14 November 2014

Wir revolutionslosen Deutschen

Es ist schon eigenartig mit uns Deutschen. Einerseits umtanzen wir dauernd mit sakralem Ernst unser Grundgesetz, verehren das Karlsruher Verfassungsgericht auf Knien, lassen alle möglichen Staatsrechtler_innen seitenweise Zeitungen (und Blogs!) voll schreiben, erfinden den Begriff Verfassungspatriotismus. Andererseits interessiert sich für Verfassungspolitik, für den politischen Prozess, in dem Verfassungsrecht entsteht, außer einer kleinen Elite intellektueller Eierköpfe kein Mensch. Schon 1948/49 gab es so gut wie Null öffentlichen Diskurs zu dem, was da im Parlamentarischen Rat verhandelt wurde. Heute ist das (von einigen, die Regel bestätigenden Ausnahmen abgesehen) nicht viel anders.

Letzte Woche war Bruce Ackerman beim WZB zu Gast, eines der ganz großen Schwergewichte des amerikanischen Verfassungsrechts. Sein berühmtestes Werk ist das dreibändige Opus “We the People“, das um die These kreist, dass sich die amerikanische Verfassung nicht auf den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen ihrer historischen Autoren reduzieren lässt, sondern sich in wiederkehrenden “Constitutional Moments” immer wieder reaktualisiert – krisenhaften Epochen des Verfassungswandels wie Lincolns Nach-Bürgerkriegs-, Roosevelts New-Deal- oder die Civil-Rights-Ära der 60er Jahre.

Beim WZB ließ Ackerman das Publikum einen Blick in seine Gedankenwerkstatt werfen. Darin entsteht gerade sein nächstes Buch, in dem sich Ackerman weit über sein angestammtes Feld der US-Verfassungsgeschichte hinausbegeben wird. Was er plant, ist offenbar eine Art Große Erzählung der vergleichenden Verfassungsgeschichte der ganzen Welt. Und wir Deutschen, so viel lässt sich nach dem Abend am WZB sagen, dürften dabei besonders viel zu lernen haben.

Ackerman unterscheidet drei idealtypische Pfade des Konstitutionalismus. Der erste Pfad beginnt mit den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich: Charismatische Führungspersonen mobilisieren revolutionäre Massenbewegungen, um der etablierten Insiderelite die Macht streitig zu machen, und wenn ihnen das gelungen ist, konsolidieren und legitimieren sie die gewonnene Macht, indem sie dieselbe rechtlichen Bindungen unterwerfen und die Errungenschaften der Revolution in Verfassungsform gießen. Indien und Südafrika sind für Ackerman jüngere Beispiele für Verfassungsstaaten, die diesen Pfad beschritten haben, aber auch die aus der Résistance hervorgegangenen Nachkriegsverfassungen Frankreichs und Italiens sowie Charles de Gaulles Fünfte Republik.

Es muss nicht unbedingt eine liberale Demokratie sein, die dabei herauskommt, wie das Beispiel Iran zeigt. Was passiert, wenn die Massenmobilisierer sich gegen den Pfad der Konstitutionalisierung entscheiden, zeigen die Beispiele Lenin und Mao. Im Fall des türkischen Präsidenten Erdogan, so Ackerman, entscheide sich jetzt gerade, welcher Richtung er folgt und ob er als Begründer eines islamischen Konstitutionalismus oder als autoritärer Neo-Atatürk in die Geschichte eingeht.

Der zweite Pfad ist der britische Weg: Die Insidereliten merken selbst, dass sie etwas tun müssen, damit die revolutionarisierbaren Außenseitermassen ihnen nicht gefährlich werden. Sie reformieren und konstitutionalisieren stets vorsichtig genau so viel, dass alles im Gleichgewicht bleibt und sie im Wesentlichen unter sich bleiben können. Beispiele dafür findet Ackerman vor allem im Commonwealth: Kanada, Australien, Neuseeland.

Der dritte Pfad schließlich wird beschritten, wenn die Insidereliten glauben, mit den Außenseitern verhandeln zu müssen. Ackermans Paradebeispiel ist Spanien: Die franquistische Insiderelite setzt sich mit den kommunistischen und sozialistischen Außenseitern zusammen und handelt eine Verfassungsordnung aus, die 1978 fix und fertig dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, das nur noch zustimmen oder ablehnen kann. Unter diese Gruppe subsumiert Ackerman auch Verfassungen, die unter Bedingungen militärischer Besatzung zustande kommen: Deutschland und Japan in den 40er Jahren, Afghanistan und Irak in der jüngsten Vergangenheit.

