26 February 2021

Wölfe und Menschen

Ich stecke gerade wieder bis über beide Ohren in Hilary Mantels monumentaler Thomas-Cromwell-Trilogie, die ersten beiden Bände zum zweiten Mal. Das Werk hat meinen Lobpreis wahrhaftig nicht nötig nach zwei Booker-Preisen, einer BBC-Verfilmung und unzähligen hingerissenen Literaturkritiken, aber dennoch: Wer es nicht eh schon gelesen gelesen hat – unbedingt tun! Es lohnt sich.

Wie jeder historische Roman, so bezieht auch dieses Werk einen Teil seiner Faszination aus der Illusion, eine andere Welt, eine versunkene Epoche gegenwärtig zu machen. Wie bei der Fantasy-Saga “Game of Thrones” (deren Vorbildern man beim Lesen übrigens auf Schritt und Tritt zu begegnen glaubt) ist es eine fremde und exotische und der unseren entgegengesetzte Welt, eine Nicht-Gegenwart, die man zu erleben glaubt beim Lesen. Aber natürlich ist die Trilogie kein Dokument der Tudor-Ära. Es ist ein Buch des 21. Jahrhunderts, gelesen von Menschen des 21. Jahrhunderts, in dessen Sprache es geschrieben ist und die Personen des Buchs miteinander reden. Es ist ein Buch der Gegenwart. Das ist der andere und vielleicht interessantere Teil der Erklärung, warum es so erfolgreich ist: Es bringt ganz bestimmte, ganz gegenwärtige Resonanzräume zum Schwingen.

König Heinrich VIII. von England, Prinz und Souverän, hegt einen Wunsch, nämlich seine Ehefrau los zu werden, weil sein Herz und seine Hoffnung auf einen männlichen Thronfolger und den Fortbestand seiner Dynastie an einer anderen hängen – aber er ist unglücklicherweise in eine supranationale Rechtsordnung eingebunden, und die erlaubt es nicht. Thomas Cromwell, Sohn eines Hufschmieds und allen Höflingen und Adligen an rhetorischem Geschick, strategischer Intelligenz, Treue und Wagemut himmelhoch überlegen, ist es, der den Brexit des 16. Jahrhunderts für ihn ins Werk setzt. Der Papst in Rom und dem Habsburg-Kaiser in Wien/Madrid können in ihre Samtkappen beißen vor Wut, so viel sie wollen: Sie können doch nicht verhindern, dass fortan englisches Geld in England bleibt, statt an den Vatikan abzufließen, und Oberhaupt der Kirche in England nicht mehr irgendein Ausländer ist, sondern er selbst, Henricus Rex, König im Parlament.

Heinrich und sein Kanzler sind nicht die Einzigen, die dieser supranationalen Ordnung einen Tritt versetzen möchten. Auf dem Kontinent werden längst Bibeln gedruckt in allen möglichen Sprachen, auch der englischen, auf dass die Leute selber das Evangelium lesen können, anstatt sich auf das Wort der Pfaffen verlassen zu müssen, und erkennen, dass dort mit keinem Wort geschrieben steht, dass man etwa ins Fegefeuer kommt für seine Sünden: Das erzählen die Priester nur, stimmt aber gar nicht. Der Medici-Papst in Rom ist längst selber ein Renaissance-Fürst, genau wie “mein Bruder Frankreich”, wie Heinrich den Kollegen Franz drüben in Paris zu nennen beliebt, lauter mächtige Männer und ebenbürtige Konkurrenten, die sich nichts schenken und nichts schulden, und natürlich wird gelogen: Nicht wer lügt, hat ein Problem, sondern wer glaubt.

In der Post-Brexit-EU haben im Dezember die Regierungschefs im Rat beschlossen, dass das ja so nicht geht, dass die supranationale Rechtsordnung einfach ihren Brüdern Polen und Ungarn finanziell den Hahn zu dreht, nur weil die es mit der Herrschaft des Rechts nicht immer so genau nehmen, und in ihren Beschluss contra legem hineingeschrieben, was statt dessen gelten solle. Dagegen hätte das Parlament klagen können vor dem Europäischen Gerichtshof. Hat es aber nicht. Wie ALBERTO ALEMANNO in einer sehr lesenswerten Analyse einigermaßen fassungslos beschreibt, war es der Juristische Dienst des Parlaments, der allerhand Gründe dafür aufgeschrieben hatte, warum das nichts bringt und nicht geht. Der Resonanzraum, er schwingt nicht nur auf der britischen Insel.

