Wissenschaft ist farbenblind
Meine Einladung zu diesem Forum wurde mit der Beobachtung begründet, dass „nicht-weißen Stimmen oft die gleichen Möglichkeiten gehört zu werden [fehlen], die weißen Menschen zur Verfügung stehen. Benachteiligungen und Diskriminierungen sind strukturell angelegt. Die Rechtswissenschaft ist dabei wohl eine besonders undurchlässige und konservative Disziplin.“ Auch wenn ich mich in der deutschen Rechtswissenschaft nie heimisch gefühlt habe, glaube ich nicht, dass das mit meiner iranischen Herkunft zu tun hat. Das halbe Dutzend mir bekannter iranisch-stämmiger Ordinarien scheinen diese Berührungsängste jedenfalls nicht zu haben, während gleichzeitig auch meine jetzigen dänischen und schwedischen Kollegen die deutsche Rechtswissenschaft bisweilen etwas merkwürdig finden.
Was Leijonhufvud ironisch über die Zunft der Ökonomen sagte, trifft nicht minder auf die Wissenschaft des öffentlichen Rechts zu: “The extreme clannishness, not to say xenophobia, of the Econ makes life among them difficult and perhaps even somewhat dangerous for the outsider.” Die vielen Jahre, die ich am Max-Planck-Institut für Völkerrecht verbracht habe, sind demnach sicher keine “on which I look back with undiluted pleasure.”
Meine gemischten Erfahrungen aber hatten mit Sozialisation, Beziehungen, der Meisterung rhetorischer und verhaltensmäßiger Codes, dem Fehlen von Staatsexamina, kurz: mit meiner sozialen und akademischen Herkunft, nicht mit meiner biologischen, zu tun.
Es steht außer Frage, dass sich gewisse Biografien in einem konservativen, leistungsorientierten Feld wie der Rechtswissenschaft leichter tun als andere. Aber sollte das bedeuten, dass besondere Zugangswege geschaffen werden sollten? Wäre es nicht interessanter, weil selbstbestimmter, nach den Ursachen der eigenen Unzulänglichkeit zu fragen, um durch Selbstkritik, Einsicht und Aktion die eigene Zukunft selbst gestalten zu können?
Diversität und Alternativgeschichten
Im amerikanischen Kontext – auf den in diesem Forum angesichts der gegenwärtig Unruhen und Polizeigewalt explizit Bezug genommen wird – und gerade im liberalen akademischen Establishment hat man sich für Sonderräume, ‚safe spaces’ und positive Diskriminierung (affirmative action) entschieden. Angesichts des vergifteten und niemals aufgearbeiteten Erbes der Sklaverei mag es durchaus vernünftig und als ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit erscheinen, dass das Studium über Minderheiten auch von diesen durchzuführen sei, alles andere aber eine unrechtmäßige ‚kulturelle Aneignung’ darstelle.
Eine der nachhaltigsten Folgen der in Amerika praktizierten Sklaverei ist die kulturelle Entwurzelung der Nachkommen dieser zwangsverpflanzten Menschen. Dies hat im zwanzigsten Jahrhundert zur Suche nach alternativen Identifikationsankern geführt, zu der nicht zuletzt der massenhafte Übertritt amerikanischer Schwarzer zum Islam gehört hat. Die Wahl fiel wohl gerade deshalb auf den Islam, weil er so fremd war und damit die Ablehnung des (christlichen) Weltbilds der Sklavenhalter durch eine eigene (Alternativ-)Geschichte am deutlichsten zum Ausdruck gebracht werden konnte. Nicht unwesentlich dürften hierbei auch anti-koloniale Sympathien gewesen sein. Das Resultat war eine bis heute anhaltende, historisch unkritische Sicht des Islams als einer Religion der Brüderlichkeit, der Farbenblindheit und der menschlichen Emanzipation. Für amerikanische Schwarze wie Malcolm X wurde der Islam zur Projektionsfläche der eigenen Sehnsüchte:
“America needs to understand Islam, because this is the one religion that erases from its society the race problem. Throughout my travels in the Muslim world, I have met, talked to, and even eaten with people who in America would have been considered ‘white’ – but the ‘white’ attitude was removed from their minds by the religion of Islam. I have never before seen sincere and true brotherhood practiced by all colors together, irrespective of their color.”
