Epochales Urteil: Das Grundgesetz als Anti-Nazi-Verfassung
Der heutige Posthum-Beschluss des BVerfG zur Verfassungsbeschwerde des toten Nazi-Rechtsanwalts Jürgen Rieger wird in die Geschichte eingehen. Er reiht sich ein in die große Ahnenreihe KPD, Lüth, Deutschlandfernsehen, Spiegel. Ich verneige mich vor diesem Richterspruch.
Was ist geschehen? Es geht um eine NPD-Demo in Wunsiedel, wo der “Stellvertreter des Führers” Rudolf Hess begraben ist. Diese wurde verboten mit Verweis auf den neuen, 2005 erlassenen § 130 IV StGB:
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.
Diese Norm besagt, grob vereinfacht: Hitler gut finden und das auch laut sagen, das darf man nicht.
Nun gewährleistet bekanntlich das Grundgesetz in Art. 5 das Recht, die eigene Meinung frei zu äußern, soweit dies nicht durch “allgemeine Gesetze” verboten ist. Was sind allgemeine Gesetze? Solche, die nicht die Meinung als solche verbieten, sondern ein bestimmtes Rechtsgut vor Angriffen generell bewahren wollen. Anders formuliert: Wenn das Gesetz nicht explizit dazu da ist, eine spezielle Meinung zu unterdrücken, dann ist das in Ordnung. Ich darf dafür bestraft werden, einen anderen zu beleidigen, aber nicht dafür, ihn für einen blöden Hund zu halten.
Die Formel stammt aus dem berühmten Lüth-Urteil des BVerfG von 1957, einer der Fundamentalentscheidungen des bundesrepublikanischen Grundrechtestaats. In der gleichen Entscheidung fiel die berühmte Formulierung, die Meinungsfreiheit, die freie Auseinandersetzung der geistigen Kräfte sei für die freiheitliche Demokratie “schlechthin konstituierend” – also gleichsam das Konstitutionsprinzip der Konstitution, die Grundlage der Grundlage, der Schlussstein der gesamten Verfassungsordnung.
Mit diesem Verständnis von den Schranken der Meinungsfreiheit kam man bislang einigermaßen zurecht; der Volksverhetzungsparagraph ließ sich auf diese Weise rechtfertigen und manch fiese NS-Demo darauf gestützt mit Fug und Recht verbieten. So auch das Bundesverwaltungsgericht im Juni 2008 in seinem Urteil zum Rudolf-Hess-Gedenkmarsch: Es gehe schließlich um die Rechtsgüter Menschenwürde und öffentlicher Frieden, deshalb sei auch der neue § 130 IV StGB ein “allgemeines Gesetz”.
Das hatte schon ein bisschen was Haarspalterisches. Man konnte das ungute Gefühl bekommen, dass auf dieser Grundlage durchaus auch mal ein Gesetz gegen, sagen wir, Kritik am Urheberrecht grünes Licht bekommen bzw. nur noch am Verhältnismäßigkeitsprinzip gemessen werden könnte.
Die Gefahr scheint auch der Erste Senat zu sehen. Die Schranken-Schranke der “allgemeinen Gesetze” soll nach seinem Willen wieder beschränken und nicht aus lauter Angst vor Nazis permanent offenstehen: Sie sei als
spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen
zu verstehen und müssten sicherstellen,
dass die Norm im politischen Kräftefeld als gegenüber verschiedenen Gruppierungen offen erscheint und sich die pönalisierte oder verbotene Meinungsäußerung grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen ergeben kann. Geboten ist eine Fassung der Norm, die in rechtsstaatlicher Distanz gegenüber konkreten Auseinandersetzungen im politischen oder sonstigen Meinungskampf strikte „Blindheit“ gegenüber denen gewährleistet, auf die sie letztlich angewendet werden soll. Sie darf allein an dem zu schützenden Rechtsgut ausgerichtet sein, nicht aber an einem Wert- oder Unwerturteil hinsichtlich der konkreten Haltungen oder Gesinnungen.
Auf dieser Grundlage beendet das BVerfG das Versteckspiel und spricht aus, was man sich ohnehin denken kann: § 130 IV StGB ist kein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 II GG.
