Wo kein Normkonflikt, da kein Kompetenzkonflikt
Die höchstrichterlichen Beurteilungen des Berliner Mietendeckels und der Berner Volksinitiative für bezahlbare Wohnungen im Vergleich
Schon im Vorfeld des Entscheides des Bundesverfassungsgerichtes zum Mietendeckel vom 15. April ist darauf hingewiesen worden, dass dieser die Verzahnung von föderaler Kompetenzordnung und Tragweite des Grundrechtsschutzes offenlegen werde. Diese Prognose hat der Entscheid nun bestätigt. Sowohl den Schutz der Eigentumsgarantie der Vermieter:innen, als auch der Schutz allfällig betroffener Grundrechte der Mieter:innen diskutiert er nur unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern, nicht unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes. Noch deutlicher wird diese Verzahnung im Vergleich mit einem höchstrichterlichen Verdikt zur Verfassungsmässigkeit einer kommunalen Volksinitiative zur Bremsung der Mietpreise in der Stadt Bern vom November 2019. Der Vergleich ist deshalb interessant, weil der grundrechtliche Schutz des Eigentums in der Schweiz an sich eigentümerfreundlicher ist als in Deutschland. Das Konzept einer Sozialpflichtigkeit des Eigentums wurde bei der Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung (1999) explizit verworfen, obwohl sie in der Lehre – in Anlehnung an das deutsche Recht – zuvor regelmässig postuliert wurde. Der Vergleich zeigt daher, wie eine föderalismusfreundlichere ausgestaltete Kompetenzordnung (wie sie die Schweiz kennt) ein Stück weit für fehlende oder mangelnde Sozialpflichtigkeit des Eigentums (wie es Deutschland kennt) aufkommen könnte. In ihrer Kombination enthalten die beiden Entscheide darüber hinaus alle Elemente für lokal gestaltbare Verhältnisse auf dem Mietmarkt.
Die Vorlagen im Vergleich
Abgesehen davon, dass beide Vorlagen das Anliegen verfolgen, günstige Mietwohnungen in Städten sicherzustellen, unterscheiden sie sich zunächst grundlegend. Der Berliner Mietendeckel funktionierte über einen Mietenstopp, eine lageunabhängige Mietobergrenze und ein Verbot von Mieten, die durch die Verwaltung als überhöht eingestuft werden. Die Berner Initiative schreibt vor, dass bei Um- und Neueinzonungen mindestens ein Drittel des neu eingezonten Wohnraums dauerhaft zu Kostenmiete vermietet werde. Sie schafft ausserdem Anreize zur Bereitstellung von günstigem Wohnraum: Bei Neu- und Umbauten erhöht sie das Mass der zulässigen Nutzung um 20 Prozent, wenn der Wohnraum im gesamten Gebäude dauerhaft zu Kostenmiete vermietet wird. Er betrifft also gerade nicht das Mietpreisrecht bezüglich ungebundenen Wohnraums, sondern bindet zusätzlich Wohnraum.
Gemeinsam ist den beiden Vorlagen hingegen, dass sie von Vertretern von Hauseigentümer-Interessen höchstrichterlich angefochten wurden und dass bei der abstrakten Normenkontrolle nicht die Eigentumsgarantie oder die Wirtschaftsfreiheit im Vordergrund stand, sondern die Frage, ob der regionale Gesetzgeber unzulässigerweise in die Regulierungskompetenz des Bundesgesetzgebers eingegriffen habe. In beiden Fällen betraf diese Regulierungskompetenz das Zivil-, bzw. das bürgerliche Recht, das in beiden Staaten dem Bund umfassend zugeordnet ist, solange und soweit er von der Regulierungskompetenz Gebrauch macht. In der Schweiz gilt der Vorrang des Bundesrechtes als ein «verfassungsmässiges Recht», das mit Verfassungsbeschwerde vor Bundesgericht angerufen werden kann, was seine Nähe und Komplementärfunktion zu den Grundrechten unterstreicht.
Während die Grenzen, die die Eigentumsgarantie der Regulierung des Mietwesens setzen, im Berliner Fall kaum eine Rolle spielten, wurde die Frage im Berner Entscheid nachgelagert und kurz abgehandelt und zusammen mit der Wirtschaftsfreiheit über einen Kamm geschert. Die Volksinitiative nahm diese grundrechtliche Hürde recht problemlos (E. 6.4.3). Gemessen an dem Massstab, den das Bundesgericht anlegte, wäre allerdings fraglich, ob auch der Berliner Mietpreisdeckel die Hürde der Eigentumsgarantie hätte nehmen können.
