Wissenschaftsfreiheit und Zeugnisverweigerungsrecht
Die Ausgestaltung der Zeugnisverweigerungsrechte in der StPO erweckt schon bei oberflächlicher Betrachtung einen inkohärenten Eindruck. Sie ist ein unsystematisches Sammelsurium von Partikularrationalitäten und steckt voller Unwuchten. Die Wissenschaftsfreiheit erfährt darin erstaunlicherweise keinen besonderen Schutz. Und noch erstaunlicher mag es scheinen, dass sich darüber bis dato weder größeres Unbehagen in der Wissenschaft geregt hat noch die verfassungsrechtlichen Leitkommentare den unzureichenden Schutz im Strafverfahren weiter problematisieren. Ein Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des OLG München über Unterlagen eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts hat diesen Dämmerzustand schlagartig beendet. Der Beschluss scheint nicht nur unausgesprochen zu unterstellen, dass die Wissenschaftsfreiheit Ermittlungen per se keine Grenzen setzt, sondern führt ihre Herkunft aus einem Forschungsprojekt sogar als Grund dafür an, warum die Unterlagen keinen Beschlagnahmeschutz genießen. Die Empörung ist gewaltig. Welcher Schutz steht der Wissenschaftsfreiheit im Strafverfahren aber zu?
Die Wissenschaftsfreiheit genießt in unserer Verfassungsordnung einen besonderen Rang. Sie ist ohne Vorbehalte gewährleistet und als eine fundamentale Funktionsbedingung einer freien, demokratischen Gesellschaftsordnung anerkannt. Dieses Bild prägt auch das Selbstverständnis das scientific community. Sie scheint bisweilen gar von dem Geist beseelt zu sein, aller Bindungen des Rechtsalltags enthoben zu sein. Umso grösser ist der Schock, wenn sie von der Wirklichkeit eingeholt wird. Gerade das Strafverfahrensrecht hat einige böse Überraschungen parat. Denn es gewährt, wie eingangs erwähnt, prima vista weder ein Zeugnisverweigerungsrecht noch statuiert es Beschlagnahmeverbote zugunsten von Wissenschaftlern und Forschungsunterlagen.
In der Diskussion zeichnen sich zwei Auswege aus dieser Misere ab, die sich aber als in der Sache verfehlt respektive verfassungsrechtlich unzureichend entpuppen. Der Versuch, über den Gesichtspunkt der Vorbereitung und Herstellung von Druckwerken Zuflucht unter dem Schutzschirm der Pressefreiheit gem. § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO finden, der gestützt auf einen Fachaufsatz und einige dürre Kommentarstellen ohne Spruchpraxis teilweise sogar kühn als h.M. verkauft wird, überzeugt nicht. Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit hängt nicht von Publikation oder Publikationsintention ab.
Als Maßanfertigung für die Pressefreiheit vermag § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch weder den Bedürfnissen der Wissenschaftsfreiheit noch deren Entstehungsgeschichte adäquat Rechnung zu tragen. Er ist durch die Bedeutung der Institution der Presse für die Förderung freier demokratischer Meinungsbildung und das damit verbundene Bedürfnis nach Schutz von Quellen, Redaktionsgeheimnis und medialer Kommunikation geprägt. Wissenschaftsfreiheit folgt anderen Eigengesetzlichkeiten. Im Zentrum des Schutzes stehen der wissenschaftliche Erkenntnisgewinnungsprozess und die Absicht, rational generierte Beiträge zur wissenschaftlichen Wahrheitssuche zu leisten. Selbst wenn man als Gemeinsamkeit auf ihre gewichtige demokratische Funktion abhöbe, wäre nicht zu übersehen, dass dieser auf sehr unterschiedliche Weise nachgekommen wird, nämlich durch kommunikative Förderung der politischen Meinungsbildung einerseits und Erarbeitung und Verfügbarmachung von Wissen andererseits.
Eine Erstreckung von § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO auf die Wissenschaft wäre zudem ahistorisch. Wissenschaftsfreiheit muss zwar im Kontext der Kommunikationsfreiheiten gesehen werden. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sie aber als eigenständiges Grundrecht bewusst außerhalb von Meinungs- und Pressefreiheit positioniert.
Um dem Proprium der Wissenschaftsfreiheit im Strafverfahren angemessene Beachtung zu verschaffen, ist es zielführender, auf verfassungsunmittelbare Schranken zu setzen. Als Notnagel verspricht dieser Rückgriff auf die abwehrrechtliche Dimension von Art. 5 Abs. 3 GG Abhilfe im konkreten Verfahren, indem er einer Rechtfertigung von Eingriffen mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes in Ermangelung einer einfach-gesetzlichen Präzisierung der Grenzen der Wissenschaftsfreiheit den Weg verstellt. Eine Dauerlösung kann er nicht sein. Es bedarf einer kohärenten Regelung von Schutzumfang und -ausnahmen, die nur der Gesetzgeber im Rahmen seiner positiven Gewährleistungsverantwortung schaffen kann.
