Willkürfreiheit und Impfpflicht
Zur Sacksofsky-Gärditz-Debatte über Eingriffsintensität und Selbstverständnis
1. Wie ist die Schwere des Grundrechtseingriffs in die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfpflicht zu bemessen? Das ist der zentrale Streitpunkt in der intensiven Verfassungsblog-Debatte zwischen Ute Sacksofsky (hier und hier) und Klaus Ferdinand Gärditz (hier und hier; s. auch Bull).
Uneins sind sich die beiden vor allem darüber, ob oder in welchem Umfang das Selbstverständnis der betroffenen Grundrechtsträger bei der Bestimmung der Eingriffsintensität einer Impfpflicht zu berücksichtigen ist. Sacksofsky tritt für eine „dem Selbstverständnis der Einzelnen entsprechende Gewichtung der Eingriffsintensität“ ein und folgert daraus, dass die Eingriffsintensität „als äußerst hoch einzustufen“ oder sogar ein „gravierender[er] Eingriff […] kaum denkbar“ sei. Gärditz insistiert demgegenüber auf objektiven Kriterien, um die Eingriffsintensität aus medizinisch und naturwissenschaftlich informierter Sicht zu beurteilen und befürchtet ansonsten ein Abrutschen ins Bodenlose der Subjektivität.
Beide Positionen sind nicht ohne Schwierigkeiten. Während eine zu starke Akzentuierung des Selbstverständnisses Gefahr läuft, dass Gemeinwohlbelange in der Abwägung Idiosynkrasien untergeordnet werden, bliebe bei einer rein „objektiven“ Betrachtungsweise unklar, warum medizinische Zwangseingriffe, wenn sie die Gesundheit fördern, überhaupt mehr als allenfalls geringfügige Beeinträchtigungen sein sollten. Letzteres entspricht jedenfalls nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der das Recht auf körperliche Integrität ein „besondere[s] Gewicht“ hat und etwa eine Zwangsmedikation von Untergebrachten „eine besonders schwerwiegende Form des Eingriffs“ ist (vgl. BVerfGE 128, 282 [Rn. 44] – Zwangsbehandlung [2011]).
Aus unserer Sicht enthalten beide Positionen zutreffende Einsichten, zwischen denen sich praktische Konkordanz herstellen lässt: Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung haben zwar stets ein hohes Ausgangsgewicht, weil dem subjektiven Selbstverständnis Rechnung zu tragen ist. Dieses hohe Eingriffsgewicht lässt sich aber nicht noch darüber hinaus nach Maßgabe subjektiven Empfindens zu einem „äußerst“ hohen Gewicht steigern oder gar von vornherein verabsolutieren.
Die körperliche Dimension der Freiheit
2. Nicht nur in den rechtlichen, sondern vor allem auch in den politischen Debatten um die Impfpflicht stehen sich objektivierende und subjektivierende Ansichten unvermittelt gegenüber. Der Großteil der Bevölkerung in Deutschland sieht die Impfung dankenswerterweise als einen kleinen Pieks, der der eigenen Gesundheit förderlich ist und zugleich dazu beiträgt, die Gesundheit anderer zu schützen. Ein anderer Teil sieht das nicht so und artikuliert vehemente und zum Teil auch abwegige Vorbehalte. Warum lebensverlängernde medizinische Versorgung, die in einigen Teilen der Welt nicht zur Verfügung steht, hier zu einer Art Kulturkampf führen kann, ist ein Rätsel, das sich mit rechtswissenschaftlichen Mitteln kaum aufklären lässt.
Was außer Frage stehen sollte, ist, dass selbst eine auf medizinisch absurden Vorbehalten beruhende Verweigerungshaltung im Ausgangspunkt einen starken grundrechtlichen Schutz genießen muss. Bei rein objektivierender Betrachtung ist der mit einer Impfung verbundene Eingriff zwar sehr gering, sofern nicht, wie Gärditz schreibt, „[r]ationale Gründe, einen Grundrechtseingriff nicht dulden zu wollen“ vorliegen, also bei handfesten medizinischen Indikationen, wenn es etwa um Gruppen geht, die schwere Nebenwirkungen zu befürchten haben. Die im Regelfall nur geringfügigen Schadensrisiken machen aus der Impfung jedoch keinesfalls einen Bagatelleingriff. Und die Gründe dafür sind im Kern genau die, die Sacksofsky stark macht.