Die von ihm vertretenen Positionen müssen natürlich im Kontext seiner eigenen Sozialisation und der von ihm beabsichtigten politischen Aussagen gelesen werden. Er sah islamische Gesellschaften in erster Linie als Kontrast zu seiner Heimat, der sein politisches Handeln galt. Seiner Ansicht nach ging Rassismus von Weißen aus, entsprechende Haltungen bei Menschen anderer Hautfarbe waren immer nur die unbewusste Antwort auf institutionalisierte Ausgrenzung: “The American Negro should never be blamed for racial ‘animosities,’ because his are only reactions, or defence mechanisms which his subconscious intelligence has forced him to erect against the conscious racism practiced … by American whites.”
Diese Ansichten haben sich im amerikanischen Diskurs weitgehend durchgesetzt und zur Einführung akademischer Einrichtungen geführt, die sich aus einer expliziten ‚Binnenperspektive’ sogenannten Afro-American, post-colonial, und ähnlicher ‚grievance studies’ widmen. Diesen Bestrebungen sind zwei Überlegungen gemein: Wahrheit sei nicht objektiv und marginalisierte Gruppen sollten selbst entscheiden können, wie ihre Geschichte und Kultur besprochen wird. Wenig überraschend führt das zur Untergrabung etablierter methodischer Standards.
Postmoderne Orientalismuskritik
Ähnliche Sichtweisen sind in der Orientalistik enthusiastisch aufgenommen worden. Die Hinwendung amerikanischer Schwarzer zum Islam (besonders in Nachfolge von Malcolm X’s Zweitkonversion zum real existierenden nahöstlichen Glauben in Abgrenzung zu synkretistischen Neuschöpfungen wie der Nation of Islam) hat in den Vereinigten Staaten zu einem anhaltenden Interesse am akademischen Studium islamischer Lebensweisen geführt.
In den Augen vieler – nicht nur amerikanischer – Kollegen sei es das Ziel der klassischen Orientalistik gewesen – insbesondere des Studiums des islamischen Rechts im Westen –, koloniale und post-koloniale Machtverhältnisse zu zementieren und den sprichwörtlich ‚Anderen’ herabzuwürdigen. Wael Hallaq hat sein explizit postmodernes Programm im Vorwort seines Hauptwerkes Sharia: Theory, Practice, Transformations mit bemerkenswerter Klarheit dargelegt:
“To write the history of Shari’a is to represent the Other. … The invented narrative of “Islamic legal studies” aided not only in fashioning colonialist policies that transformed the native legal cultures, but also in shaping the culture of empire itself. … it is here, in the formation and unfolding of these two invented realities, that the concerns of this book lie. … It goes without saying then that there exists no necessary relation between truth and the systemic rules of power, for power posits its own parameters of truth.”
Unabhängig von den wichtigen epistemologischen Fragen, die sich aus diesen Postulaten für das Selbstverständnis von Wissenschaft ergeben, sei im Kontext der vorliegenden Debatte die Frage erlaubt, ob es zielführend ist, historische Gesellschaften und die Dominanz des Religiösen zu idealisieren und gleichzeitig gegenwärtige Probleme ausschließlich als das Werk weißer Imperialisten zu erklären. Hallaq lehnt im obigen Vorwort explizit die Anlegung einheitlicher Standards ab, da die historische Praxis kraft ihrer religiösen Moral eben nicht mit unseren sozialwissenschaftlichen Werkzeugen messbar ist:
“Furthermore, repugnance toward religion, especially when seen to be intertwined with law, undercuts a proper apprehension of the role of morality as a jural form, to name only one effect. Such a predetermined stand vis-à-vis religion and its morality renders inexplicable what is otherwise obvious. … Theistic teleology, eschatology, socially grounded moral gain, status, and much else of a similar type, are all reduced in importance, if not totally set aside, in favor of other explanations that “fit better” within our preferred, but distinctly modern, counter-moral systems of value.”