Dabei wäre zu diskutieren, welchen Schutzes die Wissenschaftsfreiheit über Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbote bedarf. Dies verlangt nach einer sorgfältigen und differenzierten Aussprache darüber, welchen Stellenwert Wissenschaft verfassungsrechtlich für sich reklamieren darf, welchen Eingriffen ihr Schutzbereich in Strafverfahren ausgesetzt sein kann und welche Ausnahmen bzw. Grenzen unter Berücksichtigung verfassungsunmittelbarer Schranken anzuerkennen wären. Ansetzen sollte sie bei § 53 StPO, dem sich trotz seiner eigenen Überholungswürdigkeit einige aufschlussreiche Fingerzeige entnehmen lassen. § 53 StPO gewährt Angehörigen bestimmter Berufsgruppen ein rollenbezogenes Zeugnisverweigerungsrecht über berufsbezogene vertrauliche Mitteilungen und berufsbezogene Wahrnehmungen, mit dem Beschlagnahmeverbote in § 97 StPO korrespondieren. Diese Vorschrift soll jedoch nicht Berufsträger und Berufsausübungsfreiheit vor widerstreitenden Pflichten zur wahrheitsgemäßen Aussage im Interesse der Strafrechtspflege und Vertraulichkeit gegenüber Patienten, Mandanten, Informationsquellen etc. schützen. Tatsächlich liegt § 53 StPO kein einheitlicher Schutzzweck zugrunde. Der Gedanke des Schutzes von Vertrauensverhältnissen bietet zwar einen plausiblen Ansatzpunkt, bedarf aber weiterer Präzisierung, warum und in welchen Fällen das Vertrauen Schutz verdient. Hierbei zeigt sich, dass mal der individuelle Schutz von Privatsphäre und Geheimnissen und mal institutionelle Interessen, gesellschaftlich oder verfassungsrechtlich besonders bedeutenden Berufsgruppen geschützte Kommunikationssphären zu garantieren, die sie für die ungestörte Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Funktion benötigen, im Vordergrund stehen. Dies gilt zuallererst für die Presse. Im Vergleich mit den geschützten Berufsgruppen kann sich jedoch auch die Wissenschaft, auf eine ähnlich große soziale Bedeutung ihrer Funktion berufen und nach besonderem, funktional äquivalentem Schutz verlangen. Ihr besonderer Beitrag liegt in der Schaffung von wissenschaftlich gesichertem, d.h. mit besonderer Rationalität ermitteltem Wissen, das sowohl zur Unterstützung als auch als kritisches Gegengewicht im gesellschaftlichen Diskurs und politischen Entscheidungsprozess fruchtbar gemacht werden kann. Gerade das potenzielle Wirken als kritische Gegenöffentlichkeit wird als spezifische demokratische Funktion von Wissenschaft gesehen. Staatlichen Wirksamkeitsunterstellungen oder Symbolpolitik soll die Macht des besseren Arguments entgegengesetzt werden. Damit ist kein szientistischer Herrschaftsanspruch formuliert, sondern eine Bringschuld, um eine wissenschaftsbasierte Weiterentwicklung der Gesellschaft zu fördern. So sieht es auch der Wissenschaftsrat, wenn er betont, dass die «dialogische Vermittlung und Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus allen Wissenschaftsbereichen in Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik» stärker in den Fokus gerückt ist und in diesem Transfer eine Kernaufgabe und Leistung von Forschung und Lehre sieht. Die Betonung von Vermittlung und Transfer darf freilich nicht davon ablenken, dass im Zentrum weiterhin die ernsthafte und planmäßige Suche nach Wahrheit steht, nicht deren Vermarktung oder expertokratische Übergriffe in die Politik. Soll Wissenschaft diese gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen können, muss der Gesetzgeber hierfür vitale Funktionsvoraussetzungen schaffen und schützen.