Dass es zu dieser Frage im Berliner Entscheid gar nicht kam, zeigt die Komplementärwirkung der föderalen Kompetenzfrage und es ist in dieser, wo die interessantesten Unterschiede in der Praxis der beiden Höchstgerichte liegen.
Sperrwirkung vs. expansive Kraft
Der Vergleich zeigt zunächst, dass die Praxis des Schweizerischen Bundesgerichtes föderalismusfreundlicher ist als die des BVerfG, in dem Sinne, dass sie mehr regionale Autonomie zulässt. Während das Schlüsselwort beim BVerfG «Sperrwirkung» (des Bundesrechtes) ist, ist es beim Bundesgericht die «expansive Kraft des kantonalen öffentlichen Rechtes», die durch das Zivilgesetzbuch anerkannt werde (Art. 6 ZGB). Die Schweizer Bundesverfassung spurt diese Haltung vor. Sie hält fest, dass Bundesrecht nur «entgegenstehendem kantonalen Recht» vorgehe (Art. 49 Abs. 1 BV). Darin spiegelt sich eine grosse Bereitschaft, keinen Kompetenzkonflikt zu erblicken, wo kein Normkonflikt vorliegt. Das kantonale öffentliche Recht könne das Bundesprivatrecht nicht nur ergänzen, sondern auch in seiner Tragweite beeinflussen, hält das Bundesgericht fest: «Auch wenn eine bundesrechtliche Regelung in einem bestimmten Bereich umfassend ist, kann ein kantonales Gesetz im gleichen Bereich Bestand haben, wenn es ein anderes Ziel verfolgt als das vom Bundesrecht verfolgte» (E. 5.2.1.). Eine abweichende Zielsetzung führt also noch nicht, oder sogar gerade nicht, zu einem Normkonflikt. Das Schweizer Bundesgericht anerkennt ausserdem – was das BVerfG unterlässt, obwohl die Frage sich analog stellte – dass «kantonale oder kommunale Massnahmen, die dazu dienen, das knappe Angebot an preisgünstigen Mietwohnungen zu erhalten oder zu erhöhen, eine andere Stossrichtung [haben] als die bundesrechtlichen Bestimmungen» im Mietrecht (E. 5.2.3). Die bundesrechtliche Zielsetzung ist hier nicht eine grundrechtliche, sondern die Verhinderung der Übervorteilung in einem privatrechtlich-vertraglichen aber asymmetrischen Verhältnis. Die kommunale öffentlich-rechtliche Zielsetzung ist hingegen sozialpolitisch motiviert und unterstellt Vermietern keine Absicht, die asymmetrischen Machtverhältnisse auszunutzen. Eine lokale öffentlichrechtliche Regelung hat demnach neben dem abschliessend durch den Bund geregelten Zivilrecht selbst dann Bestand, wenn es gerade ein explizit anderes Ziel verfolgt, etwa den Marktmechanismus dort teilweise ausser Kraft setzen will, wo das Zivilrecht lediglich die Marktparität wiederherstellen möchte. Die Figur der expansiven Kraft des kantonalen öffentlichen Rechtes ermöglicht im Verhältnis zum Zivilrecht, dass die Gestaltungsfreiheit der Kantone erst dort endet, wo sie dem Bundesrecht entgegenstehende – nicht andere oder ergänzende – Zielsetzungen verfolgt.
Das steht in markantem Kontrast zum formalistischen Zugang des BVerfG, wenn dieses sagt: «Bürgerliches Recht (…) ist nicht als Gegensatz zum öffentlichen Recht zu verstehen, sodass Gegenstände, die nach heutigem Verständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind, auch dem Anwendungsbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG unterfallen können» (Rn. 111). Da bleibt kein Raum für eine expansive Kraft des öffentlichen Rechts der Länder: «Regelungstradition und Staatspraxis (…) belegen, dass der Gesetzgeber Mietverhältnisse über ungebundenen Wohnraum nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr öffentlich-rechtlich reglementieren wollte, sondern dass er sie im Kern zivilrechtlich ausgestaltet und die gesetzlichen Regelungen in das auf der Privatautonomie gründende Rechtsverhältnis zwischen Vermieter und Mieter eingebunden hat (…)» (Rn. 116). Der unflexible Kern des Mietendeckel-Entscheides ist damit seine definitive Zuordnung der Materie zum bürgerlichen Recht, ohne Möglichkeit des öffentlichen Rechts, zu intervenieren, ergänzende Ziele zu verfolgen oder nur schon als öffentliches Recht gelten zu können (denn es wird als bürgerliches Recht betrachtet).