Die Vorschrift dient nicht dem Schutz von Gewaltopfern allgemein und stellt bewusst nicht auf die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der Gewalt- und Willkürherrschaft totalitärer Regime insgesamt ab, sondern ist auf Äußerungen allein in Bezug auf den Nationalsozialismus begrenzt.
Es ist ein Gesetz gegen Nazis. Gegen ihre Weltanschauung, gegen ihre Meinung, gegen ihre Freiheit, dieselbe öffentlich zu äußern. Es diskriminiert Nazis. Da hilft kein Drumherumreden.
Heißt das nun, dass ein solches Gesetz als Verletzung der Meinungsfreiheit verfassungswidrig ist? Mitnichten, sagt der Erste Senat und holt zu einer verfassungshistorischen Grundsatzbetrachtung aus, wie wir sie seit den Tagen des KPD-Urteils nicht mehr hatten. Das “Nie wieder” gegenüber dem Nationalsozialismus, so der Erste Senat, steht am Anfang allen Verfassungsrechts. Ist also, um die Lüth-Formulierung zur Meinungsfreiheit aufzugreifen, “schlechthin konstituierend”:
Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte.
Nationalsozialismus ist somit nicht einfach nur eine Meinung unter vielen:
Die Befürwortung dieser Herrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential.
Auf dieser Grundlage schafft das BVerfG eine vollkommen neue, spezifisch auf den Nationalsozialismus bezogene Schranke des Grundrechtes der Meinungsfreiheit:
Die Befürwortung dieser Herrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential. Insofern ist sie mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen. Dieser geschichtlich begründeten Sonderkonstellation durch besondere Vorschriften Rechnung zu tragen, will Art. 5 Abs. 2 GG nicht ausschließen. Das Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze, mit dem Art. 5 Abs. 2 GG den Gesetzgeber in Anknüpfung an lange Traditionslinien darauf verpflichtet, Rechtsgüterschutz vor Meinungsäußerungen unabhängig von bestimmten Überzeugungen, Haltungen und Ideologien zu gewährleisten, kann für diese die geschichtsgeprägte Identität der Bundesrepublik Deutschland betreffende, auf andere Konflikte nicht übertragbare einzigartige Konstellation keine Geltung beanspruchen.
Allerdings geht der Senat nicht soweit, eine antinationalsozialistische Gedankenpolizei zu erlauben. Im Grundsatz bleibt es dabei, dass die “Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung” das Fundament der Verfassungsordnung bildet und auch gegenüber den “Feinden der Freiheit” das Mittel der Wahl bleibt. Die Meinungsfreiheit bleibt also noch ein Stück “schlechthin konstituierender” als der Anti-Nationalsozialismus:
Art. 5 Abs. 1 und 2 GG erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.
Ich bin nicht immer begeistert, wenn das BVerfG, weil es mit dem im Grundgesetzwortlaut Vorgefundenen aus irgendeinem Grund nicht zufrieden ist, ins freie Philosophieren kommt. Aber in diesem Fall ist das anders. Der historischen Tatsache, dass der Anti-Nationalsozialismus das Fundament unseres Staatswesens ist, auch verfassungsrechtlich zu voller Geltung zu verhelfen, ist ein großes Verdienst dieser Entscheidung. Die Balance in Hinblick auf Gesinnungskontrolle scheint mir gelungen. Die Schranke der “allgemeinen Gesetze” kann jetzt wieder gesenkt werden, wenn es nötig ist, ohne dass die Nazis jubilieren.
Ein großes Urteil.
Update: Hier noch ein kleiner Verdacht: Könnte der Beschluss vielleicht als Wiedergutmachung für das NPD-Urteil gedacht sein?
Wäre die Überlegung, Grundrechte mit speziellen Anti-Nazi-Einschränkungen zu versehen, vielleicht sogar auf die Parteiverbots-Konstellation übertragbar? Warum Art. 5 immanent einschränken und Art. 21 nicht? Weil das die Frage aufwürfe, warum das BVerfG da nicht schon im NPD-Urteil (oder im SRP-Urteil for that matter) draufgekommen ist?