Mit dieser Einordnung ist die entscheidende Kontrollfrage für die Fixierung von Schutzumfang und -ausnahmen im Strafverfahren identifiziert: Worauf ist man als Wissenschaftler angewiesen, um effektive und methodisch saubere Wahrheitsermittlung betreiben zu können und inwiefern können strafrechtliche Ermittlungsakte, die Funktionsbedingungen einer so verstandenen Wissenschaft nachhaltig beeinträchtigen? Zu diesen Grundvoraussetzungen gehört, dass verfügbare Erkenntnisquellen und methodische Optionen im Rahmen der Rechtsordnung störungsfrei ausgeschöpft werden können, um bestmögliche Erkenntnisse zu erzielen. Dies erfordert einerseits, dass Zugänge zu den für die jeweiligen Forschungsbereiche relevanten Informationsquellen bestehen; z.B. persönliche Kontakte für Interviews in kriminellen Milieus oder als gefährlich eingestuften Personengruppen. Es kann aber auch besonderer Bedarf an Datafizierung und Zugriffen auf große Mengen digital gespeicherter Informationen bestehen, um Big Data-Analysen zu betreiben. Die Auswahl der Quellen und sachgerechter Mittel zu deren Erschließung zählen als Methodenfragen zum Kern des Schutzbereichs. Vertraulichkeitszusagen stellen sich von dieser Warte aus als schutzwürdige Aspekte der Methodenwahl dar. Damit ließe sich rechtfertigen, sowohl die Herkunft als auch die Inhalte von forschungsrelevanten Informationen nach außen zu schützen. Im Vergleich zur Pressefreiheit dürften auch selbstrecherchierte Erkenntnisse und selbstentwickelte Analysemethoden noch größeren Schutzes im Sinne eines Forschungsgeheimnisses bedürfen, als sich in ihnen gerade das Wesen wissenschaftlicher Arbeit manifestiert.
Nun dürfte nicht jede Facette der Wissenschaftsfreiheit die gleiche potenzielle Relevanz für die Strafrechtspflege aufweisen respektive mit Blick auf verfassungsunmittelbare Schranken gleich schutzbedürftig erscheinen. An den schwankenden Eingriffstiefen und -bedürfnissen zeigt sich allerdings erneut, warum eine Präzisierung und Ausbalancierung durch den Gesetzgeber unerlässlich ist. Besonders rechtfertigungsbedürftig sind strafverfahrensrechtliche Eingriffe, die Forschungsergebnisse und -instrumente entziehen, die Nutzung von Quellen und Erkenntnissen erheblich beeinträchtigen oder einen spürbaren, nicht nur hypothetischen chilling effect auf die Forschung haben, weil Probanden, Interviewpartner und Daten nicht mehr zur Verfügung stehen oder beobachtende Teilnahmen als embedded researcher nicht mehr gestattet werden. So wird auch in der aktuellen Debatte vor allem betont, dass ohne empirische Sozialforschung zu Ausmaß und Ursachen strafbarer Verhaltensweisen keine belastbare Wissensbasis existierte, um eine informierte Kriminal- und Sicherheitspolitik (gerade in neuralgischen Bereichen wie Terrorismus und OK) betreiben zu können. Aber auch die Beschlagnahme und Nutzung großer wissenschaftlich-generierter Datenpools für Verbrechensbekämpfungs- und Präventionsanalysen kann solche Wirkungen zeitigen. Mit Blick auf Wesen und Funktion der Wissenschaftsfreiheit wäre sogar zu erwägen, ob jedweder staatliche Zugriff auf Anknüpfungstatsachen und Forschungserkenntnisse einen besonderen strafverfahrensrechtlichen Schutzbedarf auslöst; unabhängig davon, ob die Information entzogen wird oder nicht.
Aus dieser Exponiertheit gegenüber staatlichen Eingriffen erwächst eine strukturelle Gefährdungslage, auf die der Gesetzgeber regieren muss. Es sind stringente Vorgaben aufzustellen, welche Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit auch im Interesse einer effektiven Strafrechtspflege, nicht zuletzt zum Schutz der Grundrechte Dritter, oder zur Verhinderung künftiger Straftaten nicht zulässig sein dürfen und wie dieser Schutz dann kohärent einfach-rechtlich zu implementieren ist, namentlich durch sauber verzahnte Zeugnisverweigerungsrechte, Beschlagnahmeverbot und Verbote heimlicher Ermittlungsmaßnahmen. Dreh- und Angelpunkt für diese komplexen Bewertungen kann nur die Funktion der Wissenschaft sein, der in der Pandemie ungeahnte gesellschaftliche und mediale Aufmerksamkeit zuteilwird. Demgegenüber zeigt gerade der Strafgesetzgeber nur wenig Interesse an Empirie; und zwar mit dem Segen des Verfassungsrechts. Fragen der Eignung und Notwendigkeit wurden zu Gunsten breiter legislativer Prärogativen weitgehend empirie-entkernt. Sozialforscher reklamieren für ihre Forschung mithin eine Relevanz, die sie aktuell nicht hat. Jedoch gehört es gerade in solchen Zeiten zur Aufgabe der Wissenschaft, eine rationale Gegenöffentlichkeit zu bilden und als Katalysator gesellschaftlichen Wandels zu fungieren. Diese Funktion darf das Strafprozessrecht nicht ersticken, indem es die Wissenschaftsfreiheit schutzlos stellt.