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18 June 2021

Wissenschaft für alle

Ohne Bibliotheken kann wissenschaftliches Arbeiten schnell teuer werden

Der eingeschränkte Zugang zu Wissen in der Pandemie wirkt sich auf den gesellschaftlichen Diskurs aus und kann die Vielfalt und Chancengleichheit gefährden.

Als Juristin bei einer NGO für Klima- und Umweltschutz unterstütze ich umweltrechtliche Verfahren und arbeite wissenschaftlich, indem ich zu juristischen Themen recherchiere, Publikationen verfasse und Webinare sowie Vorträge halte. Seit Beginn meiner Anstellung im letzten Jahr arbeite ich im Home Office.

Viele der Kolleg:innen und Partner:innen habe ich bisher nur virtuell kennengelernt – ich weiß nicht, wie groß sie sind, ob sie rauchen oder mit dem Rad zur Arbeit kommen, was sie in den Kaffeepausen oder zwischendrin auf dem Flur sagen würden. Dafür weiß ich, wer im Dachgeschoss wohnt, wer sich den Arbeitsplatz zuhause mit anderen teilen muss, bei wem die Internetverbindung schwach ist und wer neben einer Baustelle wohnt. Die Katzen, Hunde und Kinder habe ich meist auch schon online kennengelernt. Schwer zu sagen, ob diese Art des Kennenlernens mehr oder weniger persönlich ist. Weg fallen leider manchmal die spontanen Gespräche und das gemeinsame Arbeiten in einem Raum, welches ich sehr motivierend finde und gerade neuen Kolleg:innen helfen kann, schnell offene Fragen zu klären.

Nicht nur durch den verringerten persönlichen Kontakt und fachlichen Austausch – auch auf meine wissenschaftliche Recherche wirkt sich die Pandemie aus, denn ohne Bibliotheken fehlt der freie Zugang zu wissenschaftlicher Literatur.

Wissenschaftliche Arbeit ohne Bibliothek

Ein Großteil meiner rechtswissenschaftlichen Recherche beginnt und endet derzeit mit der Google-Suche. Vor der Pandemie wäre das bloß der Anfang gewesen, gefolgt von weiterer Literaturrecherche und manchmal auch einem Gang zur Bibliothek. Eine umfassende Online-Recherche über juristische Fachdatenbanken scheitert daran, dass die meisten Beträge sich hinter einer „Paywall“ verbergen, also nur zahlungspflichtig zu lesen sind. Neulich habe ich ein Fachbuch zum Klimahaftungsrecht für fast 100,00 Euro und einen 38-seitigen Artikel für 13,70 Euro erstanden. Davon waren im Nachhinein nur einzelne Punkte für mich relevant und seitdem steht beides mehr oder weniger ungenutzt im Regal. Schade ist, dass mit der Bibliothek in großen Teilen die Möglichkeit wegfällt, durch unterschiedliche Bücher zu blättern und sie auf Relevanz für die eigenen Zwecke zu prüfen.

Nicht, dass ich aberkennen möchte, wie viel Arbeit hinter wissenschaftlichen Publikationen steckt, dass Wissenschaft einen Preis hat und Wissenschaftler:innen dafür fair entlohnt werden sollten. Es erscheint mir dennoch sinnvoller, einen zentralen Ort wie eine Bibliothek oder Online-Plattform bereitzustellen, wo Literatur nach einem Sharing-Prinzip für die Öffentlichkeit einsehbar ist, statt dass sich jede Person oder Organisation mit Fachbüchern eindecken muss. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse während der Schließung von Bibliotheken nicht anderweitig (kostenlos) öffentlich zugänglich sind, besteht die Gefahr, dass sie nur noch von wenigen genutzt werden können und seltener in den öffentlichen Diskurs einfließen.

Gerade NGOs sind eine wichtige Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik. Sie brauchen die wissenschaftliche Fachliteratur und deren Erkenntnisse, um ihre Strategien anzupassen, Forderungen gegenüber politischen Akteur:innen zu präzisieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Während der Pandemie müssen sie mit der Schließung von Bibliotheken neu abwägen, wie viel des Budgets sinnvollerweise für Fachliteratur verwendet werden sollte.

Unter der verstärkten Arbeit mit kostenlosen Online-Artikeln und Studien kann die wissenschaftliche Qualität leiden. Manchmal ist es sehr aufwendig oder unmöglich, die Primärquelle zu finden, weil das vollständige Quellenverzeichnis nicht zugänglich ist. Auf die Inhalte, Quellen, ja sogar manchmal Schwerpunkte der Recherche oder Artikel haben die Google-Resultate und deren Reihenfolge einen enormen und durch die Pandemie erhöhten Einfluss. Problematisch ist dabei insbesondere, dass Google als Unternehmen eigene Wirtschaftsinteressen verfolgt und nicht primär davon geleitet ist, präzise an die Suchbegriffe orientierte Ergebnisse zu präsentieren. Zum einen wird die Wissenschaftlichkeit der Suchergebnisse beeinträchtigt, zum anderen ist dies im Hinblick auf den Schutz unserer Daten problematisch. Unwillentlich und zu großen Teilen auch unwissentlich generieren wir durch die Nutzung dieses Suchdienstes Unmengen an Daten. Nicht nur merkt sich Google jede Suchanfrage, jeden Klick, Standort, die Art des Computers, IP-Adresse und vieles mehr, das Unternehmen verknüpft diese Daten und nutzt sie für wirtschaftliche und machtpolitische Zwecke. Das wäre so als würde mir in der Bibliothek jemand mit einem Notizblock auf Schritt und Tritt folgen, sich notieren zu welchen Regalen ich mich bewege, welche Bücher ich aufschlage und mir auf Basis dieser genausten Beobachtungen nur eine bestimmte Auswahl von Büchern in individualisierter Reihenfolge präsentieren – eine beklemmende Vorstellung.