Update: Thomas Stadler äußert im Internet-Law Blog die Sorge, dass das nicht die letzte Sonderrechts-Ermächtigung bleiben wird. Das glaube ich nicht. Mir fällt beim besten Willen keine andere Meinung ein, die man auf gleicher Stufe als verfassungsgeschichtlich konstitutiv bezeichnen könnte wie den Nationalsozialismus. Zu was sonst sollte das Grundgesetz ein “Gegenmodell” sein?
Update: Jurabilis nennt das Urteil “verfassungsrechtliches Hochreck” und warnt Examenskandidaten vor Nachahmung.
“Art. 5 Abs. 1 und 2 GG erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.”
Ist das eine Einschränkung? Die Gesinnung an sich kann ja gar nicht überprüft werden, solange sie noch rein geistig ist und die Hirnforschung noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um Gedanken sichtbar zu machen…
Tja, von mir kommt etwas Wasser in den Wein.
Generell bin ich vorsichtig, nur ein paar Stunden nach Bekanntwerden des Urteils von einem “großen Urteil” zu sprechen. Das sollten wir uns aufheben für einen späteren Zeitpunkt, wenn alle möglichen Implikationen und Folgerungen des Urteils erkannt sind.
Um mal ganz praktisch zu werden: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die besagte Gesetzesänderung und die Billigung derselben den größten jährlichen Nazi-Aufmarsch in Deutschland zum jeweiligen 13. Februar in Dresden verhindern oder behindern kann. Wenn die sog. “Junge Landsmannschaft Ostpreußen” zum Gedenken an die Opfer der Bombardierung Dresdens 1945 aufruft, wird man diesen Nazis das nicht so einfach verbieten können, da hilft das StGB nicht, und auch nicht die zur Verabschiedung im Sächsischen Landtag anstehende Novelle des Sächsischen Versammlungsgesetzes (Entwurf dazu hier: http://www.fdp-fraktion-sachsen.de/artikel/Versammlungsgesetz.pdf ; PM der Regierungsfraktionen dazu hier: http://www.fdp-fraktion-sachsen.de/artikel/mit_neuem_versammlungsgesetz_koennen_extremisten_deutliche_grenzen_gesetzt_werden.php ). Dieser Gesetzentwurf, sofern unverändert verabschiedet, würde spätestens in Karlsruhe scheitern. Sollte es keinen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle durch die parlamentarische Opposition geben, dann erhielten die Nazis selbst eine direkte Vorlage für einen Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht.
Damit komme ich zu einem entscheidenden Punkt, den auch das Verfassungsgericht – leider nur beiläufig – in seinem Beschluss erwähnt:
“Selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung fällt nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus. Den hierin begründeten Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art. 7 GG zu.” (Rn. 50) und
“Der Schutz vor einer Beeinträchtigung des „allgemeinen Friedensgefühls“ oder der „Vergiftung des geistigen Klimas“ sind ebenso wenig ein Eingriffsgrund wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Auch das Ziel, die Menschenrechte im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu festigen, erlaubt es nicht, zuwiderlaufende Ansichten zu unterdrücken. Die Verfassung setzt vielmehr darauf, dass auch diesbezüglich Kritik und selbst Polemik gesellschaftlich ertragen, ihr mit bürgerschaftlichem Engagement begegnet und letztlich in Freiheit die Gefolgschaft verweigert wird. Demgegenüber setzte die Anerkennung des öffentlichen Friedens als Zumutbarkeitsgrenze gegenüber unerträglichen Ideen allein wegen der Meinung als solcher das in Art. 5 Abs. 1 GG verbürgte Freiheitsprinzip selbst außer Kraft.” (Rn. 77)
Dieses “bürgerschaftliche Engagement” nimmt das Verfassungsgericht noch zu selbstverständlich an – es ist zwar richtig: allein Sprüche aus Karlsruhe können unsere demokratische politische Ordnung gegen ihre Feinde schützen, doch müssen wir empirisch erkennen, dass dieses bürgerschaftliche Engagement für die Verfassung bei Weitem nicht so natürlich gegeben ist, wie es sich vielleicht manch einer am Karlsruher Schlossplatz wünscht – in Dresden haben wir die Diskussion, ob man nicht gerade den Extremisten (dazu werden von vielen neben den Nazis eben auch die Antifas gezählt) das Demonstrieren verbieten soll, damit man selbst in Ruhe zuhause an der Kaffeetafel sitzen kann.
