Will Karlsruhe dem deutschen Föderalismus eine Adrenalinspritze setzen?
Föderale Systeme sind streitanfällig. Soll das allgemein Vernünftige sich durchsetzen oder das regional Besondere? Es ist kennzeichnend für föderale Systeme, dass das am Ende in der Schwebe bleibt und nicht ein für allemal geklärt wird. Das Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie wird nicht zur einen oder anderen Seite hin aufgelöst und durchhierarchisiert, es bleibt bestehen und lässt die Verfassungsordnung nicht zur Ruhe kommen, spornt sie an zu großen justiziellen Leistungen wie Brown vs Board of Education, Costa/ENEL oder Solange I und II, findet vielleicht vorläufig zu einer mehr oder weniger prekären Balance in verfassungsrechtlichen Formeln wie “Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse” oder “Subsidiarität”, aber nie für lange. Streit und Instabilität ist diesen Systemen gleichsam eingebaut. Und das ist keine schlechte Sache. Das hält sie fit und politisch lebendig.
Vor diesem Hintergrund scheint mir die heutige Senatsentscheidung aus Karlsruhe interessant zu sein. Es geht um ein auf den ersten Blick denkbar peripheres Thema, nämlich die Samstagsarbeit im thüringischen Einzelhandel. Die ist seit 2006 so geregelt, dass Verkäufer_innen in Thüringen zwingend an zwei Samstagen im Monat freibekommen müssen. Zu einem Verfassungsproblem wird dies dadurch, dass es auch ein Bundesgesetz gibt, das dies regelt, und zwar anders: Einmal im Monat kriegen sie frei, und das nur, wenn sie das wollen.
Ein Möbelhändler hatte gegen das thüringische Gesetz geklagt, gestützt vor allem auf das Argument, dass Thüringen gar keine Zuständigkeit dafür besessen habe. Samstagsarbeit sei keine Frage des Ladenschlusses (für die seit der Föderalismusreform 2006 die Länder zuständig wären), sondern des Arbeitsschutzes. Und der sei Sache des Bundes, der von seiner Kompetenz mit § 17 Abs. 4 Ladenschlussgesetz auch Gebrauch gemacht habe.
Stimmt alles, sagt die Mehrheit des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts – und gibt dem Kläger trotzdem Unrecht. Denn dass es eine Regel des Bundes gebe, sei noch kein Beweis, dass es nur diese Regel geben müsse. Der Bund ist für Arbeitsrecht nach Art. 74 Grundgesetz nicht ausschließlich, sondern nur konkurrierend zuständig – das heißt, die Länder dürfen in dem Maße selbst arbeitsrechtliche Regeln erlassen, in dem ihnen der Bund dafür Raum lässt.
Und diesen Raum lässt ihnen nach Meinung der Senatsmehrheit § 17 Abs. 4 Ladenschlussgesetz. Es sei nicht erkennbar, dass diese Norm abschließend gemeint gewesen sei. Dazu bestand bei ihrem Erlass auch gar kein Anlass, weil die Länder ja erst seit 2006 überhaupt eigene Ladenschlussgesetze erlassen können. Aber seit 2006 gebe es eine “umfassend veränderte legislative Situation”, und in der sei das Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung, dass die Bundesregelung abschließend gemeint sei, so verstehen, dass sie eben nicht abschließend gemeint sei. Vielmehr könne man die Bundesregelung auch als bloße “Minimalgarantie” verstehen: einen freien Samstag gibt es schon mal auf jeden Fall, aber wenn ein Land seinen Verkäufer_innen mehr freie Wochenenden verschaffen will, dann bitte sehr.
Drei der acht Senatsmitglieder überzeugt das indessen nicht. Richter Andreas Paulus hat sein Kopfschütteln über diese Gedankenführung seiner Senatskolleg_innen in ein Sondervotum gegossen. Tatsächlich hatte das BVerfG bisher im Zweifel meist eher für den Bund entschieden. 2004 im Urteil über die nachträgliche Sicherungsverwahrung hatte das Gericht nicht das Fehlen einer Ausschluss-, sondern im Gegenteil das Fehlen einer Öffnungsklausel betont, nach dem Motto: Wenn der Bundesgesetzgeber Raum für landesspezifische Regeln hätte lassen wollen, hätte er das klar ins Gesetz geschrieben.