Ein Eingriff in die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen, muss stets ein hohes Ausgangsgewicht haben, unabhängig davon, wie nachvollziehbar die Gründe für die Ausübung dieser Freiheit auch sein mögen. Grundrechtliche Freiheit ist auch Freiheit zur Unvernunft, ja sogar zur Selbstschädigung (vgl. BVerfG-K v. 21.12.2011, 1 BvR 2007/10 [Solarium], Rn. 33). Selbst bei einer „eigenverantwortliche[n] Entscheidung über das eigene Lebensende“ ist „eine Bewertung der Beweggründe“ dem „Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd“; sie entzieht sich von Grundrechts wegen „Überlegungen objektiver Vernünftigkeit“ (vgl. BVerfGE 153, 182 [Rn. 210]) – was den Staat freilich nicht von seiner Gewährleistungsverantwortung dafür entbindet, mit den Voraussetzungen einer tatsächlichen Autonomie solcher Entscheidungen auch das Leben zu schützen (Rn. 231 ff.).
Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gewährleistet deshalb gegenüber staatlichen Eingriffen auch dann ein hohes Schutzniveau, wenn die damit verbundenen Ängste irrational sind. Begründen lässt sich dies zum einen mit dem Zusammenhang von physischer und psychischer Unversehrtheit. In Eingriffskonstellationen muss der Staat berücksichtigen, dass Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität stark emotional besetzt sein können. Vor allem aber kommt der Gesichtspunkt der Autonomie und Selbstbestimmung über die körperliche Dimension der eigenen Individualität zum Tragen. Sie beinhaltet die Gewährleistung negativer Freiheit als einer elementaren Schicht grundrechtlicher Freiheit.
3. Negative Freiheit kann etwas Eigensinniges, Willkürliches und manchmal auch etwas Irrationales haben. Auch wenn die Verabsolutierung dieser Freiheitsdimension leicht zu Verwerfungen im sozialen Leben führt, lässt sie sich darum nicht einfach kürzen. Sie lässt sich nicht umstandslos und ohne Verlust in einer allgemeinen Vernunft oder Rationalität aufheben. „Der »Volkskörper« kennt keinen Schmerz“, schreibt Christoph Möllers in seiner Studie Freiheitsgrade, „und das spricht für einen robusten Schutz individueller persönlicher Integrität“ (88). Dieser robuste Schutz der persönlichen körperlichen Integrität wirkt sich nicht nur auf der Ebene des Schutzbereichs aus, sondern hat auch für die Bestimmung der Eingriffsschwere Bedeutung.
Auch medizinische Behandlungen, die die Gesundheit und körperliche Integrität fördern, sind, sofern sie dem Willen der Betroffenen zuwiderlaufen, schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Dies gilt auch bei unvernünftigen Entscheidungen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann bei entgegenstehendem Willen sogar vor lebensrettenden oder lebenserhaltenden Maßnahmen schützen und schließt damit auch eine „Freiheit zur Krankheit“ ein (vgl. BVerfG v. 8.6.2021, 2 BvR 1866/17 [Zwangsbehandlung], Rn. 72 f.). Der Bagatellvorbehalt, den die Rechtsprechung zum Teil bei bloßen Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes annimmt (vgl. BVerwGE 125, 85 [Rn. 16]), ist, wenn überhaupt, sehr restriktiv zu handhaben und greift deshalb bei einer Impfung nicht. Das hohe Eingriffsgewicht aktiviert den Parlamentsvorbehalt: Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zur Pandemiebekämpfung können nicht über Rechtsverordnung abgewickelt werden. Auch kommt eine Impfpflicht zum Schutz der Person vor sich selbst nicht in Betracht.