Cromwell ist ein Jurist. Es sind lauter Juristen, die Heinrich aus seinen kirchenrechtlichen Banden lösen.

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Fellowships at the Forum Transregionale Studien Berlin and the Kulturwissenschaftliches Institut Essen

Academy in Exile is happy to announce its 2021 call for applications. A renewal grant from the Volkswagen Foundation will allow us to offer eight 24-month fellowships at the Forum Transregionale Studien Berlin and the Kulturwissenschaftliches Institut Essen. The deadline for applications is March 15, 2021.

The call has been announced on twitter and on our homepage. Please feel free to distribute the call widely in your circles.

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Heute hat der Supreme Court des Vereinigten Königreichs sein Urteil im Fall Shamima Begum gesprochen: Das ist eine junge Britin, die 2015 als 15-Jährige nach Syrien gegangen war, um sich dem IS anzuschließen, dort drei mittlerweile gestorbene Kinder zur Welt gebracht hat, und jetzt in einem Lager in Syrien sitzt. Nach britischem Recht hat Cromwells aktuelle Nachfolger_in im Amt des Secretary of State die Befugnis, britischen Staatsbürger_innen diesen Status zu entziehen, wenn sie glauben, dass dies “dem öffentlichen Gut zuträglich” ist, solange sie sie damit nicht staatenlos machen. Shamima Begum hat Eltern, die aus Bangladesh stammen, und daher nach Ansicht der britischen Regierung Anspruch auf die Staatsangehörigkeit von Bangladesh. Kann sich die Frau gerichtlich zur Wehr setzen gegen diese Entscheidung? Theoretisch ja, aber praktisch nicht in ihrem syrischen Lager. Daher hatte sie beantragt, zumindest für ihr Gerichtsverfahren nach UK einreisen zu dürfen. Nein, sagte die Regierung. Warum nicht? Das müsse aus “Gründen der nationalen Sicherheit und des öffentlichen Interesses” geheim bleiben.

Da sitzt sie also, ihrer Staatsangehörigkeit beraubt und ohne Zugang zum Recht. Was sagt der Supreme Court? Tja, sagt er einstimmig, das ist halt jetzt so. Ob es “dem öffentlichen Gut zuträglich” ist, wenn Shamima Begum keine Britin mehr ist, liege im Ermessen der Innenminister_in, und kein Gericht dürfe sein Ermessen an dessen Stelle setzen. Natürlich müsse man klagen können gegen eine solche Entscheidung, aber wenn man das halt faktisch nicht kann, dann könne da doch die Minister_in nichts dafür. Dass die Klägerin im Moment keinen Zugang zu einem fairen und effektiven Verfahren habe, heiße nicht, dass man sie einreisen lassen müsse, um ihr einen zu geben. Vielleicht ändert sich ihre Situation ja irgendwann. Soll sie halt dann ihr Verfahren  weiterführen. Und dass die Praxis der Innenminister_innen, von ihrer Befugnis, die Staatsangehörigkeit zu entziehen, keinen Gebrauch zu machen, wenn die betroffene Person sich außerhalb des Geltungsbereichs der EMRK aufhält und in Gefahr sind, getötet oder gefoltert zu werden, sei eben dies: eine Praxis. Kein Recht. Das wird so gemacht, solange die Minister_in ihrer Majestät keine vernünftigen Gründe sieht, es anders zu machen.

Thomas Cromwell hätte das nicht schöner sagen können.

Jetzt aber schnell, ich will weiter lesen. Ich will unbedingt wissen, wie es ausgeht.

Wobei: eigentlich weiß ich das schon.