Im konkreten Fall ist allerdings unwahrscheinlich, dass die grössere Bereitschaft des Schweizer Bundesgerichts, Regulierungsautonomie zu gewähren, zu einem anderen Schluss geführt hätte. Unterschiedlich ist die Methode der Abgrenzung, nicht das Resultat. Während das BVerfG auf die Regulierungsmaterie fokussiert, ist für das Schweizer Bundesgericht für die Abgrenzung von Zivilrecht und kantonalem öffentlichen Recht die Regulierungstechnik das zentrale Abgrenzungskriterium: Das Bundesgericht rechnet dem Zivilrecht all jene Massnahmen zu, die direkt in das Verhältnis von Mietern und Vermietern eingreifen. Darein einzugreifen wäre auch nach Schweizer Praxis ein Verstoss gegen den Vorrang des Bundesrechtes (E. 5.2.2). Verfassungsmässig sind nur – diese aber ausdrücklich – Massnahmen, die sich lediglich indirekt auf das Verhältnis zwischen Vermieter:in und Mieter:in auswirken und erstere unter Umständen zwingen können, die Miete nach unten anzupassen (E. 5.3).
Regulierungstechnik und Regulierungsziel
Beiden Gerichten könnte nun entgegen gehalten werden, nicht überall, wo hoheitlich in Verträge eingegriffen werde, sei die blosse Wiederherstellung von Vertragsparität das Ziel. Regulierungstechniken und Regulierungsziel könnten diesbezüglich auseinanderfallen. Während das Ziel ein öffentlichrechtliches sein könne, könne die Technik dem Zivilrecht angehörig sein und umgekehrt. So wurde im Vorfeld argumentier, die Massnahmen, die das Land Berlin gewählt habe, würden gerade «Grenzen für die vertragliche Aushandlung ziehen» und «dem Wohnungseigentum von aussen hoheitliche Pflichten auferlegen». Seine Stossrichtung liege gerade in der Überwindung der Funktionslogik des Marktes. Sie seien also materiell öffentliches Recht, auch wenn sie formell einen Regulierungsansatz aus dem bürgerlichen Recht wählten. Diese Möglichkeit verbauen sich beide Gerichte; das BVerfG mit seiner statischen Konzeption von bürgerlichem Recht, das Bundesgericht mit der Grenze die es zieht zwischen einem Eingriff in das Vertragsverhältnis und anderen – öffentlich-rechtlichen – Eingriffsmechanismen (vgl. immerhin diesen Entscheid von 2005, der eine Einschränkung der Vertragsfreiheit im Mietrecht durch kantonales öffentliches Recht sehr weitgehend zulässt).
Für die Frage, ob die flexiblere Schweizer Abgrenzung zu mehr lokalem Gestaltungsraum im Mietwesen führen würde, ist insofern entscheidend, ob Mietpreisrecht im deutschen Sinne in jedem Fall bedeute, dass hier die Behörden direkt in die Verträge zwischen Mieterinnen und Vermieter eingriffen. Oder gibt es umgekehrt einen Regulierungsraum, der zwar nicht im Sinne des Schweizer Bundesgerichtes ein direkter Eingriff in das Verhältnis privater Vertragspartner ist, aber dennoch noch den «ungebundenen Wohnraum» im Sinne des deutschen Rechts betreffen kann?
Wenn ja, dann eröffnet der flexiblere Schweizer Zugang einen Raum für regionale Sozialgestaltung des Mietmarktes. Wenn nicht, dann erweist sich die flexiblere Kompetenzabgrenzung zumindest in dieser Konstellation als nur scheinbar flexibler. Der Anreiz, den beide Ansätze dann dem lokalen Gesetzgeber in diesem Fall setzen, wäre, mehr Wohnraum zu binden, also dem Wohnungsmarkt öffentlichrechtlich zu entziehen. Wahrscheinlicher, als dass die Haltung des BVerfG die Türe aufstösst zu einem bürgerlichen Recht, das gestaltungsoffener ist für sozialpolitische Anliegen, erscheint unter diesen Umständen, dass mehr Wohnraum gebunden wird und sich damit die Reichweite des bürgerlichen Rechts reduziert – auf Grund von dessen eigener Unflexibilität gegenüber lokalem öffentlichen Recht, von dem es sich nicht «in seiner Tragweite beeinflusst» (E. 5.2.1) sehen will.