4. Eine grundrechtsdogmatische Parallele findet ein solches hohes Eingriffsgewicht etwa auch im starken Schutz der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit gerade auch zugunsten „unvernünftiger“ Ansichten von Minderheiten: Meinungen schon als solche zu unterdrücken, wäre stets ein kategorisch illegitimer Zweck eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit, und je mehr es seine tatsächliche Folge ist, desto schwerer wiegt der Eingriff (vgl. BVerfGE 124, 300 [331 f. und 333 f.] – Wunsiedel [2009]). Und ein Versammlungsverbot ist schon wegen der Vereitelung der Selbstbestimmung der sich Versammelnden stets ein schwerwiegender Eingriff, der nur bei einer unmittelbaren Gefährdung wichtiger Rechtsgüter angemessen sein kann (vgl. BVerfGE 69, 315 [353 f.] – Brokdorf [1985]), ganz gleich wie absurd die Auffassungen der Teilnehmenden auch sein mögen.
Objektive Grenzen der Berücksichtigung des Selbstverständnisses
5. Ob und wie sehr eine Maßnahme den Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt, hängt daher durchaus vom Selbstverständnis der Betroffenen ab. Es kann aber auf der anderen Seite auch nicht ausschließlich das Selbstverständnis der Betroffenen entscheiden.
Das gilt zunächst auf der Schutzbereichsebene, auf der die subjektive Wahrnehmung zumindest einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden muss, sodass etwa rein imaginierte Beeinträchtigungen ausscheiden. Aber auch das Eingriffsgewicht kann nicht beliebig nach Maßgabe des Selbstverständnisses steigerbar sein. Für viele Kommentatoren des Beitrags von Ute Sacksofsky lag eine Provokation darin, dass sie auch wirren und absurden Vorbehalten Raum gibt und das Schutzniveau nicht relativiert. Hat das nicht zur Konsequenz, dass ein Vorbehalt umso mehr Gewicht bekommt, je schriller er artikuliert wird und je abwegiger die Weltsicht ist? Mit Gärditz gefragt: „Mein Frühstücks-Cerealien-Müsli – mein Menschenwürdekern?“
6. Das muss jedenfalls nicht die Konsequenz sein. Der grundrechtliche Respekt vor dem subjektiven Selbstverständnis gebietet es zwar, jedem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ein hohes Ausgangsgewicht beizumessen. Jedoch kann die Eingriffsintensität – das ist der zutreffende Kern des Gärditzschen Einwands – auch nicht darüber hinausgehend beliebig durch subjektives Empfinden weiter gesteigert werden, womöglich bis hin zu einer den Menschenwürdegehalt des Grundrechts berührenden höchsten Eingriffsintensität.
So richtig Sacksofskys Einwand ist, dass auch eine solche Eingrenzung der Eingriffsintensität stets vom (wissenschaftlichen) Mainstream geprägt bleiben wird, so wichtig ist es doch auch, mit Gärditz an dem Unterschied zwischen einer rein subjektiven und einer zumindest dem Anspruch nach wissenschaftlichen, auf mehrheitsunabhängige Wahrheitssuche zielenden Bewertung der Impffolgen festzuhalten. Weder Willkürfreiheit noch verobjektivierte Vernunft lassen sich in demokratischen Grundrechtsordnungen verabsolutieren – es muss jedoch Raum für beide bleiben, wenn relationale Freiheit in Gleichheit gesichert bleiben soll.
7. Die Eingriffsintensität einer Impfpflicht ist wegen der notwendigen Berücksichtigung des Selbstverständnisses zwar als hoch, wegen der objektiv geringen Impfrisiken aber nicht als äußerst hoch zu veranschlagen.
Aus unserer Sicht spricht das dafür, dass auch in der jetzigen Situation eine Impfpflicht verhältnismäßig ausgestaltet werden kann. Ob sie eingeführt werden soll, hat die gesetzgebende Gewalt zu entscheiden. Die Grundrechte stehen dem aber nicht im Wege, weil eine Impfpflicht, zwar nicht zum Schutz vor Selbstschädigung, jedoch zur Abwehr von Fremdschädigungen, gerechtfertigt werden kann. Die „Freiheit zur Krankheit“ nach Maßgabe des eigenen Selbstverständnisses hat zwar hohes grundrechtliches Gewicht, sie findet jedoch dort ihre Grenze, wo ihre Ausübung Leben und Gesundheit anderer Menschen objektiv gefährdet.