Wie europäisch wird deutsches Polizeirecht?
Wie über das Datenschutzrecht die Europäisierung des Polizeirechts betrieben wird
Das europäische Polizeirecht befindet sich inmitten eines Paradigmenwechsels. Während das Europarecht zunächst noch primär auf Polizeikooperation ausgerichtet war, lässt sich inzwischen eine zunehmende Vereinheitlichung des mitgliedstaatlichen Sicherheitsrechts beobachten. Eine wichtige Triebfeder dieser Dynamik ist die europäische Regelungskompetenz für das Datenschutzrecht, wie zuletzt etwa der Kommissionsvorschlag vom 21. April 2021 zur Regulierung künstlicher Intelligenz zeigt. Nicht nur für den Grundrechtsschutz hat diese Entwicklung weitreichende Folgen. Auch auf politischer Ebene ist mit Gegenwind der Mitgliedstaaten gegenüber der fortschreitenden Harmonierung des innerstaatlichen Sicherheitsrechts zu rechnen.
Datenschutz als Kompetenzsog
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen vollwertiger Bestandteil der EU. Ziele, Grundsätze und den institutionellen Rahmen für diese Zusammenarbeit in der EU enthält seither der Vertrag über die Europäische Union (EUV). Inzwischen ist im Primärrecht zu einigen ausgewählten Themen des Rechts der Inneren Sicherheit der Mitgliedstaaten ausdrücklich eine Harmonisierung in Form von Mindeststandards vorgesehen, zum Beispiel bei der Zulassung von Beweismitteln, bei den Individualrechten im Strafverfahren und beim Opferschutz, Art. 82 Abs. 2 AEUV, sowie bei der Festlegung von Minimumstandards bei Straftaten „in Bereichen besonders schwerer Kriminalität“, Art. 83 Abs. 1 AEUV. Die EU kann die nationale Kriminalprävention fördern, ohne jedoch harmonisieren zu dürfen, Art. 84 AEUV.
Ein regelrechter Kompetenzsog der EU im Bereich des mitgliedstaatlichen Sicherheitsrechts wird jedoch inzwischen unter Bezugnahme auf eine ganz andere EU-Regelungskompetenz ausgelöst: Es handelt sich hierbei um die Regelungskompetenz für das Datenschutzrecht, Art. 16 Abs. 2 AEUV (Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und über den freien Datenverkehr).
Künstliche Intelligenz in der Polizeiarbeit
Hierauf gestützt hat die EU-Kommission am 21. April 2021 einen Vorschlag für eine Verordnung zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Gesetze im Bereich des Einsatzes künstlicher Intelligenz (COM (2021) 206 final) vorgelegt. Dieser sieht auch Regelungen zum Einsatz der künstlichen Intelligenz durch Strafverfolgungsbehörden und Polizeien vor. Dieser Verordnungsvorschlag enthält grundsätzlich Einschränkungen zur Verwendung von Systemen zur „biometrischen Fernidentifizierung“ von Personen, z.B. zur Gesichts- oder Stimmerkennung. So soll die Verwendung einer Echtzeit-Erkennung an öffentlichen Orten – bis auf wenige Ausnahmen – verboten sein. Für die Abwehr erheblicher Gefahren oder die Verfolgung schwerer Straftaten sind hingegen Ausnahmen zugelassen, z.B. für die gezielte Suche nach bestimmten potenziellen Opfern von Straftaten, einschließlich vermissten Kindern; für die Verhinderung bestimmter, erheblicher, unmittelbar bevorstehender Gefahren für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, oder eines Terroranschlags; für die Aufdeckung, Lokalisierung, Identifizierung oder Verfolgung eines Täters oder Verdächtigen einer schweren Straftat. Der Einsatz bedarf zudem der vorherigen richterlichen Anordnung, oder der Anordnung einer unabhängigen Verwaltungsbehörde des jeweiligen Mitgliedstaats in welchem die Verwendung stattfinden soll.
In Deutschland war zuvor bereits eine Ermächtigungsgrundlage zum Einsatz von Gesichtserkennungssoftware für die Bundespolizei diskutiert worden. Die Bundespolizei sollte dazu Daten aus Bildaufzeichnungsgeräten “automatisch mit biometrischen Daten abgleichen” dürfen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben weiterverarbeitet oder für die sie eine Berechtigung zum Abruf hat, jedoch nur, “soweit es sich um Daten von Menschen handelt, die ausgeschrieben sind“. Im aktuellen Gesetzesentwurf zum BPolG wird darauf zunächst wieder verzichtet. Vereinzelt enthalten Landespolizeigesetze Vorschriften zur intelligenten Videoüberwachung und zum intelligenten Datenabgleich (Überblick dazu bei Golla in diesem Blog).