Wieso ist das jetzt plötzlich anders? Woher kommt diese jähe Sympathie für ein Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht zu ein und demselben Regelungsgegenstand?
Paulus warnt davor, dass der Senatsbeschluss
zu einer Vernebelung der Kompetenzregelung des Grundgesetzes nach Sachmaterien
führe, also der vermeintlich sauberen vertikalen Aufteilung nach materiellen Kriterien – Strafprozessrecht Bund, Gefahrenabwehr Länder usw. – die unsere bundesdeutsche Spielart des Föderalismus vor allem dem europäischen Staatenverbund voraushabe, in der unter dem Schlachtruf “Abbau von Handelshemmnissen” alles vergemeinschaftet werden kann, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist.
Das wäre natürlich von grimmiger Ironie, wenn im gleichen Moment, da Dieter Grimm der EU den bundesdeutschen Sachmaterien-Föderalismus als Vorbild empfiehlt, sich das Bundesverfassungsgericht in genau die entgegengesetzte Richtung aufmacht.
Was die Senatsmehrheit zu diesem Kurswechsel bewogen hat (sofern es einer ist und nicht nur ein Ausreißer in einer spezifischen Post-Föderalismusreform-Konstellation), darüber kann man nur spekulieren. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn sie durchaus verfassungspolitische Motive im Sinn gehabt hätte. Vielleicht wollte die Senatsmehrheit tatsächlich die föderale Balance in Deutschland ein bisschen durcheinanderbringen. Mehr Unruhe. Mehr Streit. Mehr Föderalismus!
Tatsächlich scheint die bundesstaatliche Realität in Deutschland eine Adrenalinspritze aus Karlsruhe gut gebrauchen zu können. Die Länder sind als Orte, an denen Politik gemacht wird, so gut wie überhaupt nicht mehr vorhanden, und die Föderalismusreform 2006 hat daran überhaupt nichts geändert. Wenn wir morgen mit einer neuen Verfassung aufwachen würden und aus den Ländern plötzlich Verwaltungsprovinzen des Bundes geworden wären, würde das irgendjemand merken?
Ob die Adrenalinspritze wirkt, steht auf einem anderen Blatt. Dass die Landtage jetzt fieberhaft anfangen, alle möglichen Konkurrenzgesetze zu Bundesregelungen zu erlassen und die jetzt vielleicht eröffneten Gestaltungsspielräume auszuschöpfen, scheint mir eher unwahrscheinlich. Bayern, das vor 2006 mit Edmund Stoiber an der Spitze am meisten Wind für die Revitalisierung der Ländergesetzgebung gemacht hatte, hat bis heute noch nicht einmal ein eigenes Ladenschlussgesetz. Wir sind zwar irre stolz auf unseren Föderalismus, aber am Ende mögen wir es doch lieber schön sauber und ordentlich.
Aber aus Karlsruher Sicht macht der Versuch allemal Sinn. Der US Supreme Court mag zwar in vielerlei Hinsicht kein nachahmenswertes Vorbild abgeben im Augenblick, aber eine Sorge muss er sich jedenfalls nicht machen, nämlich dass ihm die Gelegenheiten zu donnernden Grundsatzentscheidungen ausgehen. Und das liegt maßgeblich daran, dass dort dauernd über die Grenzen und Spielräume der Bundesgesetzgebung gegenüber den Staaten gestritten wird. Früher hatten ja die Grundrechtsträger zuverlässig dafür gesorgt, dass die Republik permanent bang nach Karlsruhe schaut. Aber die muss man sich ja jetzt womöglich mit Luxem- und Straßburg teilen. Um so attraktiver, wenn mehr Kompetenzstreitigkeiten gibt. Über die kommt man auch an manchen dicken politischen Brocken dran.
Mir soll es Recht sein.