Wenn Malcolm X also von der angeblichen Rassengleichheit in der arabischen Gesellschaft schwadronieren konnte, kann man das vielleicht damit erklären, dass er so gut wie nichts über die islamischen Gesellschaften wusste, die er als Gegenmodell des ihm bekannten Amerikas ins Feld führte. Denn anders als in seinem Geburtsland, wo man es mit ihren Folgen zu tun hat, wurde – und wird – die formelle Sklaverei in vielen der von ihm bereisten muslimischen Länder weiterhin praktiziert. Weniger leicht erklärlich aber ist die bewusste suspension of disbelief und Aufgabe kritischer Distanz gegenüber dem Institut der Sklaverei, die sich durch alle Werke eines Kenners wie Hallaqs ziehen.
Unkritische Binnenperspektiven
Im amerikanischen universitären Kontext treibt diese bewusste Suche nach positiven Identifikationsmöglichkeiten bisweilen bizarre Blüten, die durch großzügige Spenden arabischer Staaten und Privatiers zu einer ausgesprochen einseitigen Beschäftigung mit dem Recht des Nahen Ostens geführt haben (full disclosure: Ich schreibe dies als Empfänger des ehemaligen Bin Laden Fellowships).
Im europäischen Kontext haben ähnliche postmoderne Sichtweisen zu der erfolgreichen Forderung nach islamischen Studien aus der ‚Binnenperspektive‘ geführt, um eine positive, identitätsstiftende, konfessionsbejahende Sichtweise zu vertreten. Die Gefahr bei diesem Unterfangen besteht darin, dass komplexe, hochproblematische Felder wie Sklaverei, Konkubinage und militärische Expansion entweder ausgeblendet oder moralisch überhöht wie bei Hallaq dargestellt werden. Und hierzu zählt eben auch der innerislamische Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe, mit dem anderen Geschlecht, mit Andersgläubigen, oder mit Armen.
Die Beste aller Welten
Ohne tu quoque: Es ist notwendig bei der Diskussion über Rassismus in Europa diese Aspekte nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist sicher nicht alles perfekt hier, aber Europa ist und bleibt Die Beste aller Welten. Auch wenn es manche sicher einfacher haben, mag es an ihrem Namen, ihrer Haar- oder Hautfarbe, ihrer ‚herrschaftlichen’ Herkunft liegen, ist es dennoch unredlich, in Westeuropa von einer systematischen Ausgrenzung von Leuten fremder Herkunft zu sprechen. Niemand sollte wegen der Verhältnisse in seiner oder seiner Eltern Heimat in Sippenhaft genommen werden, genauso wenig wie die dortigen Verhältnisse hiesige Verfehlungen rechtfertigen.