Auch so kann eine öffentliche Bibliothek aussehen. Foto: Francesca Mascha Klein.

Wie relevant ist die Arbeit jenseits der Pandemie?

Lange drehte sich in der öffentlichen Debatte meinem Eindruck nach alles um Impfstoffe, Inzidenzzahlen und die neuen Erkenntnisse von Virolog:innen und Ärzt:innen. So kann sich die Arbeit jenseits dieser Themen und ohne die Einstufung der eigenen Berufsgruppe als „systemrelevant“ beizeiten als gesellschaftlich entbehrlich anfühlen.

Einerseits gibt es ein starkes Bedürfnis, über die Pandemie, die den Alltag und die Lebensgestaltung von uns allen betrifft, zu sprechen. Andererseits dürfen gerade jetzt andere wichtige und ebenfalls akute Probleme wie Klimaerhitzung, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit nicht aus dem Blick geraten. Teilweise sind diese Probleme sogar mit der Pandemie verknüpft und warten nicht, bis wir sie erfolgreich abgewehrt haben. Die Tatsache, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit gerade ganz der Pandemie gilt, kann durchaus demotivierend sein. Online-Treffen können zwar sehr helfen, uns daran zu erinnern, wie viele andere Personen an ähnlichen Themen arbeiten und sich für den eigenen Themenbereich interessieren, doch sie ersetzen nicht die Vernetzung und den fachlichen Austausch in Form von persönlichen Begegnungen.

Best of both worlds

Wenn wir den digitalen Raum als Ergänzung begreifen und auch dort die Rechte und den Schutz erkämpfen, die wir im Analogen genießen und fordern, sehe ich die Digitalisierung als Bereicherung für die wissenschaftliche Arbeit. Risiken für die Wissenschaft bestehen darin, dass das Aufrufen wissenschaftlicher Erkenntnisse im Internet oft kostenpflichtig und mit dem Verzicht auf den Schutz personenbezogener Daten verbunden ist, Wissenschaft also vor allem kommerziell zur Verfügung gestellt wird.

Aus meiner Sicht müsste es bessere unabhängige Programme geben, die aktuelle und qualitativ hochwertige wissenschaftliche Erkenntnisse kostenlos für die Öffentlichkeit einsehbar machen, und den Schutz persönlicher Daten sichern. Neben einer barrierefreien Gestaltung sollten sie sich dadurch auszeichnen, dass Inhalte einer Qualitätskontrolle unterzogen werden und das Ranking der Suchergebnisse nach transparenten, nachvollziehbaren und nicht-personalisierten Kriterien erfolgt.

Die Verlagerung der Wissenschaft, Bildung und sonstiger Arbeitstätigkeiten ins Internet erlaubt zwar eine gewisse Flexibilität, birgt aber die Gefahr, dass die Qualität der eigenen Arbeit noch stärker vom sozioökonomischen Status abhängt. Besonders stark belastet sind derzeit Personen, die nicht die Mittel haben, um sich einen komfortablen Arbeitsplatz zuhause einzurichten und Fachliteratur zu erwerben. Höhere Hürden für die Teilnahme an wissenschaftlichen Diskursen können dazu führen, dass sich die Vielfalt an Perspektiven verringert und Wissenschaft sich zunehmend von der gesellschaftlichen Realität vieler Menschen entkoppelt.

Wissen ist Macht

Erst im Wissen um die Probleme in der Welt können wir beginnen sie zu lösen. Für NGOs und soziale Bewegungen ist der Wissenstransfer und die Interaktion mit der Wissenschaft essenziell, denn nur mit hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen finden sie in politischen Debatten Gehör und können ein Gegengewicht zur Privatwirtschaft und dem Staat darstellen. So verwies beispielsweise die Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future immer wieder auf wissenschaftliche Erkenntnisse und ermahnte die Öffentlichkeit auf die Wissenschaft zu hören. Doch nicht alle Aktivist:innen und NGOs haben Zugang zu Wissenschaft und können sich wissenschaftliche Studien leisten.

Solange der Zugang mit einem Preisschild versehen ist, sind finanzstarke Akteure auch im gesellschaftlichen Diskurs klar im Vorteil. Der Klimawandel und die Pandemie lehren uns, wie entscheidend wissenschaftliche Erkenntnisse sind, um gesellschaftliche Krisen bewältigen zu können. Nur wenn sie unabhängig, vielfältig, qualitativ hochwertig und für die Öffentlichkeit einsehbar sind, kann ein konstruktiver Diskurs und eine effektive Politik zur Bewältigung sowie deren Vermittlung sichergestellt werden. Damit wäre eine erste Voraussetzung dafür gesetzt, dass gute Ideen für eine bessere Welt entwickelt, möglichst viele Perspektiven berücksichtigt werden können und diese nicht an finanziellen Mitteln scheitern.

 


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