Eine Kombination von Lösungsansätzen
Sollten diese Anreize als wenig sinnvoll erachtet werden, so ist es eine Zusammenschau der beiden Entscheide, die eine sinnvollere Lösung aufzeige kann. Der Schweizer Beitrag ist die Anerkennung und der Schutz der «expansive Kraft des kantonalen öffentlichen Rechtes», die regionales öffentliches Recht auch in einem Bereich der ausschliesslichen Bundeskompetenz zulässt, solange und soweit es diesem nicht entgegensteht. Die deutsche Zutat zur Lösung ist eine funktionale statt eine formalistische Abgrenzung von privatem und öffentlichem Recht. Im Gegensatz zum Mietendeckel-Entscheid, in dem Rechtsregeln, die wie öffentliches Recht aussehen, funktional dem Privatrecht zugeordnet sind, müsste dieser Zugang aber umgekehrt zugestehen, dass auch öffentliches Recht wie privates aussehen kann, wenn es eine öffentlich-rechtliche Funktion hat (etwa Mieten erschwinglich zu halten oder der Gentrifizierung vorzubeugen).
Das Resultat dieser Kombination von Lösungsansätzen wäre, dass die Regulierung des Mietenmarktes in jenes Forum vorrücken könnte, das zu ihrer Gestaltung am geeignetsten ist: das Forum der Eigentumsgarantie. Am geeignetsten ist das Forum deshalb, weil hier die Fragen direkt aufgeworfen werden können, die im Rahmen einer Kompetenzabgrenzung lediglich indirekt und mit einem zufälligen Ergebnis angeschnitten werden können. Es ist in der Festlegung des Umfangs des grundrechtlich geschützten Eigentums, wo die grundlegendsten Verteilungsfragen einer Gesellschaft entschieden werden. Hier wird der Grad der Dezentralisierung von Produktionsfaktoren ausgehandelt und hier wird die Frage nach dem Ausmass der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gestellt. Geht man davon aus, dass diese Frage nur in ihrem jeweiligen soziökonomischen Kontext beantwortet werden kann, also lokal beantwortet werden muss, dann braucht es dazu die expansive Kraft des regionalen öffentlichen Rechts.
Ein hervorragendes Werkzeug zur wirksamen und gemeinwohlorientieren Dezentralisierung des Produktionsfaktors Boden, die kaum andere volkswirtschaftliche Gleichgewichte stört und allen helfen kann, wäre eine allgemeine Bodenwertsteuer.
Sehr interessanter Kommentar – vielen Dank!
Ich finde schon seit längerem dass sowohl Bundesregierung ziemlich oft nicht gerade freundlich zu den Ländern ist, und dass das BVerfG auch irgendwie Föderalismus sehr begrenzt und negativ auslegt. Vielleicht führ das Mietenurteil ja dazu dass der Bundestag da mal die Initiative übernimmt.
Was würde z.B. passieren wenn der Bundestag ausdrücklich beschließt (aber nur als einfacher Beschluss, keine Grundgesetzänderung oder so) dass man wie das Schweizerische Bundesgericht der Meinung ist dass Länder machen können was sie wollen solange sie nicht ausdrücklich dem Text eines Gesetzes widersprechen?
Ja, interessanter Kommentar. Wobei öffentliche Preisbindung doch wohl richtigerweise auch „Bindung“ wäre. Die Altvorderen hätten hieran keinen Zweifel gehabt. Bürgerliche Preisvorschriften im bürgerlichen Gesetz per definitionem dagegen keine Bindung im engeren Sinne sein dürfte, wo deren Gegenstand und Ergebnis doch laut 2. Senat „ungebundener“ Wohnraum und Grundlage des Vergleichsmietensystems sein soll. Nach § 558 II 2 BGB das Gegenteil einer durch öffentliches Gesetz festgelegten Miethöhe. Und weil das an allen Ecken und Enden klemmt, und offenbar nach Meinung des 2. Senats nicht sein konnte was nicht sein durfte, musste ohne viel Federlesens in preußischer Feldwebelmanier – So, das paßt! – durchentschieden werden.