Schon die Datenschutzrichtlinie für Strafverfolgungsbehörden und Polizei, RL (EU) 2016/680 (DSRL-JI), die nunmehr von einer Verordnung (COM (2021) 206 final) zur künstlichen Intelligenz ergänzt werden soll, zwang die Mitgliedstaaten zu einer Teilharmonisierung des Sicherheitsrechts. Zahlreiche Gesetze waren bzw. sind in Deutschland deshalb noch anzupassen (z.B. BAKG, BDSG, StPO, BPolG usw. und unzählige Gesetze in den Bundesländern, insbesondere auch die jeweiligen Landespolizeigesetze, wie z.B. HmbPolDVG).
Wider die mitgliedstaatliche Souveränität?
Auch wenn – anders als etwa bei der DS-GVO – noch bei der DSRL-JI vergleichsweise wenig davon in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde: Dass die EU diese Teilharmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts auf die EU-Regelungskompetenz im Datenschutzrecht, Art. 16 Abs. 2 AEUV, stützen darf, ist nicht unwidersprochen. Kritiker verweisen auf einen bloßen Annexcharakter des Datenschutzrechts. Die EU dürfe nur dann Gesetze über den Schutz natürlicher Personen bei der mitgliedstaatlichen Verarbeitung der benötigten personenbezogenen Daten erlassen, wenn auch der Bereich, für den Daten verarbeitet werden, dem Unionsrecht unterfällt. Wer den bereichsspezifischen Datenschutz im Polizeirecht regle, regle auch das Polizeirecht, denn das bereichsspezifische Datenschutzrecht sei vom Fachrecht inzwischen gar nicht mehr zu trennen.((So schon Rogall-Grothe, ZRP 2012, S. 193 ff.)) Unter Berufung auf das Datenschutzrecht erfolge eine Teilharmonisierung in dem Bereich der Inneren Sicherheit (Polizeirecht, Strafrecht), einem Bereich, der grundsätzlich der mitgliedstaatlichen Souveränität unterliege.((Zum Ganzen: Schwabenbauer, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 6. Auflage 2018, G., Rn. 355 ff.)) Laut BVerfG-Urteil zum Vertrag von Lissabon ist bei einer europäischen Integration im Bereich Strafrecht und Polizeirecht „die Wahrung eines gehaltvollen nationalen Grundrechtsschutzes“ als „verfassungsänderungsfeste Integrationsschranke“ zu beachten. Beide Rechtsgebiete gehörten zum Wesenskern staatlicher Souveränität, denn Strafen und sicherheitsbehördliche Zwangsmaßnahmen betreffen das Grundverhältnis von Staat und Bürger. Strafrecht und Polizeirecht zählten im Kern zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland. Den EU-Mitgliedstaaten müsse deshalb laut dem BVerfG: „ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ bleiben.
Der Deutsche Bundesrat hatte gegen den Richtlinienvorschlag für die DSRL-JI – seinerzeit wenig beachtet – Subsidiaritätsrüge nach Art. 69 AEUV erhoben, u.a. mit folgender Begründung:
„Soweit der Richtlinienvorschlag auch die rein innerstaatliche polizeiliche Datenverarbeitung in den Anwendungsbereich einbezieht, lehnt der Bundesrat den Vorschlag ab, da er von den vertraglichen Grundlagen nicht gedeckt ist. Der Kompetenzrahmen des Artikels 16 Absatz 2 AEUV wird im polizeilichen Bereich durch Artikel 87 AEUV konkretisiert. Danach ist nur die Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatlichen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden erfasst. Artikel 87 Absatz 1 AEUV vermittelt insofern keine Kompetenz zur Regelung von Sachverhalten, die ausschließlich die Tätigkeit dieser Behörden innerhalb eines Mitgliedstaats und damit keine Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten betreffen.“
Daneben hatten noch der schwedische Reichstag, das belgische Repräsentantenhaus, das italienische Abgeordnetenhaus sowie der französische Senat von der Befugnis zur Erhebung der Subsidiaritätsrüge Gebrauch gemacht. Das für eine Überprüfung gem. Art. 7 Abs. 2 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erforderliche Quorum wurde jedoch nicht erreicht.
Trotz der Feststellung einer „verfassungsfesten Integrationsschranke“ durch das BVerfG und der Verankerung des Ordre-public-Vorbehalts (Art. 72 AEUV) im Primärrecht der EU, erfolgt also eine Europäisierung im Bereich des Rechts der inneren Sicherheit der Mitgliedstaaten:((Dazu ausführlich Pfeffer, in: Eisenmenger/Pfeffer (Hrsg.), Handbuch des Hamburger Polizei- und Ordnungsrechts für Studium und Praxis, 2020, Rn. 9 ff.)) Dies gilt insbesondere für die Europäisierung des Datenerhebungs- und -verarbeitungsrechts für mitgliedstaatliche Strafverfolgungsbehörden und die Polizei durch die DSRL-JI und könnte sich in naher Zukunft bei der europäischen Regulierung des Einsatzes künstlicher Intelligenz im Bereich der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung (COM (2021) 206 final) fortsetzen.