Gemeinsam sei dieser Art von Verfassung eine gewisses Authentizitätsproblem: Zu viele waren nicht dabei, als sie entstand. Sie neigen zur Instabilität, seien nicht gut darin, Minderheiten zufrieden zu stellen, und wenn ein Shinzo Abe kommt und den Japanern verspricht, ihre wahren nationalen Werte wieder zu beleben, dann hat ihm eine Verfassung, deren pazifistischer Kern aus der Feder von General MacArthur stammt, wenig entgegenzusetzen.

Dem Volk sind solche ausgehandelten Verfassungen häufig herzlich egal, was auch die deutsche Indifferenz der Verfassungspolitik gegenüber erklärt. Die große Frage sei in punkto Deutschland, so Ackerman, warum das Grundgesetz – das vermeintliche Provisorium – sich trotzdem als so bemerkenswert stabil erwiesen habe, dass es sogar den Zeitpunkt überlebte, für den es selbst in Art. 146 seine eigene Ablösung in Aussicht stellte: die Wiedervereinigung.

Dass diese unterschiedlichen konstitutionellen Pfade, auf denen sich UK, Frankreich, Italien, Deutschland und Spanien bewegen, nicht nur von akademischem Interesse sind, wurde an einem Punkt deutlich, auf den Ackerman zum Schluss seines Vortrags zu sprechen kam: Diese Unterschiedlichkeit erkläre viel von der Schwierigkeit, die es den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bereitet, sich auf eine gemeinsame Idee von der konstitutionellen Zukunft Europas zu einigen. Während Franzosen und Italiener für die europäische Verfassung mit revolutionärem Pathos mobilisiert werden wollen, sei Deutschen und Spaniern viel wohler, wenn sich eine fachkundige Elite von Juristen darum kümmert, dass das konstitutionell alles seine Ordnung hat.

Man solle sich, so Ackerman, mal vorstellen, was passiert wäre, wenn Deutschland den Verfassungsvertrag per Referendum ratifiziert hätte. Das hätte die Debatte in Frankreich fundamental verändert. Der Verfassungsvertrag wäre womöglich in Kraft getreten, und die Europäische Union wäre mit einem viel größeren Reservoir an konstitutioneller Legitimität in die Krise hineingegangen als sie es tat. So aber habe sich das Amalgam entmischt. Die Union sei mit dem Lissabon-Vertrag zu einem rein technokratischen Juristenprojekt geworden und die populistische Massenmobilisierung zu einem nationalistischen Phänomen. Beides nicht gut.

Nun ist sicherlich viel von dem, was Ackerman an Thesen, Begrifflichkeiten und Beispielmaterial anführte, noch ziemlich angreifbar, und an Diskussionsbeiträgen, die auf Lücken, Unschärfen und Widersprüche hinwiesen, fehlte es an dem Abend im WZB nicht. So ist das halt, wenn man die Werkstatt öffnet und Unfertiges der Neugier des Publikums preisgibt.

Mich hat dennoch beeindruckt, mit welch breitem Pinselstrich Ackerman, der an seiner Law School in Yale über die Jahrzehnte die Doktoranden und Gastwissenschaftler aus aller Verfassungen Länder zu Hunderten hat vorbeiziehen sehen, die von ihnen zurückgelassenen Wissenspigmente zu einem großen Landkartengemälde arrangiert. Ob es tatsächlich gelingen wird, mit seinen drei Pfaden des Konstitutionalismus die Vielfalt der Verfassungswirklichkeiten präzise abzubilden und kohärent zu ordnen, wird man wohl erst sagen können, wenn das Buch erscheint. Einstweilen aber bin ich um jeden Vorschlag froh, der Vergleichsrahmen anbietet und uns bewusst macht, wie kontingent und historisch bedingt und eigentümlich, wenn nicht gar eigenartig unser spezieller deutscher Zugang zu Verfassung und Verfassungsrecht ist. Wir wissen viel zu wenig darüber, wie die Franzosen konstitutionell ticken, oder die Briten oder die Spanier.

Oder, for that matter, die Deutschen…


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