Zuvor aber noch:

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Im Frühjahr 2020 haben wir gemeinsam mit Joelle Grogan ein Online-Symposium gestartet, das diesen Namen eigentlich nur noch der Form halber trug: Länderberichte aus aller Welt haben wir veröffentlicht, um Wissen zusammenzutragen, wie verschiedene Länder mit dem Notfall Pandemie umgehen. Jetzt, ein Jahr später, wollen wir wieder nachsehen: Wie hat sich die Lage entwickelt? Wie finden die Länder aus dem Notstand wieder heraus? Power and the Covid-19 Pandemic ist das Online-Symposium betitelt, unterstützt wird es von Democracy Reporting International und dem Horizon2020-finanzierten RECONNECT-Forschungsprojekt, und mehr als 60 Berichte wird es am Ende umfassen. Gestartet haben wir in dieser Woche mit Berichten aus Australien, Brasilien, Finnland, Griechenland, Indien, Mexiko, Singapur, Spanien, Schweden und Thailand sowie einer live gestreamten Diskussionsveranstaltung mit MARTIN SCHEININ, THULASI K. RAJ, JAKUB JARACZEWICZ, TOMAS BUSTAMANTE und moderiert von JOELLE GROGAN.

Ebenfalls diese Woche live auf dem Verfassungsblog: ADAM BODNAR, ARMIN VON BOGDANDY, PIOTR BOGDANOWICZ, ANDRÁS JAKAB, JUSTYNA ŁACNY, JOSEPH WEILER und andere diskutieren auf Initiative des Heidelberger Max-Planck-Instituts über das neu erschienene und als Open Access frei zugängliche Buch “Defending Checks and Balances in EU Member States. Taking Stock of Europe’s Actions”.

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Stelle als Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d)

Am Institut für Grundlagen des Rechts der Universität Göttingen, Abteilung Vergleichendes Staatsrecht und politische Wissenschaften (Prof. Dr. Florian Meinel) ist demnächst eine Stelle als Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d) zu besetzen. Die Stelle bietet neben der Mitarbeit am Institut Gelegenheit, eigene Forschungsinteressen im Bereich der vergleichenden, historischen und theoretischen Grundlagen des öffentlichen Rechts zu verfolgen und insbesondere ein Promotionsvorhaben zu entwickeln und voranzutreiben.

Die Bewerbungsfrist läuft bis zum 1. April 2021. Weitere Informationen finden sich hier (https://www.uni-goettingen.de/de/305402.html?cid=15431).

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Am 2. Februar 2021 hat das tschechische Verfassungsgericht mehrere entscheidende Bestimmungen des Wahlgesetzes aufgehoben. MAREK ANTOS und FILIP HORÁK finden diese Entscheidung überraschend, da alle vorherigen Anträge auf Aufhebung des Wahlgesetzes vom Gericht entweder aus verfahrenstechnischen Gründen oder wegen offensichtlicher Unbegründetheit abgelehnt wurden.

SABRINA RAGONE berichtet über eine Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts über die Frage der Wahl des Nachnamens für Neugeborene befasst. In Ermangelung gesetzlicher Reformen versucht das Gericht, den italienischen Rechtsrahmen, der immer noch an traditionellen Namensgebungspraktiken festhält, an verfassungsrechtliche und internationale Standards der Gleichberechtigung anzupassen.

In Frankreich will die Hochschulministerin untersuchen lassen, wie sehr die Universitäten des Landes von etwas verseucht sind, was sie und mancher rechte Kulturkämpfer “Islamo-Gauchisme” nennt, also so etwas wie Links-Islamismus. Gemeint sind offenbar Gender- und Postkolonialismus-Studien, und THOMAS PERROUD berichtet, was dahinter steckt.

Italien hat eine neue Regierung: Wieder einmal sollen parteipolitisch nicht festgelegte Expert_innen das Land anführen. CARLO FUSARO rekonstruiert, wie es dazu kam und warum die Hoffnung, die Regierung Draghi werde Italien grundlegend reformieren, wahrscheinlich trügt.

In Spanien macht die Unabhängigkeit der Justiz der EU-Kommission Sorgen. Der Justizrat ist zwischen die politischen Fronten geraten. AGUSTÍN RUIZ ROBLEDO analysiert, wie es dazu kam und schlägt ein Losverfahren vor, um die Blockade aufzulösen.

Die indische Regierung ordnet an, Twitter solle Hunderte Konten sperren, die sich regierungskritisch zu den ‚Farmers Protests‘ äußern. Nach kurzem Widerstand muss Twitter klein bei geben. SANGEETA MAHAPATRA, MARTIN FERTMANN und MATTHIAS C. KETTEMANN erörtern potentielle Lösungen, um soziale Medien gegenüber autoritären Forderungen zu stärken.