Ein weiteres Problem ist, dass diese Neufassung des Art. 130, 4 auf Ereignisse in der Vergangenheit gerichtet ist, dass Nazi-Demos mit Bezug auf gegenwärtige Ereignisse oder Entwicklungen damit ebenfalls nicht betroffen sind. Diese Einschränkungen lassen die Wirksamkeit solcher Verbote bezweifeln. Nun werden die Nazis eben nicht mehr nach Wunsiedel fahren, sondern nach Dresden oder zu anderen Gelegenheiten, die sie sich ausdenken. Und wie ich eben gerade in der heutigen SZ ( http://www.sueddeutsche.de/,ra13m1/bayern/465/494798/text/ ) gelesen haben, können die Nazis auch weiterhin in Wunsiedel demonstrieren, nur halt nicht offizielll als Heß-Gedenken.
Es bleibt eben – und dies hätte wirklich mal etwas ausführlicher in den Urteilsgründen behandelt werden können (was da sonst immer alles drin steht …) – eine Sache der Zivilgesellschaft, den Nazis (und natürlich auch anderen Extremisten) entgegenzutreten. Also: Herzlich willkommen nach Dresden am 13.2.2010. Verfassungsrichter, Bundesinnenminister und andere engagierte Bürger dürfen sich gerne ebenfalls den Nazis in den Weg stellen, denn das geplante sächsische Versammlungsgesetz wird die Nazis nicht vom Marschieren abhalten.
Ich glaube, dass die Entscheidung eher einem Richterwechsel geschuldet ist. Ob sich hieraus Schlussfolgerungen für ein NPD-Verbotsverfahren ableiten lassen, wage ich zu bezweifeln, zumal dort gerade auch der V-Mann-Aspekt von großer Bedeutung war.
Mir gefällt dieser Beschluss auch deshalb nicht, weil ich § 130 Abs. 4 (und auch Abs. 3) StGB für bedenklich nah am Gesinnungsstrafrecht erachte und das Strafrecht 65 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft das falsche Instrumentarium ist, um derartige “Meinungen” zu untersagen. Diese Gesellschaft muss endlich die Kraft aufbringen, sich offen und konfrontativ mit alten und neuen Nazis auseinanderzusetzen, zumal gegen Gesinnungen ohnehin kein Verbot und keine Strafnorm hilft.
@Thomas Stadler:
Ich kann mir in der Tat auch schwer vorstellen, dass Hoffmann-Riem als Berichterstatter einen solchen Beschluss vorbereitet, geschweige denn akzeptiert hätte. Andererseits war der Senat auch schon in der letzten Zeit, als Hoffmann-Riem noch im Amt war, im öffentlichen Diskurs in die Defensive geraten. Man denke nur an die dauernden Scharmützel mit dem OVG Münster, wo H-Rs Kammer reichlich gereizt reagierte.
Aber unabhängig von “richtig” oder “falsch”: wie ich oben andeutete, halte ich im Resultat die neue Formulierung des § 130 StGB, 4 schlichtweg nicht für zielführend. Die Nazis werden trotzdem marschieren.
Dass die Nazis weiterhin 13-Februar-Gedenkmärsche abhalten dürfen, ist schlimm, aber kein Argument dagegen, dass sie immerhin künftig keine Rudolf-Hess-Gedenkmärsche mehr abhalten dürfen, oder?
Und ich glaube, man sollte auch sehen, dass die Entscheidung die Schranken-Schranke des Art. 5 II GG stärkt: Künftig sind keine Gedankenknoten a la BVerwG mehr nötig, von wegen 130 IV StGB ist allgemeines Gesetz, weil nur Schutz der Opfer im Sinn und dergleichen. Allgemeine Gesetze dürfen keine Meinungsdiskriminierung betreiben, Nazis ausgenommen. Das scheint mir, was Klarheit und Praktikabilität betrifft, ein Fortschritt gegenüber dem bisherigen Stand der Erkenntnis zu 5 II GG zu sein.
