versammlung gewisse Machtansprüche im aktuellen politischen Diskurs.

Im Juli ist in Deutschland zwischen mehreren Autoren/Meinungsmachern eine Debatte darüber entbrannt, wer “jüdisch” ist. Was dabei leicht untergeht, ist die Frage, warum das jüdische Recht auf die matrilineare Abstammung solches Gewicht legt, und insbesondere die besondere Art und Weise, wie es Mutterschaft konstruiert. REUT YAEL PAZ beleuchtet diesen blinden Fleck.

Am 16. September 2021 hat Facebook aufrund von “koordinierter sozialer Schädigung” mehr als 150 Seiten und Gruppen gesperrt, die von Personen mit Verbindungen in die Querdenken-Bewegung in Deutschland betrieben wurden. Als Rechtsgrundlage existerieren für die Entfernung lediglich die Gemeinschaftsstandards von Facebook. AMÉLIE HELDT kritisiert die bisherige Moderation von Inhalten.

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Ihr

Max Steinbeis


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