Es ist keine 10 Tage her, seit Facebook in Australien den Zugang zu Nachrichten gesperrt hat, weil die Australische Regierung Facebook per Gesetz dazu verpflichten wollte, gewisse Verleger für gehostete Inhalte zu vergüten. GIOVANNI DE GREGORIO, ORESTE POLLICINO und ELENA PEROTTI erklären, wie Facebooks Entscheidung die Australische Regierung zurück an den Verhandlungstisch gezwungen hat.

Der Berliner Gesetzesentwurf zur Einführung einer „Migrantenquote“ war sowohl rechtlich als auch politisch kontrovers. Nun ist er zwar erst einmal vom Tisch, wird aber sicherlich nicht der letzte Vorstoß in diese Richtung gewesen sein. IBRAHIM KANALAN argumentiert, solche Fördermaßnahmen seien nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch internationalrechtlich verpflichtend.

Letzte Woche hatte das Bezirksamt Mitte von Berlin für Aufregung gesorgt, als es den Livestream einer Pressekonferenz durch die Tagesschau untersagte – und das Datenschutzrecht als Begründung für die Ablehnung herhalten musste. AQILAH SANDHU räumt in ihrem Beitrag über falsch verstandenen Datenschutz und torpedierte Pressefreiheit mit einigen Irrtümern auf.

Das Bundesverfassungsgericht hat die elektronische Fußfessel für verfassungsgemäß erklärt – jedenfalls derzeit. Ob sie nämlich wirklich kriminalpräventiv wirkt, ist mangels empirischer Daten völlig unklar. KATHARINA MEUER erläutert den Beschluss und was der Gesetzgeber jetzt tun muss.

Über den Föderalismus in Deutschland wird in der Corona-Pandemie viel gejammert, dabei bleibt der Bundesstaat nach Ansicht von HARTMUT KÜHNE noch unter seinen Möglichkeiten.

Letzte Woche hat die EU-Kommission ihre neue Handelsstrategie vorgestellt,  mit der sie auch die Durchsetzung von Arbeitnehmer- und  Umweltschutzstandards stärken möchte. FRANZ CHRISTIAN EBERT stellt die bestehenden Defizite dar und erläutert, was die Kommission tun könnte, auch ohne die Regeln in ihren Freihandelsabkommen ändern zu müssen.

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Heidelberger Salon digital: “Vaccine Nationalism” and Distributive Justice: The Role of Global Health Law

Wednesday, 03.03.2021 | 16:00-17:30 (CET) | Via Zoom & Livestream

A conversation with Alexandra Phelan, Maike Voss, Mark Eccleston-Turner, Pedro Villarreal, and Leticia Casado. Hosted by Alexandra Kemmerer. The event will be livestreamed via Völkerrechtsblog and Verfassungsblog.

For active participation, please register until 01 March 2021 at berlin@mpil.de

Panelists:

  • Dr Alexandra Phelan, Assistant Professor, Center for Global Health Science and Security & Georgetown University Law Center, Georgetown University
  • Maike Voss, Associate, Research Division Global Issues, German Institute for International and Security Affairs (SWP), Berlin
  • Dr Mark Eccleston-Turner, Lecturer in Law, Keele University
  • Dr Pedro Villarreal, Senior Research Fellow, Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law, Heidelberg
  • Leticia Casado, journalist (stringer for New York Times at al), Brasilia

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Geflüchtete bekommen in Deutschland nur subsidiären Schutz, wenn in dem Land, aus dem sie geflohen sind, die abstrakte Gefahr über einer bestimmten statistischen Schwelle liegt. Damit ist der Generalanwalt beim EuGH nicht einverstanden, und das könnte, wenn der Gerichtshof ihm folgt, für das deutsche Asylrecht große Folgen haben, meint LUKAS MITSCH.

Der Entwurf für ein Lieferkettengesetz, auf den sich die Regierungskoalition verständigt hat, ist auf viel Kritik gestoßen. DAVID KREBS hätte sich auch mehr gewünscht, würdigt aber, dass wenigstens überhaupt ein Kompromiss gefunden worden ist.

Womit ich wieder durch wäre für diese Woche. Haben Sie Ihren Kaffee schon aus unserer Verfassungsblog-Tasse genossen? Ob ja oder nein: Hold on to the Constitution!

Vielen Dank und bis nächste Woche,

Ihr

Max Steinbeis


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