Aber als akademische Lehrer und Mentoren tun wir den uns Anvertrauten keinen Gefallen, wenn wir an die dortigen Verhältnisse andere Maßstäbe anlegen als an die hiesigen. Die bewusst idealisierte Lehre islamischer Geschichte und Rechts, wie sie an vielen Instituten gängig ist, führt die Studenten – gerade solche mit Migrationshintergrund – in die Irre. Wer sich den exzellenten Film von Leyla Bouzid, À peine j’ouvre les yeux über das alltägliche Grauen in der tunesischen Diktatur anschaut oder Kanan Makiyas Beschreibung des modernen Iraks Republic of Fear liest, dem können zwei Dinge nicht mehr wirklich fraglich erscheinen: Zum einen spielen Staaten, die offizielle Vergewaltiger anstellen, in einer anderen Liga als Rechtsstaaten, in denen ab und an auch ‚Mikroaggressionen’ stattfinden mögen; zum anderen ist der gerade unter Muslimen so häufig anzutreffende Opferduktus kein sehr förderlicher moralischer oder gar epistemologischer Zugang:
“[There is] the all-too-human mistake [of] allowing ourselves to believe that there is something redeeming in the quality of victimhood itself. There isn’t. … The very opposite is likely to be the case: the victims of cruelty or injustice are not only no better than their tormenters; they are more often than not just waiting to change places with them.” (Seite xxix)
Selbstkritik und ‚Nützliche’ Geschichte
Die Vermittlung einer bewusst gesäuberten, ‚erbaulichen’ islamischen Geschichte, Religion und Recht, wie sie gegenwärtig an vielen akademischen Einrichtungen, besonders in der sogenannten islamischen Theologie, vonstatten geht ist daher wenig hilfreich. Sie wird den Migranten nicht erklären können, warum sie oder ihre Eltern überhaupt nach Europa gekommen sind und vor allem wird es ihnen nicht helfen zu verstehen, wie es in der alten Heimat zum zivilisatorischen Kollaps kommen konnte. Den Fehler hauptsächlich beim Westen zu suchen und seine Bewohner kollektiv des Rassismus zu bezichtigen macht bewusst blind für die eigene Geschichte islamischer kolonialer Unterdrückung. Damit gibt man jede Hoffnung auf, durch Verstehen zum handelnden Subjekt des eigenen Lebens zu werden, wie es der syrische Philosoph Sadiq al-Azm vor einiger Zeit treffend zusammengefasst hat:
“In fact, modern Europe’s violent intrusion into the Islamic and Arab worlds created a final and decisive rupture with the past that I can only compare to the no less final and decisive rupture caused by the violent Arab-Muslim intervention in Sassanid Persia. And just as the history of post-conquest Persia stopped making sense without the Arabs and Islam, the post-Bonaparte history of the Arab world stopped making sense without Europe and modernity. In my view, there is no running away from this reality no matter how many times we reiterate the partial truth that modern Europe got it all from us anyway: Averroes, Andalusian high culture and civilization, science, mathematics, philosophy, and all the rest. Without finally coming to terms, seriously and in depth, with these painful realities and their so far paralyzing contradictions, we truly will abdicate our place in today’s world.”
Aus diesen Gründen finde ich es beschämend, als ‚person of color’ bezeichnet zu werden. Semantische und grammatikalische Neuschöpfungen oder die Flucht in die Fremdsprache ändern nichts an der inakzeptablen Grundaussage: Hautfarbe, ob positiv oder negativ konnotiert, hat in einer objektiven und universalen Wissenschaft keinen Platz!
Wissenschaft ist bunt, aber universell
Es gibt einen wunderbaren Song des vermutlich beliebtesten afghanischen Sängers Farhad Darya (mit Peter Maffay als Backgroundmusiker, no less!), eine Ode gegen ethnische Kleingeisterei – nicht zuletzt die seiner afghanischen Landsleute – der mit der auf English und Dari wiederholten Aufforderung endet: “I’m yellow, you’re red, let’s become orange.” In diesem und nur in diesem Sinne lasse ich mich gern als ‘nicht-weißer’ Mensch zählen. Wenn es aber um Forschung und Lehre geht, halte ich unwesentliche Attribute wie Hautfarbe, Glaubenssätze, Herkunft und Ähnliches für unangebracht. Es ist mit dem Ethos einer der Wahrheitssuche verpflichteten Wissenschaft nicht vereinbar, wenn bestimmte Untersuchungen nur von Mitgliedern der zu untersuchenden Gruppe durchgeführt werden sollen, wie es unter dem irreführenden Motto der ‚Binnenperspektive’ mittlerweile leider zum Credo mancher Disziplinen zu gehören scheint.
Wir sollten unsere Studenten, egal welcher Herkunft, nicht dem Rassismus geringer Erwartungen aussetzen und vermuten, dass ihre sensiblen Seelen eine kritisch-objektive Darstellung südlicher, islamischer Gegebenheiten nicht vertragen würden. Denn erst das Verständnis der katastrophalen Lage dort schärft unseren Blick für den Wert und das große Privileg, in einem rechtsstaatlichen und gewaltfreien Europa zu leben.