Und zum Gesinnungsstrafrecht: Man kann in Deutschland für Stalin, Pol Pot und Attila den Hunnenkönig sein. Man kann auch in den USA für die Nazis sein. Das ist mir alles recht. Aber in Deutschland dem Nationalsozialismus eine Wiederauferstehung zu wünschen, das braucht man nicht zu dürfen; das muss das Grundgesetz, das die Verhinderung ebendessen zum Daseinszweck hat, nicht schützen. Das BVerfG diskriminiert die Nazis, das heißt, es macht gerade einen Unterschied zu allen anderen Gesinnungen – und stellt diese dafür um so klarer unter den Schutz eines uneingeschränkten Diskriminierungsverbots. Ich kann nicht sehen, wie dies einem Gesinnungsstrafrecht allgemeiner Art die Tür öffnen soll, tut mir leid. Ich halte das Gegenteil für richtig.
“Zu was sonst sollte das Grundgesetz ein “Gegenmodell” sein?”
Zu allen Formen von Totalitarismus wie Kommunismus, Stalinismus, Maoismus, Klerikalfaschismus usw. – es ist unzulässig den Totalitärismus allein auf den deutschen Nationalsozialismus zu reduzieren, wie das BVerfG es tut.
[…] einem anderen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass es nationalsozialistisches Gedankengut […]
[…] her, dass das Bundesverfassungsgericht den Volksverhetzungsparagraphen 130 IV StGB mit dem Argument gerechtfertigt hatte, dass die Verherrlichung des Nationalsozialismus durch die Meinungsfreiheit nicht geschützt […]
[…] nach dem Wunsiedel-Urteil geglaubt hatte, Nazis sei fürderhin in punkto Meinungsfreiheit kompletto der Stuhl vor die Tür […]
Machen wirs kurz. Fakt ist das BverfG Urteil ist selbst ein Naziurteil da es sich strikt gegen die Meinungsfreiheit eines Menschen wendet. Meinungsfreiheit genießt jeder Mensch und das ist auch im Art. 5 GG gemeint. Es kann nicht jeder mit vermeintlicher Macht daherkommen und Menschenrechte verändern. Die Meinung eines Menschen darf in keinster Weise eingeschränkt werden, wie krass es auch das Gegenüber empfindet, denn sie ist geistiges Gut und kein beurteilenswerter körperlicher Schaden.
Das BVerfG hat richtig erkannt, dass das GG und die Grundrechte nicht in einem Wert-Vakuum gegeben werden. Die Wertentscheidung, zusätzlich zur allgemeinen freiheitlich-demokratischen Ausrichtung auch spezifisch eine Verfassung gegen ein Wiederaufleben von NS zu sein, kann schon im Wortlaut z.B. des Art. 132 II oder 139 ersehen werden.
Insofern bewegt sich das GG im Spannungsfeld einer generellen Wehrhaftigkeit gegen alle Richtungen _und_ einer spezifischen Orientierung gegen den NS.
In dem Beschluss wird ab RdNr. 64 ja weiter darauf eingegangen, warum das BVerfG dort eine spezifische Anti-NS-Orientierung des GG sieht – wenn auch im Gegensatz zu meiner Überlegung keine _allgemeine_ Anti-NS-Orientierung.
In RdNr. 81 macht das BVerfG (m.E. zutreffend) den Punkt, dass der Tb. des § 130 IV StGB nicht allein auf die Billigung von NS-Gedanken”gut”/Ideologie als solcher abzielt, sondern spezifisch auf die Billigung der NS-Verbrechen. Dies wirke sich auf den öffentlichen Frieden besonders nachteilig aus (ebd. letzter Satz und weiter), so dass die Einschränkung gerechtfertigt ist.
Und weil die NS-Verbrechen generell – und insbesondere im Bezug auf Deutschland – einzigartig waren, darf das Gesetz spezifisch auf diese abzielen. Darauf weist der Beschluss mehrmals hin. Z.B. der Aspekt des besonders systematischen und industrialisierten Massenmordes wird von den Verbrechen anderer totalitärer Regime nicht in dieser Art erreicht – um so weniger also von totalitären Regimen auf deutschem Boden oder mit näherem Bezug zu Deutschland. Die DDR-Herrschaft war z.B. zwar verbrecherisch und es wurden auch staatliche/staatlich veranlasste/begünstigte Morde begangen. Aber diese nicht industriell.