Grundrechtsschutz und Gegenwind
In den harmonisierten Bereichen des Sicherheitsrechts hat diese Entwicklung weitreichende Folgen für die Geltung der Unionsgrundrechte, wobei zwischen teil- und vollharmonisierten Bereichen zu unterscheiden ist:
Die durch die Umsetzung von Richtlinien geschaffenen mitgliedstaatlichen Normen und die hierauf beruhenden Maßnahmen der Mitgliedstaaten werden – zumindest teilweise – auch an den Unionsgrundrechten zu messen sein (regelmäßig Teilharmonisierung). Der EuGH legt hier die grundrechtlichen Schutzgehalte fest.((So bereits Becker/Hornung, ZD 2012, S. 147, 149.)) Für den Bereich des vollharmonisierten mitgliedstaatlichen Rechts, wie etwa in Teilbereichen des Datenschutzrechts der DS-GVO, hat sich das BVerfG im Jahr 2019 mit seiner Entscheidung „Recht auf Vergessen II“ bereits neu positioniert: Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind nunmehr nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Das BVerfG greift deshalb bei der grundrechtlichen Überprüfung der Rechtsanwendung durch die deutsche Gewalt im Bereich DS-GVO auf die Grundrechte-Charta zurück.((Dazu Kühling, NJW 2020, S. 227 ff.)) Andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte verfahren bereits ähnlich.((Verfassungsgerichtliche Prüfung anhand der Grundrechte-Charta durch ÖstVerfGH, Erkenntnis v. 14.03.2012 – U 466/11 ua ECLI:AT:VFGH:2012:U466.2011, sub. 5.5; BelgVerfGH Entsch. v. 15.03.2018 – 29/2018, B 9, B 10.5, B 15 ff.; Conseil Constitutionnel, Urt. v. 26.7.2018 – 2018-768 DC Rn. 10, 12, 38; Corte costituzionale, Entsch. v. 23.1.2019 – 20/2019 ECLI:IT:COST:2019:20 Rn. 2.1, 2.3.)) Unionsgrundrechte erfassen hier also einen besonders sensiblen Regelungsbereich, insbesondere mitgliedstaatliches Polizeirecht, d.h. gerade den Bereich, der regelmäßig als Prüfstein der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere des Grundrechtsschutzes eines Mitgliedstaates gilt.((So bereits Becker/Hornung [Fn. 4]))
Ob die geplante europäische Regulierung des Einsatzes künstlicher Intelligenz für die Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten (COM (2021) 206 final) die Debatte um die Gesetzgebungszuständigkeit der EU für den Bereich der Inneren Sicherheit wieder aufflammen lässt, bleibt abzuwarten. Vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen an das Recht der Inneren Sicherheit deutet inzwischen einiges auf eine höhere Sensibilität der Mitgliedstaaten in Sachen Zuständigkeit der EU für Regelungen von Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit hin: So hat die französische Regierung dem EuGH im Frühjahr 2021 eine Einmischung in die “Verfassungsidentität” Frankreichs vorgeworfen als das Gericht französische Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung mit Urteil vom 8. Oktober 2020 für unvereinbar mit der e-Privacy-Richtlinie und der Grundrechtecharta erklärte. Unter Berufung auf die nationale Sicherheit Frankreichs, Art. 4 Abs. 2 EUV, forderte die französische Regierung den Conseil d’Etat auf zu prüfen, ob Frankreich an eine Entscheidung des EuGH überhaupt gebunden ist. Der Conseil d’Etat erklärte sich mit Entscheidung vom 21. April 2021 für unzuständig, diese Frage zu prüfen (dazu Vallée/Genevoix in diesem Blog).
Möglicherweise ist bei der europäischen Regulierung des Einsatzes künstlicher Intelligenz durch Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden in den Mitgliedstaaten (COM (2021) 206 final) diesmal mit einem deutlicheren Gegenwind der Mitgliedstaaten gegen eine Harmonierung des innerstaatlichen Sicherheitsrechts zu rechnen als noch bei der DSRL-JI. Die Verabschiedung der Verordnung dazu dürfte noch einige Monate in Anspruch nehmen.
Vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten Entwicklungen erscheint eine neue Debatte über Ausmaß und Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit der EU im Bereich des mitgliedstaatlichen Rechts der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden jedenfalls geboten.